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# taz.de -- Nachruf auf Antje Vollmer: Streitbare Pazifistin
> Sie setzte das Feminat in der Grünenfraktion durch und war die erste
> Grüne im Bundestagspräsidium. Jetzt ist Antje Vollmer mit 79 Jahren
> gestorben.
Bild: Antje Vollmer am 12.03.1994 in Langgöns bei Gießen
Berlin taz | Nie war sie ihrer Partei ferner als in jüngster Zeit, vor
allem seit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine. In einem
Text, [1][den die Berliner Zeitung kürzlich veröffentlichte] und den sie,
im Angesicht ihres nahenden Todes formuliert, als „Vermächtnis“ verstanden
wissen wollte, schreibt Vollmer zum Kriegsbeginn am 24. Februar 2022
bitter: „Wir befanden uns also wieder im Kalten Krieg in einer Spirale der
gegenseitigen existenziellen Bedrohung – ohne Ausweg, ohne Perspektive.
Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in
diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.“
Keine Frage, für Vollmer war der verbrecherische Krieg Putins in der
Ukraine eine Katastrophe, politisch, vor allem persönlich: Gerade sie
hatte sich immer für Verständigung, für Aussöhnung, für die Wahl
friedlicher Mittel zur Konfliktlösung eingesetzt. Und hierin wusste sie
sich einig mit ihrer Partei, zu deren Einflussgrößten sie über die meisten
Jahre des grünen Anfangs zählte. Dass sich die Grünen für Waffenlieferungen
an die wehrhaften Menschen in der Ukraine einsetzen, war dabei ein Weg, dem
sie nicht mehr folgen konnte.
Antje Vollmer, 1943 in Lübbecke, Westfalen, geboren, christlich geprägt,
mit einem starken Hauch von moralischer Strenge, studierte Theologie, war
Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie arbeitete in
verschiedenen evangelischen Einrichtungen und war nicht nur nebenher in der
„Liga gegen den Imperialismus“ aktiv, einem Verein im Umfeld der
maoistischen KPD/AO, der wohl bürgerlichsten K-Gruppe im Spektrum der
linksradikalen Szenen.
Zu Beginn der achtziger Jahre näherte sich Vollmer, wie viele einstige
Genoss*innen, den frisch zur politischen Welt gekommenen Grünen an, 1983
zog sie gar, zunächst als Parteilose, erstmals für sie in den Bundestag
ein. In der Grünenfraktion war sie es wesentlich, die 1984 das erste
Feminat durchsetzte: Alle Leitungsposten wurden ausschließlich von Frauen
besetzt. Sie, die schon damals sendungsbewusste Jungpolitikerin,
mittendrin.
## Für eine Welt der Abrüstung
Antje Vollmer verstand sich immer als Kritikerin der bis dahin
existierenden „Systeme“. Im Privaten mochte ihr intensiver Zug ins
Antikommerzielle, in heftigem Widerwillen gegen jedes Unterhaltsame
auffällig sein, auch ihr kühler Blick auf die angeblichen Errungenschaften
des realen Sozialismus sowjetischer Prägung darf nicht unerwähnt bleiben.
Sie wollte eine Welt der Abrüstung, des Verzichts auf Feindstiftungen. Sie
stand für den unbedingten Willen zum Gespräch, zur Vermittlung, zur
Berücksichtigung, wenn man so will, für die Nutzung aller
Versöhnungschancen. Lieber eine weitere Wange dem Schläger hinhalten,
darauf vertrauend, dass allzu heftige Gegenwehr nur noch wehrloser mache –
und dass es Friedensoptionen gibt.
Sie hat früh das politische Gespräch auch mit Leuten aus der Union gesucht,
denn es seien Parlamentskolleg:innen, keine Feinde, so Vollmer. Rot-Grün
war ihr allenfalls eine Option, habituell standen ihr Liberale und
Liberalkonservative durchaus näher – Menschen, die die Blicke des
Gegenübers mit einbrachten. Vollmer wurde, auch im Unionslager anerkannt,
1994 zur ersten grünen Bundestagsvizepräsidentin.
## Kurzzeit-taz-Redakteurin
Als die bundesdeutschen Grünen 1990 bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen
aus dem Bundestag flogen, fand Antje Vollmer einige Monate berufstätiges
Exil in der taz – als Inlandsredakteurin. Im taz-Archiv sind eine Fülle
ihrer Texte gerade aus jener Zeit zu finden. Erkennbar wird bei der
nochmaligen Lektüre: Vollmers politische Interventionen sind kaum zu
zählen.
Gegen die Schwarze Pädagogik der Heimerziehung in der Bundesrepublik bis in
die siebziger Jahre – und für ihre Aufarbeitung in einer Sonderkommission;
für den Kampf gegen die Diabolisierung des politischen Terrorismus – und
für einen Dialog mit den inhaftierten Mitgliedern der RAF zur Beendigung
terroristischer Gewalt.
Ihre Helden: Václav Havel, der tschechoslowakische Bürgerrechtler und
spätere Präsident der Tschechischen Republik, vor allem aber Michail
Gorbatschow, der Kommunist, der seine Sowjetunion, ökonomisch und moralisch
in jeder Hinsicht vor dem Bankrott, mit zur Implosion brachte.
## Diasporische Figur im grünen Umfeld
Generell lautete ihr Credo: Man müsse die Gründe für alles menschliche Tun
verstehen – und das schaffe man nicht, wenn man nur in den
Freund-Feind-Modus schalte. Ihre womöglich größte Ehre war der 2003 durch
Vaclav Havel verliehene Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden der Tschechischen
Republik für ihre Verdienste um die Aussöhnung mit diesem Nachbarland. Das
letzte Interview mit ihr in der taz erschien 2015: Es war ein
[2][flammender Appell für einen besseren deutschen Umgang mit
Griechenland].
Sie war eine strikte Pazifistin, wandte sich gegen den Nato-Krieg gegen das
restjugoslawische Milošević-Regime wie auch gegen den Afghanistankrieg.
Zuletzt gehörte sie zu den Erstunterzeichner*innen von Sahra
Wagenknechts und Alice Schwarzers „Manifest für Frieden“. Mit anderen
Worten: Sie war in ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten mehr und mehr zu
einer diasporischen Figur in ihrem grünen Umfeld geworden.
Ihre Partei hat ihr sehr viel zu verdanken – und sei es Vollmers Leistung,
den einstigen Schmuddelkindern der Politik zu einer gewissen
Respektabilität in der politischen Arena verholfen zu haben. Sie verdient
einen sehr prominenten Platz in der Hall of Fame der grünen Bewegung. Am
Mittwoch ist sie im Alter von 79 Jahren gestorben.
16 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg…
[2] /Vollmer-ueber-Umgang-mit-der-Krise/!5016019
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Grüne
Nachruf
Bündnis 90/Die Grünen
Bundestag
GNS
Anti-Atom-Bewegung
Schwerpunkt Finanzkrise
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