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# taz.de -- Kolumne German Angst: Wie kamen die Toten ins KZ?
> Bisweilen erzählen Nazis, sie hätten von nichts gewusst. Die Worte, in
> denen sie sich nicht erinnern wollen, können einem den Schlaf rauben.
Bild: Wie kamen die Häftlinge nur hinter den Stacheldraht? Bild aus der Gedenk…
Vor dem Einschlafen soll man ja nicht Fernsehen schauen. Trotzdem tat ich
das letzte Woche, ich sah ein Interview mit der ehemaligen KZ-Aufseherin
Hilde M. Und das stahl mir den Schlaf. In Bergen-Belsen habe sie nur in der
Küche gearbeitet, gab sie zu Protokoll. Warum die Staatsanwaltschaft nun
wegen Mordes, konkret der Beteiligung an einem Todesmarsch mit 1.400 Toten,
gegen sie ermittelt, dürfte der Rentnerin also unerklärlich sein.
Der NDR hatte das Interview im Archiv der Gedenkstätte Bergen-Belsen
entdeckt. Aufgenommen wurde es vor zehn Jahren. Und was M. da sagt, ist
unglaublich. „Ja ach, das habe ich vergessen“, erinnert sich die alte Frau
auf Nachfrage an eine Nebensache. „Und eines schönen Tages: Leichen tragen.
Und da hat man erst gesehen, wie viele Leichen da waren.“
– In ihrer Fantasie werden aus den Gequälten und Ermordeten: nie lebendig
Gewesene. Welche, die schon tot ins Lager kamen. „Der Kramer, unser
Kommandant, der hätte sie nicht aufnehmen dürfen. Warum bringt er die
Toten, lässt sie in sein Lager rein?“
## Immer die selbe Leier
Und obwohl man diese absurd schiefen Geschichten zur Genüge kennt, die
Lügen, die renitente Behauptung der Nazis, sie hätten ja nichts gewusst,
mit der die Verantwortung schön nach oben abgegeben wurde, bis sie allein
bei Hitler liegen blieb – „Er hat ja gewusst, was da alles läuft. Wir
wussten das ja nicht“, sagt auch M. – und so weiter.
Jedenfalls: Es ist immer noch zum Kotzen. Beschämend, krank. Und zum
Heulen. Wie kann ein erwachsener Mensch die Geschichte des Holocaust so
erzählen, als hätten sich sechs Millionen tote Juden hinter den
Stacheldraht gelegt?
Am Ende jedenfalls ist die SS-Frau in diese missliche Lage hineingeraten –
und darum nicht nur auf Hitler böse, der sie reingelegt hatte, sondern auch
auf die noch nicht verhungerten Häftlinge. Die haben nämlich in der Küche
geklaut, in der sie fleißig Dienst nach Vorschrift abgeleistet hatte.
1945 hatte sich M. vor einem britischen Militärgericht verantworten müssen.
Dort war ihr vorgeworfen worden, eine Frau „mit den Stiefeln“ totgetreten
zu haben. Aber darüber kann die alte Dame heute nur lachen. „Ich habe doch
nichts gemacht“, ist ihr Kommentar dazu im aktuellen Interview. Sie kam mit
einem Jahr Haft davon.
## Die Wahrheit war ohnehin egal
Und warum sollte M. die Anschuldigungen auch ernst nehmen? Sie blieben
ohnhin folgenlos. 1969 hatte der Bundesgerichtshof festgesetzt, dass für
die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld erwiesen
sein müsse. Wer also die Lager bewachte oder aber in der Küche entschied,
wer essen durfte und wer nicht, der konnte sich auf einen ruhigen
Lebensabend freuen.
Erst 2011 änderte sich das. 70 Jahre nach der Wannseekonferenz, 50 nach dem
ersten Auschwitzprozess. Zweitausendelf. Da gab es kaum mehr Nazis. Und so
hat die Justiz den Massenmord aus dem bundesdeutschen Gedächtnis
gestrichen, noch bevor es die ehemalige SS-Frau getan hatte. Denn wo es
keine Täter gibt, sind auch keine Opfer.
Im April jährt sich übrigens die Befreiung Bergen-Belsens zum 70. Mal.
Sonst ist seither nicht viel passiert.
24 Mar 2015
## AUTOREN
Sonja Vogel
## TAGS
Täter
Holocaust
Prozess
Bergen-Belsen
German Angst
Später
Homosexualität
Antisemitismus
Adolf Hitler
Synagoge
Schuld
Schwerpunkt Pegida
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