| # taz.de -- Thorsten Schäfer-Gümbel über die SPD: „Hartz löst Abstiegsän… | |
| > SPD-Bundesvize Thorsten Schäfer-Gümbel verabschiedet ein paar Lebenslügen | |
| > seiner Partei. Und hat Ideen für die Zukunft der Sozialdemokratie. | |
| Bild: Thorsten Schäfer-Gümbel: „Die SPD darf ihren Fokus nicht nur auf die … | |
| taz: Herr Schäfer-Gümbel, hat die SPD 2017 eine Chance auf die | |
| Kanzlerschaft? | |
| Thorsten Schäfer-Gümbel: Klar. Aktuelle Umfragen sind keine Prognosen. Kein | |
| Mensch weiß, was 2017 ist. | |
| Ich frage nur, weil Sigmar Gabriel ja angeblich schon aufgegeben hat. | |
| Quatsch. Die SPD gibt keine Wahl verloren. Wir sind nicht glücklich über | |
| die 25 Prozent in Umfragen. Aber die werden sich noch ändern. Wir setzen | |
| verlässlich um, was wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben. Damit | |
| schaffen wir Vertrauen. | |
| Ihre Partei wirkt, als suche sie krampfhaft nach neuen Themen. | |
| Nein. Richtig ist, dass wir uns Gedanken über die Zukunft der Gesellschaft | |
| machen. Die SPD wird Themen der arbeitenden Mitte stärker nach vorne | |
| stellen. | |
| Die arbeitende Mitte, was ist das eigentlich? | |
| Gemeint ist die berufstätige Sandwichgeneration, die Familie und Beruf | |
| unter einen Hut bringen muss. Menschen, die jeden Tag aufstehen, hart | |
| arbeiten, aber keine Reichtümer nach Hause bringen, egal ob Arbeiter, | |
| Angestellte oder Freiberufler und Selbstständige, die Familie haben und | |
| immer öfter ihre Eltern pflegen. | |
| Du liebe Güte. Um all diese Leute hat sich die SPD bisher nicht gekümmert? | |
| Klar haben wir das. Aber die Wahrnehmung unserer Arbeits- und | |
| Wirtschaftspolitik hat sich zu sehr auf bestimmte Themen verengt, zum | |
| Beispiel den Mindestlohn. Den finden viele Angestellte richtig, aber er | |
| betrifft sie persönlich nicht, weil sie zum Glück mehr verdienen. | |
| Was interessiert solche Leute wirklich? | |
| Im Grunde drei große Fragen: Bekomme ich mit meinem Einkommen ein gutes | |
| Leben hin? Wie ergeht es meinen Kindern in einer sich schnell verändernden | |
| Welt? Und wie steht es im Alter mit meiner Absicherung, mit Gesundheit und | |
| Pflege? Wir brauchen eine fortschrittliche Politik, die soziale Sicherheit | |
| und wirtschaftliche Stärke verbindet und nicht nach 5-Jahres-Plan klingt. | |
| Haben die Hartz-Reformen der SPD eher genutzt oder geschadet? | |
| Die SPD steht für den Anspruch, sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit zu | |
| organisieren. Dieser Anspruch ist durch die Hartz-Reformen zum Teil | |
| beschädigt worden. Und zwar durch einen Umstand, der häufig übersehen wird, | |
| den ich aber für den Kern halte. Mit dem Arbeitslosengeld II wurden | |
| Menschen, die zwanzig, dreißig Jahre lang gearbeitet haben, mit Menschen | |
| gleichgestellt, die noch nie gearbeitet haben. | |
| Wer arbeitslos wird, bekommt nach einem Jahr nur noch Hartz IV. Egal, wie | |
| lange er davor berufstätig war. | |
| Diese Gleichbehandlung hat für viele eine Entwertung ihrer Lebens- und | |
| Arbeitsleistung dargestellt. Ich bin davon überzeugt: Das wirkt noch nach. | |
| Diesen Glaubwürdigkeitsverlust bei der sozialen Sicherheit zu reparieren | |
| braucht Zeit. Auch wenn der Mindestlohn ein riesiger Schritt dazu ist. | |
| In der Mittelschicht nehmen Absturzängste zu. Sind die Sozialreformen der | |
| Schröder-SPD mit verantwortlich? | |
| Erst mal waren wesentliche Teile der Reform richtig, andere nicht. Aber es | |
| lässt sich nicht leugnen: Die Reformen haben auch Abstiegsängste ausgelöst, | |
| und Teile der Mittelschicht haben sie als eine Bedrohung ihres sozialen | |
| Status wahrgenommen. Dafür haben sie mit einigem Recht die SPD | |
| verantwortlich gemacht. | |
| Diese Effekte waren damals von manchen Spitzengenossen ausdrücklich gewollt | |
| … | |
| … und wir haben aus den Fehlern gelernt. Der Mindestlohn war ja nur die | |
| letzte einer Reihe von Maßnahmen, die viel korrigiert haben. Vertrauen | |
| gewinnt man aber nur auf der langen Linie zurück, deshalb erwarte ich keine | |
| kurzfristige Veränderung bei den Umfragen. | |
| Was muss die SPD in der Arbeitsmarktpolitik angehen? | |
| Wir müssen den Menschen Sicherheit geben, damit sie sich unbeschwerter auch | |
| auf Veränderung einlassen können. Angst ist ein schlechter Ratgeber. | |
| Ein Beispiel, bitte. | |
| Der dänische Arbeitsmarkt kann wertvolle Hinweise liefern. Er ist extrem | |
| dynamisch. Bis zu einem Drittel der Beschäftigten wechselt pro Jahr den | |
| Job, eine extrem hohe Quote. Warum? Der Staat garantiert ein hohes | |
| Sicherungsniveau bei Arbeitslosigkeit und tolle Weiterbildungsangebote. Das | |
| heißt, soziale Sicherheit fördert wirtschaftliche Dynamik. Das ist auch mit | |
| Druck verbunden, Weiterbildung und Qualifizierung anzunehmen. Oder diese | |
| leidigen Befristungen … | |
| … viele junge Arbeitnehmer kennen unbefristete Vollzeitjobs nicht mehr. Sie | |
| hangeln sich von Vertrag zu Vertrag. | |
| Auch hier geht es wieder um Sicherheit. Wie sollen sich junge Leute für | |
| Familie entscheiden, wenn sie nicht wissen, wo sie im nächsten Jahr | |
| arbeiten? Sachgrundlose Befristungen müssen einfach aus dem Arbeitsrecht | |
| verschwinden. Fertig. Soziale Sicherheit ist das entscheidende Leitmotiv | |
| für die SPD. | |
| Warum regiert die SPD dann bei der Rente, einem anderen Großthema, an der | |
| arbeitenden Mitte vorbei? | |
| Inwiefern? Die Rente nach 45 Versicherungsjahren schließt eine wichtige | |
| Gerechtigkeitslücke. | |
| Der Staat gibt bei der Rente mit 63 viele Milliarden für eine kleine Gruppe | |
| aus, die in ihrem Leben sehr gut verdient hat. In Wirklichkeit ist die | |
| kommende Altersarmut das Megathema bei der Rente. | |
| Da haben Sie recht, die Sicherheit im Alter bleibt eine Baustelle. Die | |
| Vorstellung, dass man eine Reform macht und dann ist alles gut, ist naiv. | |
| Die Grundlage gegen Altersarmut ist aber vor allem gut bezahlte und sichere | |
| Arbeit. | |
| Ganze Kohorten der heute 40-Jährigen könnten in die Grundsicherung fallen, | |
| weil sie nicht genug verdienen. | |
| Die Lohnhöhe ist ein Problem, aber nicht das entscheidende. Wichtiger ist, | |
| dass wir in unterbrochene Arbeitsbiografien mehr Stetigkeit bringen. Firmen | |
| befristen Arbeitsverhältnisse ohne Not oder lagern durch Werkverträge | |
| Risiken an die Beschäftigten aus. Gegen diesen Missbrauch werden wir | |
| vorgehen. Und ja, wir hätten bei der Rente mit 63 lauter sagen müssen: | |
| Leute, das ist nur ein Schritt. Es gibt noch mehr Baustellen. | |
| Eine strategische Frage: In die Mitte wollen alle. Die Union sowieso, die | |
| Grünen auch, und jetzt die SPD. Wird es da nicht schrecklich eng? | |
| Bei den anderen geht es ja um Werbekampagnen, bei uns um durch reale | |
| Vorschläge hinterlegte Politik. | |
| Klar. Und sonst? | |
| Wo ist denn die Rentendebatte bei den Grünen? Die CDU diskutiert nicht über | |
| Vereinbarkeit von Job und Familie. Die ist da weiterhin im letzten | |
| Jahrhundert verortet. Die SPD darf ihren Fokus nicht nur auf die | |
| bürgerliche Mitte verengen. Wir müssen die Klammer vom sozial aufgeklärten | |
| Bürgertum bin hin zu denen sein, die sich abgehängt fühlen. | |
| Ist diese Klammer nicht ein Widerspruch in sich? | |
| Nein. Auch Menschen mit niedrigen oder ohne Einkommen arbeiten hart und | |
| wollen für ihre Kinder nur das Beste. Die Grundthemen sind dieselben, nur | |
| in einer andern sozialen Lage. | |
| Ein Beispiel: Die Unterschicht würde von höheren Steuern für Gutverdiener | |
| profitieren, weil der Staat Geld für bessere Schulen hätte. Die Ober- und | |
| Mittelschicht wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, mehr Steuern zu | |
| zahlen. | |
| Diese Analyse teile ich nicht. | |
| Ich fand die Ansage an SPD und Grüne in der Bundestagswahl recht deutlich. | |
| Das Wahlergebnis hatte andere Ursachen. Aufgeklärte Bürger in der Ober- | |
| oder Mittelschicht erkennen durchaus, dass soziale Stabilität ein | |
| wesentlicher Grund für Wohlstand und Sicherheit ist. Die neoliberale These, | |
| mehr Ungleichheit produziere mehr Wohlstand für alle, ist widerlegt. | |
| Vielmehr gilt: Zunehmende Ungleichheit verhindert nachhaltiges Wachstum. | |
| Ist der wichtigste Auftrag der SPD, der Gesellschaft das zu erklären? | |
| Von mehr sozialer Sicherheit und Chancengleichheit haben alle etwas. Das | |
| ist der wesentliche Unterschied zwischen uns und den Marktradikalen. Wir | |
| brauchen den Mut, diese grundsätzliche Differenz zu den Konservativen | |
| durchzudeklinieren. | |
| Wird Sigmar Gabriel 2017 der Kanzlerkandidat der SPD? | |
| Das entscheiden wir dann, wenn es ansteht. Dass der Parteivorsitzende den | |
| ersten Zugriff hat, ist jahrzehntelange Praxis in der SPD. | |
| Wie wichtig ist Persönlichkeit in der Politik? | |
| Sehr wichtig. Schon immer. | |
| Entscheidet heutzutage der Mensch, der vorne steht, mehr über den Wahlsieg | |
| als die Spiegelstriche im Programm? | |
| Es ist immer die Kombination aus beiden: Entscheidend sind Glaubwürdigkeit | |
| und Vertrauen. Politiker müssen einhalten, was sie ankündigen. | |
| Gabriel neigt zu Ungeduld, manchmal auch zu schlechter Laune. Besitzt er | |
| die habituellen Qualitäten, die die Deutschen schätzen? | |
| Sigmar Gabriel hat vielfach bewiesen, dass er Führung und Entscheidung | |
| kann. Es ist Frau Merkel, die zum Beispiel noch vor Wochen erklärt hat, | |
| dass wir den Soli über 2019 hinaus brauchen und nun plötzlich das Gegenteil | |
| sagt. | |
| Aber wenn man sich Merkels Beliebtheitswerte anschaut: Coolness, Ruhe und | |
| Bescheidenheit kommen gut an. | |
| Jeder ist, wie er ist. Aber Technokraten haben wir in der Politik doch viel | |
| zu viele. Wenn Sie wissen wollen, ob Sigmar Gabriel die Fähigkeiten fürs | |
| Kanzleramt hätte, lautet meine Antwort: ja. | |
| 1 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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