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# taz.de -- Prozess um Organ-Skandal: „Er spielte Gott“
> Ein Präzedenzfall für die Transplantationsmedizin: Im Prozess um
> Manipulationen bei Leberverpflanzungen fällt am Mittwoch das Urteil.
Bild: Staatsanwaltschaft und Nebenklage im Gespräch im Landgericht Göttingen.
GÖTTINGEN/BERLIN taz | Die Göttinger Uniklinik ist ein Schauplatz im neuen
Regionalkrimi „Der dritte Patient“ von Wolf S. Dietrich. Zwei junge Männer
warten in der Transplantationsabteilung auf ihre Operation. Obwohl sie
gesund wirken, wurden ihnen kurzfristig Spendernieren in Aussicht gestellt.
Ein weiterer Patient wird von Sicherheitskräften abgeschirmt. Ein
renommierter Professor des Krankenhauses scheint in die Sache verwickelt zu
sein.
Bei dem Plot hat sich der Autor von realen Geschehnissen inspirieren
lassen. Wenige hundert Meter von dem Krankenhaus entfernt, in Saal B 25 des
Göttinger Landgerichts, findet seit dem 19. August 2013 der Strafprozess
gegen den früheren Cheftransplanteur der Universitätsmedizin statt.
Professor Aiman O., 47, ist wegen versuchten Totschlags in elf Fällen sowie
wegen Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen angeklagt (Az 6 Ks
4/13).
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wirft Aiman O. vor, zwischen 2008 und
2011 bei der Meldung von Daten seiner Patienten an die zentrale
Vergabestelle von Spenderorganen Eurotransplant absichtlich falsche Angaben
gemacht zu haben.
In ihrem sechsstündigen Plädoyer am 27. April 2015 schilderte die
Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff, wie auf O.s Anweisung hin Formulare und
Meldelisten mit entscheidenden Laborwerten und Angaben über vermeintlich
erfolgte Dialysen manipuliert worden sein sollen, damit bestimmte Patienten
auf der Warteliste für Lebertransplantationen nach vorne rücken konnten und
schneller ein Spenderorgan zugeteilt bekamen. Andere, schwerer erkrankte
Menschen hätten deshalb keine Organe bekommen und seien deshalb
möglicherweise gestorben. Dem Angeklagten, sagte die Oberstaatsanwältin,
sei es um „Geltungsdrang, Anerkennung, persönlichen Ehrgeiz und Macht“
gegangen. „Er selektierte, er spielte Gott.“
## Debatte um gerechte Verteilung
Am kommenden Mittwoch soll nach 20-monatiger Verhandlungszeit das Urteil
fallen. 101 Zeugen und neun Sachverständige wurden an den insgesamt 64
Verhandlungstagen gehört. Es ist das erste Gerichtsverfahren infolge der
Manipulationsvorwürfe an mehreren deutschen Transplantationskliniken, die
ab dem Sommer 2012 öffentlich wurden.
Sie mündeten in einen der größten Medizinskandale der Bundesrepublik und
lösten eine bis heute andauernde Debatte aus: die Debatte über die gerechte
Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen. Und über die Frage, was
Ärzte dazu antrieb, sich über Regeln hinwegzusetzen und eigenmächtig zu
entscheiden – über die Lebenschancen schwerkranker Menschen.
In fünf der elf Manipulationsfälle habe sich O. auch über eine Richtlinie
der Bundesärztekammer hinweggesetzt, nach der Alkoholiker vor Ablauf einer
sechsmonatigen Abstinenzzeit nicht transplantiert werden dürfen, beklagt
die Staatsanwaltschaft. Zudem soll der Arzt in drei Fällen Organe
verpflanzt haben, obwohl dies medizinisch gar nicht notwendig war und die
Patienten über das Operationsrisiko nur unzureichend aufgeklärt worden
waren. Diese drei Patienten waren später gestorben.
Acht Jahre soll Aiman O. nach dem Willen der Staatsanwaltschaft hinter
Gitter – aber das ist noch nicht alles: Lebenslang soll er nicht mehr
transplantieren dürfen. Für einen Chirurgen von 47 Jahren die Höchststrafe.
Die Verteidigung indes hat die Vorwürfe stets bestritten und auf Freispruch
plädiert.
## Strafrechtliche Signalwirkung
Doch nicht nur deswegen wird das Urteil mit Spannung erwartet. Auch was die
strafrechtliche Präzedenzbewertung der Verstöße gegen die Richtlinien der
Bundesärztekammer betrifft, dürfte von dem Richterspruch eine Signalwirkung
ausgehen. Zahlreiche Juristen vertreten die Auffassung, dass diese
Regelwerke nicht nur dem Stand der medizinischen Wissenschaften
widersprechen, sondern vor allem gegen das verfassungsrechtliche
Diskriminierungsverbot verstoßen, etwa, was den pauschalen Ausschluss
alkoholkranker Menschen von Transplantationen betrifft.
Die Bundesärztekammer, monierten zuletzt Wissenschaftler der Leopoldina
Nationale Akademie der Wissenschaften in einer Stellungnahme an Regierung
und Parlament, sei überdies gar nicht demokratisch legitimiert, solche
Entscheidungen zu treffen.
Der Ausgang des Verfahrens könnte zudem Einfluss darauf haben, wie die
ermittelnden Staatsanwaltschaften in München, Regensburg und Leipzig die
Unregelmäßigkeiten an den dortigen Lebertransplantationszentren bewerten.
Geld hat bei den Manipulationen wohl keine große Rolle gespielt. Obwohl die
Universitätsmedizin mit einem Bonussystem einen wirtschaftlichen Anreiz für
unnötige Operationen schuf – 1.500 Euro gab es für jeden
Transplantationspatienten.
Aiman O. ist einer, der gerne im Rampenlicht steht. Das haben auch
Beschäftigte des Göttinger Klinikums ausgesagt, die als Zeugen geladen
waren oder vor dem Prozess befragt wurden. O. wollte Beachtung und sich
einen Namen machen – als Starchirurg, der Todgeweihten eine neue Leber
einpflanzt.
## Immer mehr Transplantationen
Geboren wird Aiman O. am 4. Juni 1967 als Sohn palästinensischer Eltern in
der israelischen Kleinstadt Tayyibe. Sein Vater war dort Oberbürgermeister,
seine Mutter arbeitete als Lehrerin an einer örtlichen Grundschule. O.
besucht das Gymnasium in Tayyibe, macht 1985 das Abitur.
Er will Arzt werden und kommt für das Studium nach Münster in Deutschland.
Als Facharzt für Chirurgie arbeitet O. 2001 zunächst an der Göttinger
Universitätsklinik. 2003 wirbt ihn von dort das Regensburger Uniklinikum
ab, wo er eine Stelle als Oberarzt in der Transplantationschirurgie
antritt. Gemeinsam mit einem Kollegen schreibt er Medizingeschichte mit der
bundesweit ersten sogenannten Split-Leber-Transplantation. Dabei wird die
Leber eines lebendigen Spenders geteilt und eine Hälfte einem Patienten
eingesetzt.
Die Zahl der Lebertransplantationen in der Regensburger Klinik schießt
steil nach oben. 2003 waren dort nur elf Lebertransplantationen vorgenommen
worden. 2004 sind es schon 38, ein Jahr später 50.
## Prüfung ohne Folgen
Erst viel später wird bekannt, dass O. bereits damals gegen Bestimmungen
der Ärztekammer verstoßen hat. 2005 soll er jordanische Patienten
verbotenerweise auf die europäische Warteliste für Transplantationen
gesetzt und eine in Deutschland gespendete Leber in Jordanien verpflanzt
haben. Die Bundesärztekammer hat den Fall damals zwar geprüft,
staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wurden aber eingestellt. Die Göttinger
Universitätsklinik, die ihn 2008 aus Bayern abwirbt und zum Leiter der
Transplantationschirurgie macht, will bei der Einstellung O.s von den
Regensburger Vorgängen nichts gewusst haben.
In Göttingen kann O. die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen. Die Zahl der
Lebertransplantationen, die zwischenzeitlich auf etwa 20 pro Jahr
zurückgegangen waren, kann der Mann auch hier stark steigern. Dass dabei
nicht alles mit rechten Dingen zuging, scheint außer Frage zu stehen. Nicht
nur Zeugenaussagen, sondern auch Schriftwechsel und andere Dokumente, die
in dem Prozess eine Rolle spielten, legen diesen Schluss nahe.
O. selbst indes hat die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft immer bestritten.
„Ich war Tag und Nacht für die Patienten da“, sagte er mehrfach. Sein Beruf
als Arzt sei eine Lebensaufgabe für ihn gewesen, ihm sei es immer nur um
das Wohl der Kranken gegangen.
## Patienten als Privateigentum
Die Zeugen zeichneten ein höchst unterschiedliches Bild von O. Der
langjährige Direktor der chirurgischen Uniklinik, Heinz Becker, sagte, dass
O. als Transplanteur zwar ein herausragender Techniker sei. Ihm fehle es
aber an Empathie und Humanität. Patienten habe er wie sein Privateigentum
behandelt. Demgegenüber erklärte ein ehemaliger Assistenzarzt, sein Exchef
habe sich mit aller Kraft für seine Patienten eingesetzt und alles getan,
um Menschenleben zu retten.
Bloß zu welchem Preis? Und womöglich zu wessen Lasten? Das sind Fragen, auf
die das Gericht eine Antwort finden soll, aber möglicherweise in dieser
Eindeutigkeit gar nicht kann. Bei den elf Fällen wegen versuchten
Totschlags etwa kann niemand konkret benennen, wer die Opfer gewesen sein
könnten. Statt konkreter Personen handelt es sich um virtuelle Größen.
Überdies kann niemand beweisen, ob tatsächlich jemand zu Tode gekommen ist.
Der Göttinger Medizinrechtler Gunnar Duttge erklärte, er halte zudem den
Nachweis für schwierig, dass O. den Tod anderer Menschen billigend in Kauf
nahm, während er das Wohl der eigenen Patienten im Auge hatte. Und auch bei
der Bewertung der drei Fälle, in denen O. Patienten eine Leber
transplantiert haben soll, obwohl dies medizinisch nicht geboten war, gab
es Streit unter den Gutachtern. Einzig anhand der Krankenakte im Nachhinein
mit 100-prozentiger Sicherheit feststellen zu wollen, ob eine Therapie
eindeutig notwendig war oder nicht, gilt in der Medizin als nahezu
ausgeschlossen.
Ob O. also am Mittwoch tatsächlich verurteilt wird, ist fraglich. Doch
egal, wie es ausgeht – erledigt dürfte der Fall damit ohnehin nicht sein.
Prozessbeobachter rechnen fest damit, dass die unterlegene Partei in
Revision geht. Zur Not bis vor die Bundesgerichte.
5 May 2015
## AUTOREN
Reimar Paul
Heike Haarhoff
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