Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hotline für Flüchtlinge in Seenot: Druck für mehr Verantwortung
> Wohl dank des „Alarm-Phones“ wurden vor kurzem 600 Flüchtlinge vor der
> libyschen Küste gerettet. Eine Initiative will das Sterben auf See
> beenden.
Bild: Die italienische Küstenwache im Einsatz.
BERLIN taz | Um 7.15 Uhr am vergangenen Freitag war das Boot im libyschen
Zuwara in See gestochen. An Bord: Mehr als 600 Menschen, viele aus Eritrea.
296 Kilometer sind es von hier bis nach Lampedusa, wenn alles gut läuft,
eine Sache von zehn Stunden. Hoffnung, die Gräuel der Diktatur hinter sich
zu lassen, den Weg durch die Wüste, die Misshandlung und das Chaos in
Libyen. Aber es lief nicht gut.
Zur selben Zeit begann Marcella Barocco im holländischen Nijmwegen ihre
Schicht: Acht Stunden Telefondienst an der Hotline für Flüchtlinge in
Seenot. Ein Büro gibt es nicht, Barocco arbeitet von zu Hause, genau wie
etwa 80 andere AktivistInnen der Alarm-Phone-Initiative. Retten kann die
niemanden – aber dafür sorgen, dass andere dies nicht unterlassen.
Seit Jahren ist Barocco als No-Border-Aktivistin politisch aktiv. Wie viele
will sie sich nicht damit abfinden, dass seit Jahren, immer wieder aufs
Neue, Hunderte, Tausende, vor den Toren Europas sterben. „Uns geht es
darum, konkret zu helfen, die Sache zu ändern“, sagt sie. Seit Oktober
betreiben Freiwillige aus Europa, Tunesien und Marokko das Projekt – jeden
Tag, rund um die Uhr. Einige der Aktivisten sind selbst als
Bootsflüchtlinge nach Europa gekommen.
Die Telefonnummer haben die Aktivisten über das Internet verbreitet, über
Flüchtlingsorganisationen, über Migrantencommunitys und soziale Medien. Die
Idee: Wenn Flüchtlinge in Not geraten, sollen sie erst einen Notruf
absetzen und dann die Alarm-Phone-Initiative informieren. Zu oft haben die
Küstenwachen in der Vergangenheit Notrufe ignoriert. „Wir wollen dafür
sorgen, dass das nicht mehr passiert“, sagt Barocco.
## Kleine Boote orten
Die Satellitentelefone der Firma Thuraya sehen aus wie Handys aus den
späten neunziger Jahren: Etwas klobig, aber in der Hosentasche tragbar. Sie
sind die Lebensversicherung vieler Bootsflüchtlinge: Denn mögen die Boote,
in denen sie in See stechen, auch noch so altersschwach sein, fast immer
geben die Schlepper ihnen ein Thuraya-Telefon mit auf die Fahrt. Das dient
nicht nur dazu, einen Notruf abzusetzen, wenn man sich weit außerhalb des
normalen Mobilfunknetzes befindet. Vor allem zeigt es präzise die eigene
Position an. Diese Koordinaten sind die Voraussetzung dafür, dass Helfer
die kleinen Boote überhaupt erreichen können.
Auch das Boot, das am Freitag in Zuwara in See gestochen war, hatte ein
Satellitentelefon dabei. Am Vormittag bemerken die Insassen, dass Wasser in
ihr Boot läuft. Die libyschen Hoheitsgewässer haben sie da gerade
verlassen. Eine Notrufnummer haben sie nicht, nur die des eritreischen
Priesters Mussie Zerai. Seit Jahren kümmert der sich um die ankommenden
Landsleute in Italien. Jeder Eritreer, der sich auf den Weg macht, kennt
ihn.
33’20’’ nördlicher Breite, 12’13’’ westlicher Länge, die Flüchtl…
Zerai die Koordinaten vor. Er leitet sie an das Maritime Rescue
Coordination Centre (MRCC) in Rom weiter – die Leitstelle der italienischen
Küstenwache – und übergibt den Fall an Barocco.
Um 13.04 Uhr kann das Team um Barocco zum ersten Mal Kontakt mit den
Flüchtlingen aufnehmen. „Die Kommunikation war schwierig“, sagt sie. Die
meisten der Flüchtlinge sprechen nur Tigrinya, eigentlich hat Alarm-Phone
einen Pool von Übersetzern, doch an diesem Tag ist der Zeitdruck groß. „Wir
haben verstanden, dass Wasser ins Boot läuft, und dass es ein Notfall ist“,
sagt sie. Die Aktivisten wenden sich an das MRCC. „Die haben gesagt, sie
wollen der Sache nachgehen – ob sie wirklich eine Rettungsaktion starten,
haben sie aber offen gelassen.“ Tatsächlich waren die Flüchtlinge zu der
Zeit rund 45 Kilometer von der libyschen Küste entfernt – und damit auch
außerhalb des Seegebiets, innerhalb dessen Italien zur Seerettung
verpflichtet ist.
## Zusehen geht nicht
Das mit Spenden finanzierte Alarm-Phone startete am 8. Oktober – dem
Jahrestag eines schrecklichen Unglücks: 2013 waren an diesem Tag über 260
Syrer vor Lampedusa ertrunken, nachdem die italienische und die maltesische
Küstenwache die Verantwortung hin und her geschoben hatten. Es war nicht
der erste Fall dieser Art, aber der erste, in dem Aktivisten aus
Deutschland, Italien und der Schweiz so minutiös dokumentierten, wie
organisierte Verantwortungslosigkeit zum Tod Hunderter Flüchtlinge auf See
führte. Danach war für sie klar: Das soll nie wieder geschehen.
Sie riefen Alarm-Phone ins Leben, erstellten ein detailliertes Handbuch und
trainierten Freiwillige wie Marcella Barocco. Das Wichtigste: den Anrufern
sagen, dass sie nicht mit einem Rettungsdienst verbunden sind. Und dann in
möglichst kurzer Zeit so viele Infos wie möglich erfragen: Position, Größe
der Boote, Größe der Gruppe, gibt es Kranke, gibt es Schwangere, läuft der
Motor noch? Im November wurde Barocco mit zwei weiteren Mitstreitern aus
Nijmwegen in Amsterdam geschult, seitdem ist sie beim Alarm-Phone aktiv.
Fünfmal haben die Aktivisten in den folgenden Stunden mit den Bootsinsassen
telefoniert, ihre Acht-Stunden-Schicht wurde länger. „Sie sagten uns, dass
keine Rettung in Sicht sei, aber das Boot weiter mit Wasser vollläuft“,
sagt Barocco. Mehrfach riefen die Aktivisten bei der Küstenwache an. Die
wurde zunehmend unfreundlicher, eine Zusage zur Rettung machten sie nicht,
ebenso wie die maltesische Küstenwache. „Dann haben wir entschieden, Alarm
zu geben“, sagt Barocco. Um 17.16 Uhr schickte die Initiative eine
Nachricht über Mailinglisten und Social-Media-Kanäle in ganz Europa: „600
Menschen sind in Gefahr, schreibt jetzt E-Mails, so viele wie möglich.“
Die Koordinaten des Boots hatten sich inzwischen geändert, sie gaben die
neuen Daten an die Küstenwache weiter. Um 18 Uhr bekam das
UN-Flüchtlingswerk eine Nachricht vom MRCC: Rettungsschiffe und
Hubschrauber seien unterwegs. „Wir haben uns entschieden, das zu glauben“,
sagt Barocco. Die Aktivisten schickten eine zweite Nachricht raus: Keine
Mails mehr an die Küstenwache.
## Die Nummer zirkuliert
Gegen 19 Uhr erreichten die Helfer das Flüchtlingsboot. Eine Person war in
der Zwischenzeit gestorben, rund 600 konnten die Helfer retten. Sie wurden
an die Häfen von Augusta und Porto Empedocle in Italien gebracht.
„Die Nummer zirkuliert wirklich“, sagt Baroccos Mitstreiter Maurice Stierl.
Der in London lebende Aktivist aus Deutschland hat Alarm-Phone mit
aufgebaut, wie die meisten hat er zuvor jahrelang in anderen
Flüchtlingsprojekten gearbeitet. Nicht alle Anrufe seien so dramatisch wie
dieser, sagt er. „Uns haben auch schon Leute angerufen, die in Griechenland
angekommen sind und orientierungslos waren. Denen versuchen wir auch zu
helfen.“
Zum Start ihres Projekts haben die Aktivisten den Rettungsleitstellen einen
Brief geschrieben. „Wir haben angekündigt, was unsere Rolle sein wird, dass
wir es als unsere Pflicht verstehen, Druck aufzubauen, sollten wir das
Gefühl haben, dass nicht sofort gerettet wird“, sagt Stierl. Das werde
„vielleicht etwas ungern gesehen“, doch damit müssten die Rettungsdienste
umgehen lernen, meint er. Denn tatsächlich seien die Aktivisten überzeugt,
dass „nicht immer alles getan wird.“
Zurzeit, schränkt er ein, sei das allerdings besser geworden: „Es gibt im
Moment eine große Bereitschaft der italienischen Rettungsdienste, aber es
gibt viel zu wenig Rettungskapazitäten, und das ist eine politische
Entscheidung.“ Eigentlich ist die große italienische Seerettungsmission
Mare Nostrum im letzten Herbst ausgelaufen – die EU hat sich geweigert,
sich nennenswert an den Kosten zu beteiligen. Dafür hat sie eine Mission
der EU-Grenzschutzagentur Frontex namens Triton gestartet. Doch die
beschränkt sich auf Patrouillen innerhalb eines engen Streifens um die
italienische Küste. Faktisch ist die italienische Marine aber weiter aktiv.
„Es ist beeindruckend, dass sie anderen Kräften nicht nachgeben“, sagt
Stierl.
## Zeit der vermeidbaren Tragödien
Am 9. Dezember hat Frontex-Operationsleiter Klaus Rösler einen Brief an den
Direktor der italienischen Einwanderungsbehörde und Grenzpolizei des
Innenministeriums, Giovanni Pinto, geschrieben. Er forderte sie auf, keinen
Notrufen außerhalb der 30-Meilen-Zone mehr nachzukommen. Die libysche
Küstenwache sei bei Seenotfällen außerhalb des Einsatzgebietes von Triton
in die Verantwortung zu nehmen.
„Unfassbar“, sagt Stierl dazu. „Wir sehen unsere Arbeit auch als Weg, um
gegen diese Politik Druck zu machen.“
Im Frühjahr wird das Mittelmeer ruhiger. Das spürt auch Alarm-Phone: „Wir
haben in den letzten zwei Wochen gemerkt, dass die Saison der Seemigration
wieder losgeht“, sagt Stierl. Und damit auch die Zeit der vermeidbaren
Tragödien.
17 Apr 2015
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Initiative
Hotline
Seenot
Flüchtlinge
Bundeswehr
Abschiebung
Frontex
Küstenwache
Asylrecht
Schiffsunglück
Kaukasus
Triton
Schiffsunglück
Flüchtlinge
Frontex
Diakonie
Flüchtlinge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vor dem EU-Flüchtlingsgipfel: Einsatz für Rettungsmissionen
EU-Parlamentarier wollen eine Neuauflage von „Mare Nostrum“ erzwingen. Die
Bundeswehr zeigt sich bereit, Schiffe ins Mittelmeer zu schicken.
Asylbewerber zündet sich an: Angst vor der Abschiebung
Ein Asylbewerber aus dem Landkreis Emsland hat sich mit Benzin übergossen
und angezündet. Am Montag sollte er abgeschoben werden.
Flucht über das Mittelmeer: Das Geschäft der Schmuggler
Arbeitslosigkeit und Bürgerkriege treiben die Menschen fort. NGOs schätzen,
dass täglich bis zu 700 Migranten die libysche Küste verlassen.
Kommentar Seenotrettung: Massengrab Mittelmeer
700 tote Flüchtlinge: Europa muss sich auf das Machbare konzentrieren – und
von der Illusion verabschieden, es könne die Flüchtlinge fernhalten.
Seenotrettung im Mittelmeer: Rund 30 Cent pro EU-Bürger
Nach der Einstellung der Marinemission Mare Nostrum wird die Zahl der Toten
wohl steigen. Wie könnte eine neue Seerettungsmission aussehen?
Schiffsunglück vor Libyen: 700 Tote befürchtet
Bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer könnten bis zu 700 Flüchtlinge ums
Leben gekommen sein. Ihr Boot kenterte am Sonntag nördlich der libyschen
Küste.
Tschetschenen im deutschen Exil: Baldige Rückkehr ausgeschlossen
Heute fliehen tschetschenische Bürger nicht mehr vor dem Krieg, sondern vor
dem Geheimdienst. Die junge Generation fürchtet ihn auch im Exil.
Debatte Flüchtlingspolitik: Der Preis der Verrohung
Menschenrechte sind nicht billig. Der Preis für eine menschenverachtende
Asylpolitik wird aber noch viel höher sein.
Flüchtlinge an Europas Außengrenze: Erneut Tote im Mittelmeer
40 Menschen sollen beim Untergang eines Flüchtlingsschiffs umgekommen sein.
Auf einem anderen Schiff soll ein religiös motivierter Streit Todesopfer
gefordert haben.
Flüchtlinge in Bulgarien: „Erniedrigend und unmenschlich“
Pro Asyl prangert die Misshandlung von Flüchtlingen in Bulgarien an und
fordert die Bundesregierung zu einem Abschiebestopp auf.
Flüchtlinge im Mittelmeer: Katastrophe vor Libyen
Überlebende und die Hilfsorganisation Save the Children berichten vom
Untergang eines Flüchtlingsschiffes im Mittelmeer: mehr als 400 Tote.
Hilfe für Flüchtlinge vor dem Aus: Grünflächen statt Flüchtlingsarbeit
Seit zwei Jahren dient das Hamburger „Zongo“ als Anlaufstelle für
afrikanische Flüchtlinge. Nun soll das Gebäude einem Grünstreifen weichen.
Zufluchtsort Ägäis: Zahl der Flüchtlinge vervierfacht
Mehr als 10.000 Menschen sind in den ersten Monaten des Jahres von der
Türkei aus nach Griechenland gekommen. Die Polizei ist überfordert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.