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# taz.de -- Tschetschenen im deutschen Exil: Baldige Rückkehr ausgeschlossen
> Heute fliehen tschetschenische Bürger nicht mehr vor dem Krieg, sondern
> vor dem Geheimdienst. Die junge Generation fürchtet ihn auch im Exil.
Bild: Das neue Russland führte in Tschetschenien seinen ersten Krieg. Die auto…
BERLIN / DRESDEN taz | Apti* (48) steht im Souterraineingang des Dresdener
Gemeinschaftsunterbringung wie eine gotische Stifterfigur in ihrer
Kirchennische. Der Tschetschene, ursprünglich Bauingenieur, war General in
den beiden Kriegen gegen Russland. Seit einer halben Stunde wartet er in
der Kälte. Versprochen ist versprochen: ein Interview über das Wohnheim auf
Russisch. Eine andere Fremdsprache kann er nicht, aber diese stimmt ihn nun
mal misstrauisch.
„Es kommen oft überflüssige Leute an, spionieren für russische
Geheimdienste!“, erklärt er. Also zeigt er erst mal nicht, wo bestimmte
Flüchtlinge wohnen, sondern bloß den aufs Geratewohl möblierten
Gemeinschaftsraum. Er schenkt auf der Resopaltischplatte Mineralwasser ein.
Jetzt fallen die Narben an Stirn und Händen auf.
In Deutschland erinnerte man sich erst im Jahre 2013 wieder an die
Tschetschenische Republik in der Russischen Föderation, ein Land im
Nordkaukasus, so groß wie Thüringen mit 1,3 Millionen EinwohnerInnen.
Damals kam ein Schwung TschetschenInnen über die polnische Grenze. 13.600
Menschen baten in wenigen Monaten um Asyl, halbe Dorfgemeinschaften. Die
Bundesrepublik verteile Land und Geld an Tschetschenen – dieses Gerücht
hatte vermutlich das dortige Regime ausgestreut, um vor den Winterspielen
in Sotschi potenzielle Unruhestifter loszuwerden. Nachdem sich die Gerüchte
gelegt hatten, kamen im Jahr 2014 rund 3.800 tschetschenische Flüchtlinge.
Apti wollte längst vorher fort.
Anfang 2006 hatte man ihn abgeholt. Ein Jahr und elf Tage lang prügelten
ihn in den Nächten regierungstreue, maskierte Männer. Sie zogen ihm die
Fingernägel einzeln heraus und beschuldigten ihn der Konspiration. Diese
„Säuberungen“ gab es schon in den beiden Tschetschenienkriegen von 1994 bis
1996 und 1999 bis 2009. Damals waren es vorwiegend russische Soldaten, die
BewohnerInnen nachts aus ihren Häusern zerrten, folterten und ermordeten.
Heute sind es die Leute von Putins Vasallen, des „Haupts der Republik“,
Ramsan Kadyrow (38).
## Folgenreiche Unabhängigkeitserklärung
Alles begann im Dezember 1994 mit dem Einmarsch der russischen Armee in die
Hauptstadt Grosny als Reaktion auf Tschetscheniens Unabhängigkeitserklärung
nach dem Zerfall der UdSSR. Im Zuge der beiden Kriege starben Hunderte von
Menschen in der Russischen Föderation durch spektakuläre Terrorakte. Die
meisten, aber nicht alle führten tschetschenische Freischärler aus,
zunehmend mit Hilfe aus arabischen Staaten.
In fast 20 Jahren Krieg kamen in Tschetschenien rund 200.000 Menschen ums
Leben. Noch ist das Land vermint. Eine Generation jüngerer Männer hat
nichts gelernt, als Krieg zu führen. Das tun sie zum Beispiel in den Reihen
des IS und syrischer Islamisten. Unter Letzteren sollen sich nach
Geheimdienstschätzungen über tausend Tschetschenen engagieren, die in Assad
den Alliierten Putins bekämpfen. In der Ukraine kämpfen Tschetschenen auf
beiden Seiten: Freiwillige gemeinsam mit den Regierungstruppen gegen die
sogenannten Separatisten, auf deren Seite wiederum mindestens ein Bataillon
aus 300 Männern. Mit Sicherheit sind diese dort nicht ohne Kadyrows Willen.
Einen Orwell’schen Staat hat der daheim etabliert. Ganze Friedhöfe mit
Gräbern von Folteropfern aus den letzten Tschetschenienkriegen und Opfern
des Stalinismus verschwanden von der Erdoberfläche. Nichts sollte während
der Olympischen Spiele an die Verbrechen des Großen Bruders erinnern. Der
Tradition nach ordneten sich tschetschenische Männer nur ihren
Allerältesten unter. Heute bejubeln bei jeder Gelegenheit
fähnchenschwenkende, oft folkloristisch gekleidete DemonstrantInnen den
Potentaten.
## „Ein moralischer Genozid“
Solche Bilder bedrücken den promovierten Historiker Said-Khassan
Abumuslimov (62). Mit buschigen schwarzen Augenbrauen und einem
entschiedenen Grübchen im Kinn sitzt er im Wohnzimmersessel vor der
Teekanne wie ein Manager am Schreibtisch. Ein paar Teddybären auf der
Spiegelablage daneben bezeugen: Diese blitzblanke, lindgrün tapezierte
Berliner Zweieinhalbzimmerwohnung teilt er, und zwar mit Ehefrau Hawa (49)
und zwei Töchtern, von denen eine bereits studiert. Alle drei erweisen sich
als gestandene oder werdende Naturwissenschaftlerinnen.
Die Familie lebt seit 2004 in Deutschland zusammen. Jahrelang vertrat
Abumuslimov Tschetschenien auf internationalen Foren und war zwischen den
beiden Kriegen Vizepremier des Landes. „Der moralische Genozid an unserem
Volk geht heute so weit, dass sich die Leute selbst nicht mehr erkennen“,
sagt er: „All die Trachten und Fellmützen haben keinen Sinn mehr, sind nur
noch Lappen!“
Im Jahr 1996 gehörte er zu der tschetschenischen Delegation, die im
dagestanischen Chassawjurt mit dem russischen General Alexander Lebed den
Friedensvertrag nach dem Ersten Tschetschenienkrieg unterzeichnete. Lebed
gestand später, dass er seiner Armee nur eine Atempause verschaffen wollte.
Abumuslimov hat gelernt: „Man wird Putin auch in der Ukraine nicht mit
Diplomatie stoppen. Entgegenkommen interpretiert er bloß als Schwäche.“
## Der Westen wandte sich ab
Auch während des Zweiten Tschetschenienkrieges (1999 bis 2009) ignorierte
der Westen die russischen Menschenrechtsverletzungen in dem kleinen Land
als „innere Angelegenheit“. „In meiner Generation waren die meisten
politisch aktiven Gebildeten zuerst prowestlich“, erinnert sich
Abumuslimov: „Aber als wir unsere Rechte einforderten, wandte sich der
Westen ab. Es ist die Schuld von Schröder, Fischer & Co, Blair, Clinton und
Bush, wenn jetzt in Tschetschenien ein radikaler Islamismus droht.“
Die Widerständler in Tschetscheniens Wäldern teilen sich heute in
Befürworter einer Demokratie und Islamisten. Letzteren stiehlt der Diktator
bisweilen die Show. So propagiert Kadyrow die Vielweiberei und ordnete eine
Kopftuchpflicht für Frauen in öffentlichen Einrichtungen an. Dies alles
bleibt nicht ohne Auswirkung auf die TschetschenInnen im Ausland.
Nach Auskunft des Bundesministeriums des Innern ist in Deutschland eine
„individuelle, Radikalisierung von jungen Nordkaukasiern feststellbar“.
Außerdem heißt es: „Den Sicherheitsbehörden liegen Erkenntnisse vor, dass
Personen tschetschenischer Abstammung in Einzelfällen von Deutschland aus
in die Krisenregion Irak/Syrien gereist sind.“
## Finanzierung des Kulturzentrums gestrichen
Der Publizist und Menschenrechtler Ekkehard Maaß (63) gründete 1996 die
Deutsch-Kaukasische Gesellschaft. Sein Berliner Salon in Prenzlauer Berg
wurde Anlaufpunkt für Hunderte tschetschenische Flüchtlinge.
„Viele der Jungs“, erzählt er, „sind mit ihren verwitweten Müttern
gekommen. Ihnen fehlt die für Kaukasier besonders wichtige Orientierung an
männlichen Bezugspersonen.“ Einen Ausweg sieht er in Einrichtungen wie dem
von ihm organisierten Deutsch-Tschetschenischen Kulturzentrum. 2013 musste
es mangels Finanzierung geschlossen werden. „Dort gab es Deutschkurse,
Konzerte und Feiern. Da saßen Sufisten neben Islamisten und Anhänger neben
Kritikern der Exilregierung. Man sprach über die Adate, den teils bis heute
gültigen, vorislamischen Sittenkodex.“ Die Tschetschenen wurden erst Ende
des 18. Jahrhunderts endgültig zum Islam bekehrt und praktizierten seither
eine gemäßigte Variante.
„Viele Zeitungsmeldungen über religiöse Konflikte in Flüchtlingslagern sind
falsch“, berichtet Maaß, den Polizei und Betroffene oft als Vermittler
rufen: „Zu dramatischen Zusammenstößen großer Gruppen kam es aber in
Erstaufnahmeheimen, wo Menschen auf engstem Raum und auf unabsehbare Zeit
zusammengepfercht lebten. Dort meinten junge tschetschenische Familienväter
oft, dass alleinstehende Syrer, andere Araber und Afrikaner ihre Frauen
belästigten.“
Es muss aufhören, Leute mit völlig verschiedener Mentalität bis zu einem
Dreivierteljahr lang zusammenzusperren, fordert Maaß: „Die Tschetschenen
sind übertrieben reinlich und essen kein Schweinefleisch; es ist für sie
sehr schwierig, mit Leuten auf engsten Raum zusammenleben zu müssen, die
diese Dinge etwas lockerer sehen und in den Gemeinschaftstöpfen
Schweinshaxen kochen.“ Er wünscht allen AsylantragstellerInnen nach
spätestens drei Monaten eine eigene Wohnung: „Das ist billiger und
integriert sie in den Alltag.“
## „Unordentliche“ Araber
Apti hat in Dresden mit Frau und vier Kindern eine Zweizimmerwohnung in
einem niedrigen Plattenbau im Grünen bezogen und lädt ein. Vor noch kahlen
Wänden strahlt der Exgeneral. Ein paar Reibereien habe es in seinem sonst
vorbildlichen bisherigen Wohnheim schon gegeben: „Junge arabische Spunde,
die nicht mal eine Familie hatten und bloß Drogen im Kopf, ließen
wochenlang stinkende Müllsäcke vor ihren Zimmern stehen!“
Mit den Worten: „Da, lies deinen Hund auf!“ hatte man 2007 Aptis Ehefrau
Rosa* (42) ihren blutüberströmten Mann wie Müll vor die Tür geworfen.
Seither leidet sie an Leibschmerzen. Apti begleitet sie zum Arzt und
besucht einen seiner beiden Söhne, den krebskranken Zehnjährigen, täglich
im Krankenhaus.
„Als wir 2013 in Deutschland ankamen, dachten wir: Nun werden unsere Kinder
sterben!“, erzählt er: „Kalt und durchnässt verbrachten wir drei Tage in
zugigen, ungeheizten Betonzellen und Containern. In Frankfurt (Oder) bat
ich die Wachhabenden, wenigstens den Ventilator auszustellen – erfolglos!“.
Eindreiviertel Jahre später spielt sein fünfzehnjähriger Ältester in einem
Dresdener Schülertheater. Die Fünfjährige kommt gerade aus dem Kindergarten
heim und kräht auf Deutsch: „Papa, ich will auch ’nen Ranzen!“
Die Pegida-Demonstrationen betrachtete Apti nicht als gegen sich gerichtet.
„Die sind schuld!“, ruft er und meint die „unordentlichen“ Araber. „D…
ist wunderschön!“, schwärmt er: „Im Herbst sind wir mit den Kindern Beeren
und Pilze sammeln gegangen. Einfach so in den Wald – in Tschetschenien
hätten wir uns das nie getraut.“
*Namen geändert
18 Apr 2015
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Kaukasus
Exil
Flüchtlinge
Wladimir Putin
Tschetschenien
Ramsan Kadyrow
Initiative
Russland
Anna Politkowskaja
Sotschi
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