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# taz.de -- #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek: Die stille Aufrührerin
> Die Bloggerin Anne Wizorek lieferte das Schlagwort für die jüngste
> Sexismus-Debatte. Sie will den Rummel nutzen, denn es gebe viel zu
> besprechen.
Bild: Keine Gesten, ruhige Mimik: Anne Wizorek in der ARD-Talkshow „Günter J…
Manchmal kann ein einzelnes Wort etwas in Gang setzen, weil es bündelt, was
an die Gefühle vieler Menschen rührt. Im Internet können sich solche Wörter
schlagartig ausbreiten, immer wieder neu verlinkt in Blogs, sozialen
Netzwerken und Online-Foren. Jede Zeile führt sofort zu weiteren Zeilen,
jeder Satz zu einem Stoß weiterer Sätze.
So wie [1][das Wort „Aufschrei“]. Anne Wizorek zieht ihre Mütze vom Kopf
und stellt die tomatenrote Ledertasche unter den Tisch, um den schon vier,
fünf junge Männer sitzen. Der enge Besprechungsraum der Design-Agentur geht
zu einer Seitenstraße in Berlin-Friedrichshain heraus. Apple-Symbole
glimmen. Die Wintersonne wirft schwaches Licht. Es schneit.
Sie senkt den Blick auf ihren Mac, Chatleisten und Browserfenster blinken
vor ihr auf. Neulich hat jemand sie gefragt: „Hättet ihr das alles nicht
besser planen können?“ Sie lächelt dünn, amüsiert und noch etwas verwunde…
über das, was sie da losgetreten hat. „Wie denn? Das war doch eine ganz
spontane Sache.“
Es begann an einem Donnerstag im Januar. Am Morgen erscheint auf dem Blog
Kleinerdrei [2][ein Beitrag über sexuelle Belästigung]. Die Autorin weist
auf eine Twitter-Kampagne in England hin, die solche Vorfälle
zusammenträgt: „Was hält uns davon ab, da mitzumachen?“, fragt sie.
## Als der Sturm ausbrach
Vielleicht wäre es dabei geblieben, wäre nicht an dem Tag der Stern mit
einem Porträt Rainer Brüderles erschienen. Eine junge Reporterin beschrieb,
wie der FDP-Politiker auf ihre Fragen mit anzüglichen Sprüchen reagierte.
So kam eines zum anderen. Die Ersten fingen an, auf Twitter eigene
Geschichten zu erzählen, stichwortartig, in 140 Zeichen. Es ist schon spät,
kurz nach Mitternacht. Anne Wizorek alias [3][@marthadear] sitzt noch am
Computer. Sie [4][schreibt]: „wir sollten diese erfahrungen unter einem
hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor.“
Dann brach der Sturm los.
Das ist jetzt drei Wochen her. Drei Wochen, in denen viel gesagt worden ist
über sexuelle Diskriminierung, über Macht, Gewalt und Geschlecht. „Mir
kommt es vor wie eine kleine Ewigkeit“, sagt Anne Wizorek, „es ist alles
extrem intensiv gewesen.“ Sie sieht jünger aus als 31, mit feinen
Gesichtszügen, zarten Schultern und Pferdeschwanz. In flachen Stiefeln
läuft sie über das Parkett der Agentur, deren Inhaber Freunde von ihr sind.
Im Gehen wendet sie den Kopf und erzählt, dass sie einen
Internet-Radiosender gründen möchten, auf dem ihre Lieblingsmusik läuft.
Deswegen ist sie hier. Doch zuerst müssen sie Lizenzen beantragen. Sie
seufzt leise, ihre Zeit ist knapp, gerade dieser Tage. Sie steigt die
Treppe hoch in den ersten Stock, lässt sich auf einem olivgrünen Sofa
nieder.
Anne Wizorek zählt zu denen, die schon länger versuchen, die Möglichkeiten
des Internet auszuloten. Um sich Gehör zu verschaffen, Ideen zu verbreiten,
Netzwerke zu knüpfen. „Twitter ist ein fester Bestandteil meines Tages“,
sagt sie, „das ist das Erste, was ich nutze: Wenn ich wach bin, wird erst
mal Twitter gecheckt.“ Als Beraterin für Online-Kommunikation erklärt sie
ihren Kunden, darunter der Schweizer Bundesbahn, wie sie soziale Netzwerke
wie Facebook für sich nutzen können. Das Studium brach sie ab.
Literaturwissenschaft. Sie verließ die Uni, als es auf die Prüfungen
zuging. Den Abschluss machen, das hätte bedeutet, dass sie erst mal nicht
mehr arbeiten kann. Das konnte sie sich nicht leisten. Ohnehin liegt ihr
das Praktische mehr.
## Eine andere Debattenkultur
Zuletzt hat sie den Blog Kleinerdrei mitbegründet, daneben führt sie
[5][ihren Blog] [6][„An Apple a Day“]. Dort stellt sie sich vor als
„Nerdette mit Wohnsitz Internet & Berlin“. In dieser Reihenfolge.
Insgesamt gingen vom 25. bis zum 31. Januar 49.000 Tweets mit dem Hashtag
#aufschrei ein, dazu 30.000 weitergeleitete Beiträge, Retweets. Damit war
der #aufschrei die bis dahin größte Debatte, die es in Deutschland je auf
Twitter gab. „Dass das so explodiert ist, zeigt, dass es Redebedarf gibt“,
sagt Anne Wizorek.
Es zeigt aber auch noch etwas anderes: #aufschrei könnte ein Hinweis sein,
dass sich die Debattenkultur in Deutschland verändert. Zum ersten Mal hat
sich ein Thema im Internet verdichtet, bevor die etablierten Medien darauf
eingestiegen sind. „Die alten Medien“, sagt Wizorek. Sie war manchmal
enttäuscht, wie das Thema behandelt wurde. Sie stört, dass sich die Sicht
oft auf eine Polarisierung verengte. Auf einen Kampf der Geschlechter.
Vor allem in Talkshows fehlte es ihr an Substanz. Die Blogger im Netz seien
bereits viel weiter. „Da wird die Debatte auf dem richtigen Niveau geführt
und mit der richtigen Differenzierung.“ Ihr geht es um einen feministischem
Diskurs, der bewusst macht, welche Strukturen das Ungleichgewicht zwischen
den Geschlechtern aufrechterhalten.
## „Ein zwangsweise dickes Fell“
Die Aktivistin ist eine zurückhaltende Frau, die in nüchternen Sätzen
spricht. Sie fährt nicht hoch, sie eifert nicht. Keine Gesten, ruhige
Mimik. Sie sitzt fast reglos da, die Beine überschlagen, die Arme
überkreuzt, so als wollte sie all die Aufregung ein Stück von sich
fernhalten.
Sie hat viele positive Rückmeldungen bekommen. Doch es gab auch allerhand
Pöbeleien, sogar Drohungen. Anne Wizorek ist einiges gewohnt. „Sobald man
als Frau zu bestimmten Themen schreibt, kommen solche Reaktionen“, sagt
sie. „Man legt sich zwangsweise ein dickes Fell zu.“ Einer schrieb, sie
solle auch nicht mit so einem tiefen Ausschnitt bei Günther Jauch sitzen.
Tief? Sie lacht kurz auf und deutet auf den Kragen ihres Pullovers, der
eine Handbreit unterm Schlüsselbein verläuft. „Der war so!“
Ab und an gibt es solche unsicheren Momente, in denen man spürt, dass sich
manches doch nicht so leicht abstreifen lässt. Ihr setzte vor allem der
Hohn mancher Frauen zu, die den #aufschrei als Hysterie abtaten und die
Geschichten auf Twitter als Lappalien. „Wenn sie keine Erfahrungen damit
haben, ist das ja toll. Aber dass sie anderen ihre Erfahrungen absprechen,
das hat mir schon wehgetan.“ Sie stützt das Kinn auf ihrer Hand ab. Am Puls
trägt sie eine Tätowierung, Pfeile wie auf den Tasten eines MP3-Players,
mit denen man vor- und zurückschaltet.
Anne Wizorek trägt sich schon lange mit dem Gefühl, dass etwas falsch
gelaufen ist in Deutschland, wo Frauen auch heute noch in der Arbeitswelt
benachteiligt sind und sich auf der Straße oft nicht sicher fühlen. Sicher,
meint sie, spielt es eine Rolle, dass sie in der DDR groß geworden ist, wo
das Frauenbild anders war. Sie wuchs in Ostberlin auf, die Mutter war
Maschinenbauingenieurin. Dass Mädchen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen
werden, wollte sie nie einsehen. Trotzdem tat sie sich mit dem Begriff
„Feministin“ lange schwer, weil er so nach Frust und Männerhass klang.
## Eher Valenti als Schwarzer
Erst im Internet fand sie einen Zugang zu ihrem Thema. Sie hatte während
eines Semesters in Norwegen angefangen zu bloggen, „damit die Leute zu
Hause wissen, wie es mir geht“. Dann stieg sie tiefer ein. Sie stieß auf
Websites wie den US-Blog [7][Feministing.com] und begann, sich mit
Aktivistinnen auszutauschen, die ihre Anliegen teilten.
Oft heißt es, dass die deutsche Frauenbewegung seit den 70ern ins Stocken
geraten ist. Mit Alice Schwarzer, die das Thema seit 40 Jahren dominiert,
können junge Frauen heute oft nicht mehr viel anfangen. Auch Anne Wizorek
fühlte sich eher von US-Feministinnen wie Jessica Valenti angesprochen.
Doch es ärgert sie, dass einige Medien getan haben, als gebe es einen
Konflikt zwischen ihr und Schwarzer. Tatsächlich kann sie sich durchaus
vorstellen, einmal mit der Emma-Chefin zusammenzuarbeiten.
Allerdings versteht sie sich als Teil einer neuen Generation von Frauen,
die ihre eigenen Schwerpunkte setzen. „Der Feminismus hat sich
weiterentwickelt seit Alice Schwarzers Zeit. Im Netz sind so viele Frauen
aktiv. Doch das wird nicht sichtbar gemacht.“
Aufmerksamkeit haben sich die Aktivistinnen jetzt ertrotzt. Wenn es gut
läuft, kann das Internet eine neue Chance für den Feminismus sein, meint
Anne Wizorek. Doch wie dauerhaft der Aufbruch sein wird, muss sich noch
zeigen, das weiß sie. „Mir war schnell klar: Wenn ich und die anderen
Frauen diese Plattform nicht nutzen, schläft die Diskussion gleich wieder
ein.“
## „Ein Gefüge, das ineinandergreift“
Erste, zarte Veränderungen zeichnen sich bereits ab. Bei der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes sind seit Januar deutlich mehr Fälle
sexueller Belästigung gemeldet worden. Offenbar hat der #aufschrei manche
Frauen ermutigt sich zu wehren. „Da ist ein Funke gezündet worden“, sagt
Anne Wizorek.
Online geht der Protest ohnehin weiter. Die Bloggerin Nicole von Horst hat
die Website [8][„Aufschreien gegen Sexismus“] eingerichtet, auf der Frauen
ihre Erlebnisse nun dauerhaft teilen können. Auch homophobe, klassistische
und rassistische Vorfälle sollen dort öffentlich gemacht werden. Für die
jungen Feministinnen gehört all das zusammen. „Es ist ja ein Gefüge, das
ineinandergreift“, sagt sie. „Man kann nicht das eine bekämpfen und das
andere ignorieren.“
Dann wird es allmählich Zeit. Anne Wizorek hat noch einiges vor sich. Sie
springt die Treppe herunter, ihre Freunde warten im Besprechungszimmer. Der
Schneefall hat nachgelassen. Wie es nun weitergeht, muss sie noch
überlegen. Ihr wurden Buchverträge angeboten, auch aus der Politik kamen
Anfragen.
Doch erst muss die Aufregung etwas abklingen. In ihrem Kopf hallen manche
der Tweets noch nach. Bestürzt hat sie vor allem, wie früh manche Mädchen
sexistische Erfahrungen machen. „Mir ist auch aufgefallen, wie wenig wir
als Frauen über das Thema sprechen.“ Einen ersten Aufschrei haben jetzt
viele gewagt, doch so, wie Anne Wizorek es sieht, ist das nur der Anfang.
Es gibt noch viel zu besprechen.
13 Feb 2013
## LINKS
[1] http://twitter.com/search?q=%23aufschrei
[2] http://kleinerdrei.org/2013/01/normal-ist-das-nicht/
[3] http://twitter.com/marthadear
[4] http://twitter.com/marthadear/status/294586884540223488
[5] http://www.annewizorek.de/
[6] http://www.annewizorek.de/
[7] http://feministing.com/
[8] http://alltagssexismus.de/
## AUTOREN
Gabriela M. Keller
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