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# taz.de -- Keimfreie Gesellschaft nach Brüderle: Das große Saubermachen
> Die Brüderle-Debatte liefert richtige Anstöße. Sie könnte allerdings in
> die falsche Richtung führen: zu einer lustlosen Gesellschaft.
Bild: Nackt. Ganz selbstverständlich. Ein längst nicht mehr alltägliches Bild
Nur mal so theoretisch: Könnte Rainer Brüderle eines Tages, in 50 oder erst
in 100 Jahren, zumindest in einer Alltagsgeschichte der Bundesrepublik des
frühen 21. Jahrhunderts eine Fußnote wert sein? Wird man ihn in den Quellen
finden, als Mann des politisch Machbaren erkennen, als Populisten,
Vereinfacher, Draufgänger in der Bütt? Möglich.
Gewiss ist nur, dass dieser FDP-Politiker der Antiheld einer
Stern-Geschichte wurde, in der er, Brüderle, die Figur des Übergreifenden
gab, eine Reporterin dagegen die tapfere Protokollantin eines Vorfalls an
einer Hotelbar im politischen Raum, wobei anscheinend nicht der Politiker
der ist, der seine Macht ausnutzt, sondern die junge Frau ihre Mittel
nutzte, um den alten Mann auflaufen zu lassen.
Sie beschwerte sich öffentlich über seine schlüpfrigen Sprüche und trat
damit – ausgerechnet durch den niemals um Jungfrauenfleischzeigelust
verlegenen Stern – eine Welle der Solidarisierung mit ihr los. Am Ende wird
ein weiteres Kapitel in der Debatte über Geschlechterdemokratie beendet
sein, und zwar zugunsten der Klägerinnen, der Frauen, der Opfer, wie man
früher gesagt hätte. Kein Mann, schon gar nicht einer aus den Generationen
der Brüderle-Nachgeborenen, wird sich mehr trauen, eine Journalistin, eine
Frau so jovial-mackerhaft anzugraben.
## Unmoralisch, unsittlich, unstatthaft
Das ist doch die Lektion, die das Publikum, das männliche wie weibliche,
gelernt hat: Halte Distanz, gehe im Geschlechtlich-Erotischen nie ein
Risiko ein – und wenn versehentlich oder bewusst-absichtslos doch etwas
passiert, dann musst du mit Konsequenzen rechnen. So zu agieren wie
Brüderle, das gehört ab sofort zum Unmoralischen, Unsittlichen und
Unstatthaften.
Das Problem ist nicht, dass das so sein wird, nach Lage der
Verhandlungsmoral, die der inzwischen emeritierte Sexualwissenschaftler
Gunter Schmidt als wichtigsten Charakterzug (nicht nur) heterosexueller
Liebesverhältnisse ausmachte. Ein Mann, der glaubt, sich der Frauen
bemächtigen zu können, wird wissen, dass das nicht geht – und weil er es
weiß, wird er ein schlechtes Gewissen haben. Wenigstens das wird gelernt
sein: Nur artige Jungs können bei Frauen landen. Gut so, klar so, okay so.
Das Problem ist: Was macht man, was macht frau mit all den rund um die Uhr
wabernden erotischen Fantasien, Wünschen, Anmaßungen, also Flirts,
Charmanzen und Flachsereien? Lebt Sexuelles im immer flüchtigen Moment
nicht dauernd von Andeutungen, von Zwiespältigkeiten?
Jede(r) wird sagen: Ja, das stimmt. Sexuelles, das so durchgeregelt ist wie
ein Autoverkehrsübungsplatz irgendwo in der Provinz, vollgestellt mit
Stoppschildern, Verbots- und Gebotsmahnungen, mit Symbolen für den
Kreisverkehr oder für die Autobahn, ist kein Sexuelles mehr. Alle
klassische Literatur, auch die weibliche, lebt von den sprachlosen Momenten
der Überwältigung.
Da aber niemand weiß, ob man die noch als Texte der Möglichkeiten lesen
darf, sind etwa Tragödien wie Frank Wedekinds „Lulu“ Stoff aus fast antiken
Zeiten. Ein alter Sack darf niemals eine junge Frau begehren – und wenn,
dann hat er gleich Verzichtsmoral in petto.
So ist das Dilemma unseres zum Mainstream in den Mittelschichten gewordenen
Vorstellungsvermögens: Irgendwo geht das männlich-weibliche
Geschlechterverhältnis von früher nicht mehr, aber das Austarierte, das
stets Beredete, weiß man doch, törnt ab. Man will ohne viel Geschnacke
schnackseln, im Übrigen, so hört man, die Frau den Mann. Aber weil alles so
unsicher ist, wird es mit dem Sex immer weniger. Sagen einschlägige
Untersuchungen: Alle vögeln weniger, nicht nur die Heteros, auch die Homos
– und überhaupt.
Für den österreichischen Philosophen Robert Pfaller ist das ein Zeichen der
Zeit. Weil niemand mehr triebhaft sein will, weil die Triebe so entfesseln
könnten, ziehe man sich zurück. Die Welt, so Pfaller, wird seit den frühen
Siebzigern immer reiner, porentief. Ausdrückliche Sexszenen sind in der
Primetime in den öffentlich-rechtlichen Sendern unerwünscht, dafür stehen
schon die Kirchen in den Rundfunkräten vor. FKK an Ostseestränden, zu
DDR-Zeiten noch üblich, findet die neue, etwa baden-württembergische
Kundschaft dort unschicklich und bittet um Textiles.
## Horrorlustanordnungen im „Tatort“
Man findet eine Fülle von Belegen, dass Sex wieder so bäh und igitt wird
oder schon ist wie in den prüden Fünfzigern. Da gab es noch den
Kuppelparagrafen, Schwules war verboten, und Heterosexuelles hieß noch
nicht so.
Schmuddelkram ist mehr und mehr getilgt. Es gibt fast keine „Tatort“-Folge
mehr, in der nicht von sexuellem Missbrauch, Traumabewältigung nach
sexuellem Unglück und Kinderprostitution die Rede ist. Man denkt: Diese
Krimis sind keine, sondern Horrorlustanordnungen, die mit der Realität gar
nichts gemein haben.
In Wahrheit sind all die Furtwänglers, Folkerts & Co. kaum mehr
Kommissarinnen, sondern Ermittlerinnen im moralischem Sumpf, an dessen Rand
ein Schild zu stehen scheint, auf dem es heißt: „Sex ist gefährlich. Bleibe
gesund!“ Die Mittelschichten haben es gern reinlich.
Es ist eine Not, ein Ordentlichkeitswahn, der allerdings nicht alle
Segmente des Gesellschaftlichen kontrollieren kann. Wer Explizites sehen
will, guckt Unterschichtsfernsehen oder geht gleich ins Internet.
Brüderle ist erledigt, die Geschlechterdemokratie mit allen Dos and Don’ts
geht in weitere Verhandlungen, Laura Himmelreich hatte ihren ersten
journalistischen Scoop gelandet. Aber ist es verboten, diesen Gesundheits-
und Sauberkeitswahn als furchterregend zu empfinden?
18 Feb 2013
## AUTOREN
Jan Feddersen
Jan Feddersen
## TAGS
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