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# taz.de -- Doppelmoral im Weltsport: Bei den eigenen Verbrechen wegsehen
> Für alle gleich geltende Regeln im Weltsport sind eine Illusion. Der
> politische Westen gibt den Ton an – und die, die das Geld geben.
Bild: Liberale Demokratien gegen Autokratien, gute Turniergastgeber gegen schle…
Es sollen fette Jahre werden für den Sport, richtig fette Jahre. Und eine
große Propagandashow für die USA. Vier Weltsportturniere finden in den
nächsten Jahren in den Vereinigten Staaten statt: die neu aufgeblähte
Klub-WM diesen Sommer, die [1][Männerfußball-WM 2026] mit Kanada und Mexiko
als Co-Gastgebern, Olympia in Los Angeles 2028 und wohl die
Frauenfußball-WM 2031. Es ist eine ungewöhnliche Konstellation mit
ungewöhnlichen Gewinnaussichten.
896 Millionen US-Dollar Preisgeld bei der WM, das ist doppelt so viel wie
die Rekordsumme von Katar 2022; bei der Klub-WM wird die Fifa für wenige
Wochen Fußball eine Milliarde Dollar ausschütten. Sportarten wie
Männerfußball, die an Wachstumsgrenzen stoßen, sehen im US-Markt eine
rettende Planke. Und noch etwas ist bemerkenswert: wie still es ist.
Menschenrechtsverletzungen sind kein Thema.
Die USA sind ein Gastgeber, der [2][Staaten mit völkerrechtswidriger
Annexion bedroht], Unliebsame deportieren lässt, die Wissenschafts- und
Protestfreiheit massiv eingeschränkt hat, Klimakrise und Überreichtum
gezielt vorantreibt und im [3][Gazastreifen] eine ethnische Säuberung
finanziert. Und es passiert: nichts. Kaum Boykottaufrufe, keine Proteste,
nicht mal Debatten. Die deutschen Weltmeister:innen der Menschenrechte
zucken mit den Achseln.
Stellen wir uns kurz vor, was in den Talkshows los wäre, wenn dieselben
Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld von vier(!) Großturnieren in China,
Russland oder Katar geschähen. Beim Bündnispartner mit zweierlei Maß zu
messen, hat im Sport eine lange Tradition. Die deutsche Totalverweigerung
von Empathie und Reflexion ist nicht neu. Neu ist die Dimension schierer
Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber dieser neuen Dimension heftigster
Verbrechen.
## Von US-Investoren abhängig
Auch selbst proklamierte Werte wurden schnell abgewickelt. Europas Sport
hat sich bemerkenswert rasch arrangiert mit dem dystopischen Techfaschismus
beim großen Bruder. Denn viele Klubs haben sich gerade seit der Pandemie
und dem [4][Ukrainekrieg] gefährlich von US-Investoren abhängig gemacht.
Fans indessen fokussieren sich auf die geplante [5][Fußball-WM in
Saudi-Arabien]. Dabei ist Trumps innenpolitischer Krieg gegen den
Liberalismus eigentlich ihr Thema: LGBT-Rechte, Migrant:innen,
Meinungsfreiheit.
Deutschlands Menschenrechtsdiskurs im Sport hat Länder nie objektiv
betrachtet; er war immer auch eine Erzählung moralischer Überlegenheit.
Liberale Demokratien gegen Autokratien, gute Turniergastgeber gegen
schlechte. Ein sehr deutsches Framing übrigens auch von Weltpolitik. In
einem globalen Ausbeutungssystem ist das völlig unterkomplex. Diese
Erzählung funktionierte im Sport, indem man die Stärken des eigenen
Blocks zum Goldstandard erhob: Mehrparteiensysteme, Meinungsfreiheit,
Minderheitenrechte.
Klassische Verbrechen von Gastgebern des reichen Nordens dagegen waren bei
der deren Beurteilung nicht relevant: Klimabilanz, Invasionen,
Überreichtum, Verbrechen beim Asyl, verwehrte Bewegungsfreiheit für das
globale Prekariat. Man hat lokale Verhältnisse thematisiert, nicht die
globalen. Der hauseigene Neofaschismus und immer brutalere nationale
Festungen aber haben diesen Glauben der Linksliberalen an ihre anständige
Heimat zerschellen lassen. Es bleibt Schweigen.
Es gibt zusätzlich eine juristische Komponente. Die Fälle Russland/Belarus
und USA/Israel lassen sich nicht vergleichen. Aber wenn dieselben
Weltsportverbände, die Russland und Belarus nach wenigen Tagen für die
völkerrechtswidrige Besatzung in der Ukraine sperrten, bei der
völkerrechtswidrigen Besatzung palästinensischer Gebiete, zumal bei
Verdacht auf Völkermord, systematisch wegsehen, läuft etwas dramatisch
schief.
## Sanktionen oft willkürlich
Das gilt übrigens auch für die Verantwortung der Vereinigten Arabischen
Emirate beim mutmaßlichen Völkermord im Sudan, für den sich arabische Fans
nicht ganz so erwärmen können wie für Gaza. Ein Recht, das nur nach
Gutdünken gilt, ist nichts wert. Und wenn niemand mehr daran glaubt, ist es
das Ende einer Ordnung. Dabei war die Idee gemeinsamer Regeln für den
Weltsport zunächst einmal fortschrittlich.
Ihre Fußfessel aber war stets, dass Menschenrechte im Sport kein
Justizinstrument sind – sie sind ein geopolitisches Instrument. Bis heute
gibt es keine transparenten Kriterien für politische Sanktionen.
Weltverbände beschließen sie willkürlich und meist unter hohem politischem
Druck, denn sie selbst haben gar kein wirtschaftliches Interesse an
Ausschlüssen. Es gibt auch keine freie Gerichtsbarkeit, an die ein
sanktionierter Verband sich wenden kann – der Sportgerichtshof CAS ist
finanziell und personell stark von den Verbänden abhängig.
Und fast immer hat sich bei Ausschlüssen der politische Westen
durchgesetzt. Heftig mit Sperren sanktioniert wurden etwa die Mittelmächte
nach dem Ersten Weltkrieg. Eine zweite Sanktionswelle ging gegen die
Achsenmächte nach dem Zweiten Weltkrieg, eine dritte gegen die US-Gegner im
Vietnamkrieg. Dahinter steht ein imperiales Verständnis von Kriegsschuld;
Krieg entsteht demnach nicht durch Block-Konkurrenz, sondern durch den
Gegner.
Und strafbar sind jene Kriege, die den transatlantischen Block bedrohen.
Diese Kontinuität reicht bis zum Ukrainekrieg. Keine westliche Invasion im
Globalen Süden, keine Annexion und kein kolonialer Völkermord wurden im
Sport je bestraft. Es ist ein Recht für manche, nicht für alle. Diese
Ordnung musste scheitern. Je multipolarer die Welt wurde, umso weniger
waren drastische Maßnahmen möglich.
## Wachsender Einfluss der Autokraten
Der Strafausschluss Indonesiens in den 1960ern etwa, nachdem Präsident
Sukarno ein kurzlebiges antikoloniales Olympia gegründet hatte, wäre heute
nicht mehr durchsetzbar. Formate wie die BRICS Games, die Islamic
Solidarity Games oder die vom Trump-Clan finanzierten Enhanced Games
konkurrieren mit der alten Sportwelt; auf einem Nebenplatz – vorerst. Die
Macht im Sport ist diverser geworden. Zugleich haben Autokraten massiv an
Einfluss gewonnen.
Dieses Missverständnis – den einen Weltbürger:innen ging es um
Teilhabe, den anderen um Ausschluss von Autokratien – bildete einen
Kernkonflikt des letzten Sportjahrzehnts. Und die teils hysterischen
Proteste gegen die Katar-WM waren womöglich der Moment, in dem der Rest der
Welt die Erzählung von Menschenrechten nicht mehr glaubte: einem Europa,
das sich für Katars Migrant:innen ereiferte, während es die eigenen
ertrinken ließ. Katar und Gaza.
Die völlig überschätzte Teilisolation Russlands war das letzte Hurra dieser
Herrschaft. Mit der auch sportlichen Annäherung der USA an Russland beginnt
eine Ära wechselnder Bündnisse. Es wird für Großmächte darin schwerer
werden, ihre Sanktionsvorstellungen durchzusetzen; denkbar sind eher
Pattsituationen. Die neue IOC-Präsidentin [6][Kirsty Coventry] hat direkt
nach ihrer Wahl angekündigt, sie sei gegen Ausschlüsse. Dabei ging einst
ein kurzes Fenster der Möglichkeiten für eine echte Vision auf, als neue
Staaten dazustießen.
Die frisch gegründeten afrikanischen Staaten erwirkten in den 1960ern einen
langjährigen Sportausschluss Apartheid-Südafrikas. Er gilt als einer der
wenigen wirksamen Boykotte in der Sportgeschichte, unter anderem weil er
langfristig, konsequent und nicht blockpolitisch motiviert war. Letztlich
aber setzen sich fast überall Autokraten, Diktatoren und Islamisten durch.
Eine Vision für den Sport findet sich nirgends mehr.
## Sanktionen haben selten Erfolg
Doch wie ließe sich wirklich etwas verändern? Die meisten Boykotte im Sport
haben eine schlechte Bilanz. Oft ging es Staaten, Fans oder
Sportler:innen eher darum, Haltung zu demonstrieren, nach innen oder
nach außen. Denn um substanziell etwas zu verändern, muss es eines geben:
Zusammenarbeit. Anders gesagt: Ein Turnier muss stattfinden. Wie
erfolgreiche Kämpfe funktionieren, zeigte sich ausgerechnet in [7][Katar].
Mit langem Atem der Fans, stetigen Recherchen, Druck durch NGOs und
Protesten hat Europa echte punktuelle Verbesserungen für Migrant:innen
erkämpft, darunter auch Gesetzesänderungen. Gerade die sind wichtig, weil
Menschen sich später darauf berufen können. Auch die US-Regierung ließe
sich im Scheinwerferlicht durchaus unter Druck setzen. Etwa mit einer
Kampagne, die ein sofortiges Ende der Massaker und eine gerechte Lösung für
den Gazastreifen forderte.
Oder verbindliche Teilhabe von trans Frauen. Oder die sofortige Aussetzung
von [8][Deportationen illegalisierter Menschen]. Ein Sportturnier wird und
darf keine Gesellschaft umkrempeln, durchaus jedoch kann eine Kampagne
wirken. Doch bei Menschenrechten ging es nie um Menschen. Jedenfalls nicht
um alle. Das ist die wahre Tragik. Ein völliger Ausschluss von Staaten
übrigens kann helfen, aber nur, wenn einzelne Staaten tatsächlich eine
akzeptierte Regel brechen.
Gegen Afghanistans Frauensportverbot etwa sind Sanktionen überfällig. Viele
Formen staatlicher Aggression dagegen sind im Kapitalismus die Regel. Für
wen etwa Besatzung oder Invasion ernsthaft Kriterien sind, der müsste
derzeit eine lange Liste von Verbänden sperren. Gewalt ist systemisch. Der
Glaube an zähmbare Staaten war der große Fehler der „regelbasierten
Ordnung“. Der Sport muss viel globaler denken. Klimakatastrophe,
eskalierende Ungleichheit, religiöser Faschismus oder die Festungen des
Wohlstands bedürfen globaler Kämpfe.
Dafür ist ganz zentral, die Weltsportverbände und ihre Sponsoren zu
demokratisieren. Die autokratische Wirtschaft war vielleicht der
folgenschwerste Fehler des liberalen Zeitalters. Und womöglich sein
Sargnagel. In Konzernen, wo man Mächtige nicht abwählen kann und nicht
mitbestimmt, wohin Gewinne fließen, ist Gemeininteresse nicht durchsetzbar.
Das gilt auch für Sportevents.
Überfällig sind auch Arbeitsgruppen, die sich mit einem Postwachstumssport
auseinandersetzen, mit der Niederschlagung der Oligarchie, statt die großen
Leitbahnen den Reichen zu überlassen. Zu erwarten ist nichts davon.
26 May 2025
## LINKS
[1] /Fifa-Chef-Infantino-und-Donald-Trump/!6084719
[2] /US-Interessen-in-Groenland/!6059068
[3] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[4] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[5] /WM-2034-in-Saudi-Arabien/!6054067
[6] /Wahlsiegerin-Kirsty-Coventry/!6077145
[7] /Menschenrechtsaktivistin-ueber-Fussball-WM/!6055005
[8] /Abschiebung-nach-El-Salvador/!6080678
## AUTOREN
Alina Schwermer
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Sport
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Schwerpunkt USA unter Trump
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