| # taz.de -- Ziviler Ungehorsam der Klimabewegung: Demokratisch ungehorsam | |
| > Der vehemente Protest der jungen Generation ist angesichts des | |
| > Klimanotstands nachvollziehbar. Er sollte nicht billig abgetan werden. | |
| Bild: Aus Notwehr festgeklebt: Protest der „letzten Generation“ vor dem Bra… | |
| In einem selbst veröffentlichten Video spricht Klimaaktivistin [1][Luisa | |
| Neubauer] offensichtlich witzelnd über ihre Bemühungen, den Bau einer | |
| Ölpipeline zu verhindern, und hält dabei ein Buch mit dem Titel „Wie man | |
| eine Pipeline in die Luft jagt“ ins Bild. In einer Stellungnahme versichert | |
| sie: „Wir sprechen mit der französischen Regierung, mit möglichen | |
| Investoren und Versicherern der Pipeline und mobilisieren über soziale | |
| Netzwerke, damit diese Klimakiller-Pipeline niemals gebaut, sondern endlich | |
| abgeblasen wird.“ | |
| Trotzdem rücken sie Teile der politischen Elite im Chor mit der | |
| Bild-Zeitung in eine Ecke mit Terroristen. Die vehemente Form des | |
| [2][Auftretens von Klimaschützern] darf allerdings deren politisches | |
| Engagement nicht abqualifizieren, in einem demokratischen Dialog schließen | |
| sich vielmehr drei Fragen an: Ist die Inszenierung von radikalen Protesten | |
| gegen unterlassenen Klimaschutz als Notwehr inhaltlich nachvollziehbar, ist | |
| sie demokratisch legitim, und ist sie geeignet, Klimaschutz zu verbessern | |
| und zu beschleunigen? | |
| Um die Jahrtausendwende geborene Menschen erleben, dass die von der | |
| Forschung nachgewiesenen „Kipppunkte des Erdsystems“ in nicht allzu ferner | |
| Zukunft, also in ihrer Lebenszeit, eintreten können und dann in der | |
| ebenfalls wissenschaftlich plausibilisierten Kumulation in eine globale | |
| Katastrophe führen würden, wobei das Überleben der Spezies Mensch aufs | |
| Spiel gesetzt wäre. Die [3][Selbstbezeichnung mancher Klimaaktivisten] als | |
| „letzte Generation“ etwa verweist auf eine reale Gefährdung. | |
| Nachvollziehbar ist sie auch angesichts der bis dato insgesamt kaum | |
| erfolgten Verlangsamung der Erderwärmung oder des Artensterbens. Es ist die | |
| Eigenart und das gute Recht von Jugend(protesten), erkannte Missstände in | |
| aller Deutlichkeit, mit drastischen Übertreibungen und performativen | |
| Schocks herauszustellen. | |
| Ein historisches Beispiel mag das illustrieren: Die außerparlamentarische | |
| Protestbewegung gegen die Notstandsgesetzgebung in den 1960er Jahren malte | |
| eine Faschisierung des politischen Systems der Bundesrepublik an die Wand, | |
| deren Eintrittswahrscheinlichkeit gering war. Dass die Befürchtungen nicht | |
| eintraten, machte den Protest nicht nutzlos. Denn er verwies auf | |
| überkommene autoritäre Strukturen und trug zur Herausbildung einer | |
| selbstbewussten Zivilgesellschaft bei. Die bedauerliche Kehrseite war die | |
| Radikalisierung einer Minderheit der außerparlamentarischen Opposition. | |
| Deren Frontalangriffe waren demokratisch nicht legitim, was ebenso für | |
| heutige militante Aktionen gelten kann. | |
| War damals die unzulässige Ausrufung eines Notstands der Protestanlass, ist | |
| es bei der „letzten Generation“ die Unterlassung der Ausrufung des | |
| Klimanotstands. Wenn diese Prämisse stimmt und auch eine grüne | |
| Regierungsbeteiligung an der Sachlage wenig ändert, ist dann nicht ziviler | |
| Ungehorsam gerechtfertigt? Dieser ist im Sinne seiner Verfechter von Henry | |
| David Thoreau über Martin Luther King bis Gene Sharp grundsätzlich | |
| friedlicher Natur, beinhaltet aber kontrollierte, der breiten | |
| Öffentlichkeit gut kommunizierte Regelverletzungen. | |
| So gut wie kein demokratisches Recht, etwa das Wahlrecht von Frauen, ist | |
| ohne symbolische und faktische Regelverletzungen durchgesetzt worden. | |
| Insofern ist ziviler Ungehorsam Teil und nicht Gegenteil von Demokratie, | |
| seine Verfechter in die Nähe von Antidemokraten zu rücken ist absolut | |
| verfehlt. Man darf nämlich sagen, dass das Auftreten zivilen Ungehorsams | |
| auf demokratische Defizite und Repräsentationslücken verweist, die es | |
| ohnehin zu schließen gälte. Die sinkende Wahlbeteiligung in vielen (nicht | |
| mehr so) repräsentativen Demokratien kann auch nicht mehr durch business as | |
| usual behoben werden, neue Formen der Bürgerbeteiligung müssen gefunden | |
| werden. | |
| Die große aktuelle Herausforderung demokratischer Gesellschaften ist die | |
| rasante Verknappung der Zeitspanne, in der der Klimawandel noch einzudämmen | |
| sein wird. Demokratien kaufen üblicherweise Zeit, um Kompromisse zu | |
| schließen; doch genau dem schiebt nun die Physik des Erdsystems einen | |
| mächtigen Riegel vor. Große Eile ist geboten! Nicht legitimierbar sind | |
| diverse Sabotageakte, die zwar nicht von Neubauer, sehr wohl aber von | |
| einigen Sprechern der „letzten Generation“ offen befürwortet werden, weil | |
| die damit verbundenen Risiken für die Allgemeinheit unüberschaubar sind. | |
| Wichtiger noch, sind solche Akte auch ungeeignet, das deklarierte Ziel des | |
| Klima- und Artenschutzes voranzutreiben. | |
| In der Rhetorik der „letzten Generation“ und von Extinction Rebellion, | |
| allgemein in der Argumentation von „Kollapsologen“, die das Ende der | |
| Menschheit für beschlossene Sache erklären, sind Vorkehrungen der | |
| Mitigation und Adaptation bereits überflüssig. Da ist es ein Widerspruch, | |
| sich gleichwohl an politische Repräsentanten zu wenden. Aus dem begründeten | |
| und ethisch legitimen Protestschrei der „letzten Generation“ würde dann ein | |
| „Nach mir die Sintflut“ – eine ganz paradoxe Haltung für eine | |
| Alterskohorte, deren Anliegen lange ignoriert wurden. Die von | |
| Klimaaktivisten geforderten Maßnahmen von der Agrarwende bis zur | |
| Verkehrswende sind allesamt gut zu begründen und bei entsprechend | |
| veränderter Prioritätensetzung technisch wie finanziell machbar. | |
| Die politischen Eliten sollten sich hüten, mit der Kritik am „unpassenden“ | |
| Auftreten radikaler Protestgruppen deren Zielsetzungen zu desavouieren – | |
| und erst recht, sie als radikale Minderheiten abzuwerten, deren Forderungen | |
| von den „Menschen draußen im Lande“ nicht geteilt würden. Die Zustimmung … | |
| engagierterem Klima- und Artenschutz ist bekanntlich sehr breit. Die Frage | |
| an die vehementen Klimaaktivisten lautet also, ob sie diese Unterstützung | |
| nutzen oder sie durch ungeeignete Protestaktionen aufs Spiel setzen wollen. | |
| Die Forderung an die politischen Repräsentanten lautet dann, die | |
| existenziellen Motive der Protestbewegung zu erkennen und sie nicht als | |
| Kinderkram oder „grüne RAF“ zu denunzieren, sondern auch dem eigenen | |
| politischen Handeln zugrunde zu legen. | |
| 19 Jun 2022 | |
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