# taz.de -- Zerstörter Staudamm in der Ukraine: Land unter | |
> Die Sprengung des Kachowka-Staudamms fällt zusammen mit dem erwarteten | |
> Start der ukrainischen Offensive gegen Russland. Die Folgen sind | |
> unabsehbar. | |
Bild: Flut als Kriegswaffe? Der Kachowka-Damm ist kollabiert | |
BERLIN taz | Für den 6. Juni 2023 hatte es in der Ukraine eigentlich | |
besonders hohe Erwartungen gegeben. Der Jahrestag der D-Day-Landungen von | |
1944, als die westlichen Weltkriegsalliierten in der Normandie die zweite | |
Front zum Sieg gegen Nazideutschland eröffneten, galt als ein mögliches | |
Datum für den Beginn der seit Monaten erwarteten ukrainischen Großoffensive | |
zur Beendigung der russischen Besetzung. | |
Am 5. Juni gingen ukrainische Einheiten an mehreren Frontabschnitten im | |
Gebiet Donezk bereits zum Angriff über. Sie eroberten nahe der seit vielen | |
Monaten umkämpften Stadt Bachmut Gebiete zurück, und an der südlichen Front | |
in Richtung Mariupol durchbrachen sie mit Spähpanzern eine russische | |
Verteidigungslinie, rückten mehrere Kilometer tief in russisch besetztes | |
Gebiet vor und nahmen mehrere Ortschaften ein. „Dies könnte der Beginn des | |
Tages aller Tage sein“, twitterte der ukrainische Militärjournalist Ilia | |
Ponomarenko am Abend in Vorfreude. | |
Mitten in der Nacht ging es tatsächlich los – aber anders. Der russisch | |
besetzte gigantische Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro brach zusammen, | |
höchstwahrscheinlich als Ergebnis einer Sprengung. Seitdem ergießen sich | |
riesige Wassermassen flussabwärts Richtung der Großstadt Cherson, die nun | |
unter Wasser gesetzt wird. Eines der Horrorszenarien, die seit Kriegsbeginn | |
im Februar 2022 als ultimative Eskalationsstufe des russischen | |
Angriffskrieges befürchtet werden, droht Wirklichkeit zu werden, eine | |
gigantische ökologische Katastrophe ist bereits sicher. | |
„Eines der größten Kriegsverbrechen und unserer Zeit und ein Terrorakt“, | |
kommentierte Ilia Ponomarenko das jetzt. Aus seiner Sicht will Russland mit | |
der Sprengung des Dammes die ukrainische Armee daran hindern, den Dnipro | |
vom ukrainisch kontrollierten Nordufer auf den russisch besetzten Süden zu | |
überqueren – ein denkbares Kernelement einer umfassenden Gegenoffensive, | |
um Russlands Armee aus dem Süden der Ukraine zu verjagen. Ähnlich | |
analysierten das später offizielle ukrainische Stellen und westliche | |
Militärbeobachter. | |
## Zerstörung der Ernte | |
„Es ist nicht ihr Land, also plündern, zerstören und überfluten sie es | |
lieber und lassen kein Haus intakt. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die | |
Ukraine sich von den Barbaren erholt“, schrieb Ponomarenko. Der ukrainische | |
Regierungsberater Anton Geraschtschenko wies darauf hin, dass die Fluten | |
auch wichtige landwirtschaftliche Gebiete der Ukraine unter Wasser setzen | |
und die bevorstehende Ernte zerstören. „Der Süden der Ukraine ist eines der | |
wichtigsten Agrargebiete der Welt“, schrieb er. „Die Zerstörung des | |
Kraftwerks wird das Land fluten, die Bewässerungssysteme zerstören – als | |
Ergebnis werden weniger Lebensmittel angebaut und exportiert und die | |
globale Ernährungskrise wird sich verschärfen. Russland wird die Welt | |
weiter mit [1][Lebensmittelterrorismus] erpressen.“ | |
Der Kachowka-Damm ist ein gewaltiges Betonbauwerk aus den 1950er Jahren, 30 | |
Meter hoch und 3,2 Kilometer breit, Teil von Stalins ambitioniertem | |
Wiederaufbau- und Industrialisierungsprogramm für die Sowjetunion nach dem | |
Zweiten Weltkrieg. Die Talsperre gehört zu dem gleichnamigen | |
Wasserkraftwerk mit einer Kapazität von 357 Megawatt. Gut 80 Kilometer | |
flussaufwärts von der Hafenstadt Cherson staut sie den Dnipro auf einer | |
Länge von 240 Kilometern auf, der Stausee dahinter ist 2155 | |
Quadratkilometer groß und enthält, wenn er voll ist, rund 18,2 | |
Kubikkilometer Wasser. Das ist im Vergleich nicht viel – der [2][Bodensee] | |
enthält 48 Kubikkilometer, weil er sehr viel tiefer ist – aber mehr als | |
genug, um eine gigantische Katastrophe anzurichten, wenn das Wasser sich | |
unkontrolliert Richtung Cherson ergießen kann. | |
Das Tal am Unterlauf des Dnipro im Süden der Ukraine selbst ist zum Glück | |
recht breit, sodass sich die Wassermassen einigermaßen verteilen können. | |
Bereits kurz nach dem gebrochenen Damm weitet es sich auf 4 Kilometer, bei | |
Cherson sogar 6 Kilometer. Am flachsten und breitesten ist das Tal am | |
östlichen beziehungsweise südlichen Ufer, das Russland besetzt hält. Es | |
entsteht nun durch die Flut ein gigantischer neuer See, der die Ukraine auf | |
Abstand hält, eine neue Verteidigungslinie für die russischen Angreifer aus | |
Wasser. | |
Die Talsperre von Kachowka ist noch aus anderen Gründen von zentraler | |
militärstrategischer Bedeutung. Zum einen [3][liegt das russisch besetzte | |
Atomkraftwerk Saporischschja] rund 150 Kilometer flussaufwärts von Kachowka | |
direkt am Stausee. Es wird daraus mit Kühlwasser versorgt. Wenn der | |
Wasserstand sinkt, könnte das die Kühlung gefährden. Noch geht die | |
UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA allerdings davon aus, dass es für die Kühlung | |
des AKWs ausreichend Wasser gibt, da es auch bei einem Absenken des | |
Wasserpegels im See über eigene Reserven verfügt. | |
## Lebensader des Nord-Krim-Kanals | |
Zum anderen speist der Stausee den Nord-Krim-Kanal, der seit den 1950er | |
Jahren Wasser aus dem Dnipro auf die mit eigenen Wasservorräten | |
unterversorgte Krim bringt. Nach der russischen Besetzung und Annexion der | |
Krim 2014 hatte die Ukraine diesen Kanal gesperrt. Als am 24. Februar 2022 | |
der russische Großangriff auf die Ukraine begann, gehörte Nowa Kachowka | |
nicht von ungefähr zu den ersten Angriffszielen. Die russischen Soldaten, | |
die blitzartig aus der Krim nach Norden bis an den Dnipro vorstießen, | |
besetzten Nowa Kachowka bereits am selben Nachmittag. Der Krimkanal wurde | |
umgehend wieder geöffnet. In den Tagen darauf überquerte das russische | |
Militär auch an anderen Stellen den Fluss und nahm unter anderem die | |
Großstadt Cherson ein. | |
Als die Ukraine im Herbst 2022 mit der Rückeroberung dieser Gebiete begann, | |
wurde die Wasserkraftanlage Kachowka zum russischen Faustpfand. Ukrainische | |
Präzisionsschläge, um die Nachschubwege der russischen Armee auf das | |
nördliche Dniproufer zu unterbrechen, trafen auch die Straßenbrücke auf dem | |
Damm. Die Ukraine und Russland warfen sich gegenseitig vor, die Sprengung | |
der Talsperre zu planen, um die Stadt Cherson unter Wasser zu setzen. | |
„Russische Terroristen“ hätten den Damm „vermint“, um ihn sprengen und | |
damit eine Katastrophe anrichten zu können, warnte der ukrainische | |
Präsident Wolodimir Selenski am 20. Oktober 2022 in einer Videoansprache | |
vor den Staats- und Regierungschefs der EU. | |
Nachdem sich Russland im November schließlich aus Cherson zurückzog, soll | |
es mit kontrollierten Sprengungen den Damm beschädigt haben, um die Ukraine | |
daran zu hindern, auf ihm den Fluss nach Süden zu überqueren. Anders als | |
mehrfach angekündigt, räumten die russischen Truppen den Ort Nowa Kachowska | |
damals aber nicht. Sie behalten bis heute die Kontrolle über den Ort und | |
damit auch die Kontrolle über Kraftwerk und Damm. | |
Je konkreter in den vergangenen Monaten die Vorbereitung der ukrainischen | |
Gegenoffensive wurde, desto konkreter wurde auch die Sorge, was Russland | |
mit dem Kachowka-Damm anstellen könnte. Monatelang war der Wasserpegel im | |
Stausee gesunken, auf nur noch knapp über 14 Meter im Februar statt der | |
üblichen rund 16 Meter. Dann ließen die russischen Besatzer ihn offenbar | |
wieder abrupt steigen. Mitte Mai wurde ein Pegelstand von bis zu 17,5 | |
Metern gemessen, der See lief zeitweise sogar über. Der Wasserdruck auf die | |
Staumauer könnte dadurch größer geworden sein, als er sein darf. Selbst | |
wenn dies und nicht eine Sprengung der Hauptgrund für den Dammbruch sein | |
sollte, wären dafür die zuständigen russischen Stellen verantwortlich. | |
## Historisches Vorbild | |
Gegen Überdruck und technische Probleme als Ursache für den Dammbruch | |
sprechen allerdings die übereinstimmenden Berichte über eine gewaltige | |
Explosion in der Nacht, ebenso die am Dienstag verbreiteten Bilder von dem | |
zerstörten Damm. „Seit über einem Jahr kontrolliert Russland den Damm und | |
das Kraftwerk Kachowka“, erklärte Selenski am Dienstagnachmittag. „Es ist | |
physisch unmöglich, ihn irgendwie von außen zu sprengen durch Beschuss. Er | |
wurde von den russischen Besatzern vermint. Und sie haben ihn gesprengt.“ | |
Er spricht vom „größten menschengemachten Umweltdesaster in Europa seit | |
Jahrzehnten“. | |
Die Zerstörung des Staudamms hat ein historisches Vorbild. 1941 sprengte | |
die Rote Armee den Damm des Saporischschja-Stausees, um die herannahenden | |
Truppen der nationalsozialistischen Wehrmacht am weiteren Vordringen zu | |
hindern. Eine mehrere Meter hohe Flutwelle soll sich damals durch das Tal | |
des Dnipro ergossen haben, mehrere Zehntausend Menschen kamen ums Leben, | |
laut einigen Quellen waren es sogar mehr als 100.000 Opfer, obwohl der | |
Saporischschja-See wesentlich weniger Wasser enthält als der nun betroffene | |
Kachowkaer Stausee. Die Deutschen bauten den Damm wieder auf, nur um ihn | |
1943 erneut zu zerstören, um die zurückdrängende Armee der Sowjetunion | |
aufzuhalten. | |
6 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Getreide-aus-Ukraine-entwendet/!5915401 | |
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[3] /Lage-am-AKW-Saporischschja/!5930075 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
Gereon Asmuth | |
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