# taz.de -- Wohnungslose Frauen in Deutschland: Durch das System gefallen | |
> Frauen ohne Wohnung, wie Doris, sind kaum sichtbar. Zu ihrer | |
> Unterstützung gibt es neue Projekte und damit Hoffnung – zumindest für | |
> einige. | |
Bild: Im Gemeinschaftsraum der Berliner Unterkunft für wohnungslose Frauen „… | |
BERLIN taz | Wenn Doris die Friedrichstraße entlang läuft, könnte man sie | |
für eine Touristin halten. Schwarze Kleidung, die Sonnenbrille in die | |
dunkelbraun getönten Haare gesteckt und die linke Hand fest um ihren | |
Rucksack geklammert. Doch Doris ist keine Touristin, sie lebt seit 25 | |
Jahren in Berlin – [1][seit vier Jahren ohne Wohnung]. | |
Doris heißt in Wirklichkeit anders, sie möchte ihren Namen nicht in der | |
Zeitung lesen, er ist der Redaktion bekannt. Fast jeden Tag läuft Doris | |
über die Friedrichstraße zur Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor. | |
Dort kann sie sich je nach Wetterlage im klimatisierten Gebäude oder auf | |
der Wiese davor ausruhen. „Im Gegensatz zu öffentlich Parks gibt es hier | |
Security, die aufpasst, dass man nicht beklaut wird“, sagt sie, als wir uns | |
in einem Café in der Nähe verabreden. Zwischen den ganzen Tourist*innen | |
fällt sie auf der Bibliothekswiese nicht auf: „Wenigstens am Tag möchte ich | |
nicht wohnungslos sein.“ Und wie Doris da so sitzt und einen Schluck von | |
ihrem Kaffee nimmt, würde das auch niemand denken. | |
Doris, 49 Jahre alt, ist eine von 68.000 wohnungslosen Frauen (geflüchtete | |
Frauen nicht eingerechnet) in Deutschland. Die Zahl ist eine Schätzung der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) für das Jahr | |
2017, [2][die kürzlich veröffentlicht wurde]. Wie viele Menschen in | |
Deutschland wirklich ohne einen festen Wohnsitz leben, weiß niemand. | |
Es gibt Schätzungen, doch die Dunkelziffer ist groß. Wohnungslosigkeit wird | |
meist als männliches Problem gesehen, doch rund 30 Prozent aller | |
Wohnungslosen in Deutschland sind weiblich. Da sie im Straßenbild nicht so | |
stark sichtbar sind, verschwinden sie aus der Wahrnehmung der Gesellschaft. | |
„Die Menschen, die wir auf der Straße sehen, sind nur die Spitze des | |
Eisbergs“, sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG Wohnungshilfe. | |
Für Frauen ist das Leben auf der Straße besonders gefährlich. Viele würden | |
auf der Straße Opfer von Raub, Gewalt und sexueller Nötigung, so Rosenke. | |
Um nicht auf der Straße zu landen, kommen viele wohnungslose Frauen erst | |
einmal bei Bekannten unter. „ Doch wenn das nicht mehr funktioniert, gehen | |
sie unter Umständen Zweckbeziehungen mit Männern ein“, sagt Rosenke. | |
Eigentlich muss jede einzelne Kommune dafür sorgen, dass alle Menschen in | |
Deutschland ein Dach über dem Kopf haben. „Auch Obdachlosenunterkünfte sind | |
nicht unbedingt sichere Orte, und geschlechtergemischte Unterkünfte bieten | |
häufig keinen Zufluchtsort für Frauen“, sagt Rosenke. Unterkünfte | |
ausschließlich für Frauen sind in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. | |
## Tüten und Rucksäcke | |
Um 18 Uhr ist es an einem Abend Ende Juli [3][in der Notunterkunft für | |
Frauen „Evas Obdach“] noch ruhig. Eine studentische Aushilfe bereitet in | |
der Küche das Abendessen vor. In jedem Zimmer stehen drei oder vier | |
Stockbetten, dazwischen Schlafsäcke, Plastiktüten und Rucksäcke der Frauen, | |
die zurzeit hier übernachten. Die Unterkunft vom Sozialdienst katholischer | |
Frauen befindet sich neben der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin-Mitte. | |
Nadine Thomé, eine der Leiterinnen, sieht die Notunterkunft als Sprungbrett | |
ins Hilfesystem: „Der Vorteil für die Frauen ist, dass es sehr | |
niedrigschwellig ist, bei uns aufgenommen zu werden. Es gibt keine | |
Hinderungsgründe oder bürokratisches Prozedere.“ Geöffnet ab 19 Uhr, 22 | |
Schlafplätze für die Nacht, Abendessen und Frühstück sowie Begleitung von | |
Sozialarbeiterinnen bieten sie an. Für die Frauen ist die Unterkunft | |
kostenlos, ein Großteil zahlt der Senat, den Rest der Träger. Doch die | |
Plätze reichen nicht aus, 758 Frauen musste Evas Obdach im Jahr 2018 | |
abweisen. | |
Wenige Stunden später sitzen die Frauen im Gemeinschaftsraum und essen, es | |
gibt Nudelauflauf und Salat, andere haben sich auf die Zimmer zurückgezogen | |
oder handeln aus, wer zuerst duschen oder Wäsche waschen darf. Eine der | |
Frauen ist zum ersten Mal bei Evas Obdach, andere kommen seit Jahren immer | |
wieder. Gesprochen wird über die Erlebnisse am Tag, über den Besuch beim | |
Jobcenter oder das Wetter. | |
Keine von ihnen entspricht dem stereotypen Aussehen einer wohnungslosen | |
Frau, im Gegenteil. Goldene Armbänder klirren beim Essen an die Teller. Die | |
Gesichter sind stark geschminkt, die Klamotten und Haare sauber. „Vielen | |
sieht man die missliche Lage nicht an, doch alle haben schlechte | |
Erfahrungen gemacht und viele der Frauen befinden sich in psychischen | |
Krisen oder leiden unter psychischen Erkrankungen“, sagt Thomé. | |
## Antrag auf Hartz IV nie bearbeitet | |
Auch Doris sitzt an diesem Abend bei Evas Obdach alleine an einem Tisch in | |
der Ecke des Gemeinschaftsraumes. Sie liest einen Krimi und isst ihr | |
selbstgekochtes veganes Essen. Seit Februar kommt Doris immer wieder hier | |
her, es ist ein Ort, an dem sie sich sicher fühlt. „Eigentlich dürfen die | |
Frauen höchstens 14 Tage bei uns übernachten, doch häufig braucht der | |
Hilfeprozess deutlich länger. Wenn eine Frau bei uns in der Sozialberatung | |
ist, verlängern wir auch den Aufenthalt“, sagt Thomé. So auch bei Doris. | |
Als wir uns wenige Tage später in einem Café am Halleschen Tor treffen, ist | |
Doris müde. Sie konnte wegen eines strengen Geruchs im Zimmer nicht | |
schlafen, eine Frau hatte sich eingenässt. „Eigentlich passiert jede Nacht | |
irgendetwas, eine Frau schreit, weil sie Albträume hat, oder fängt an zu | |
kochen.“ Beschweren will sie sich trotzdem nicht: „Ich bin froh, ein Dach | |
über dem Kopf zu haben.“ | |
Doris hat lange Zeit als Pflegerin gearbeitet und mit ihren zwei Kindern in | |
einer kleinen Wohnung im Norden Berlins gewohnt. Doch der Job wurde für sie | |
immer schwerer. „Ich habe zu viel Ballast mit nach Hause genommen“, erzählt | |
sie. Zuletzt arbeitete sie als Einzelbetreuerin, doch die Beziehung zu | |
ihrer Betreuungsperson verschlechterte sich, bis Doris von ihr unerwartet | |
gekündigt wurde. Ihr Antrag auf Hartz IV wurde nie bearbeitet, das Amt | |
teilte ihr mit, dass ihr Antrag nie eingegangen sei. „Ich habe aber auch | |
nur einmal beim Amt nachgefragt und es dann gelassen.“ Doris hatte kein | |
Geld, konnte ihre Miete nicht mehr zahlen bis ihre Wohnung im Dezember 2015 | |
zwangsgeräumt wurde. „Ich weiß nicht, was damals mit mir los war. Viele | |
sagen heute zu mir, dass ich wohl einen Burn-out hatte“, sagt sie. Es war | |
der Beginn ihres Lebens in der Wohnungslosigkeit. | |
## Leben in verdeckter Obdachlosigkeit | |
Zunächst kam sie bei ihren erwachsenen Kindern unter, doch als das nicht | |
mehr ging, versteckte sie sich in einem Laden von Bekannten im Norden | |
Berlins, in dem sie ehrenamtlich gearbeitet hatte. Sie lebte in verdeckter | |
Obdachlosigkeit, versteckte ihre Dinge hinter einem Regal und schlief dort | |
auch nachts. Wenn sie einmal nicht die Letzte im Laden war, lief sie | |
stundenlang durch die Straßen – ohne eine Minute Schlaf. | |
Dass sie wohnungslos ist, wusste dort keiner. Drei Jahre lang lebte sie | |
ohne Geld und Krankenversicherung, ernährte sich von Essen aus dem | |
Foodsharing-Regal. Eine Frau, die durch das System gefallen ist. Anfang | |
2019 musste der Laden schließen, und auf der Straße zu übernachten, kam | |
nicht in Frage. | |
„Das war für mich der Moment, wo ich wusste: Ich muss mir Hilfe holen“, | |
sagt sie. So kam Doris zu Evas Obdach. Seitdem ist sie beim Amt gemeldet, | |
bezieht Hartz IV und hat wieder eine Krankenversicherung. Eine Wohnung | |
fehlt ihr noch immer. Im Frühjahr hatte sie kurzzeitig einen Schlafplatz in | |
einem Wohnungslosenheim in Charlottenburg. Doch von dort wollte sie schnell | |
wieder weg. „Es herrschte eine Atmosphäre der Unterdrückung und es gab | |
keinerlei Hilfestellung“, fasst sie ihre zwei Monate dort zusammen. | |
## Lange Warteliste | |
Mittlerweile ist Doris wieder bei Evas Obdach untergekommen und hofft jetzt | |
auf eine Wohnung. Sie hat sich beim [4][„Housing First für Frauen“-Projekt] | |
angemeldet. Ein Modell, das aus den USA kommt und in europäischen Ländern | |
wie Finnland sehr erfolgreich ist. Dabei kommt die Wohnung zuerst und alles | |
andere danach. Doris hofft, dass sie die Nächste ist, doch es stehen 36 | |
Frauen auf der Warteliste, die auf eine eigene Wohnung hoffen. | |
Einzige Bedingung für eine „Housing First“-Wohnung ist, dass die künftigen | |
Bewohnerinnen die Miete durch Arbeit oder Sozialhilfe regelmäßig zahlen | |
können. „Das ist ein Paradigmenwechsel, der ein weiteres Angebot in der | |
Wohnungshilfe für Frauen darstellt: weil man hier davon ausgeht, dass ein | |
Mensch in seinen eigenen vier Wänden einen Schutzraum findet und sich dann | |
eher stabilisiert, um seine Probleme anzugehen“, sagt Beate | |
Vetter-Gorowicz, Pressesprecherin und Zuständige für die Immobilienakquise | |
des Projekts. | |
In Deutschland ist das Modell noch nicht stark verbreitet, in Berlin haben | |
im Oktober 2018 zwei Modellprojekte, vom Senat gefördert, gestartet. Die 1- | |
bis 1,5-Zimmer-Wohnungen kommen von Vermietungsgesellschaften aus der | |
privaten Wirtschaft, zwölf Frauen konnten bisher in Mietverträge und | |
Wohnungen untergebracht werden vom Sozialdienst katholischer Frauen. | |
Wochen später treffe ich Doris, sie wirkt niedergeschlagen, sitzt auf der | |
Treppe vor Evas Obdach. Doris erzählt, dass sie die Unterkunft verlassen | |
muss, ihre verabredete Zeit sei abgelaufen. Beim Housing-First-Projekt für | |
Frauen stehe sie mittlerweile auf dem ersten Wartelistenplatz, erzählt | |
Doris. Wenn sie wieder eine Wohnung hat, dann will sie sich einen Ausweis | |
für die Bücherei holen und als Belohnung für die vier harten Jahre eine | |
Dampferfahrt von Tegel nach Potsdam machen. Doch wie lange sie noch warten | |
muss, weiß niemand. Es kann Tage, Wochen oder Monate dauern. Wo sie bis | |
dahin übernachten soll? Das weiß Doris noch nicht. | |
18 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5620823 | |
[2] https://www.bagw.de/de/themen/statistik_und_dokumentation/statistikberichte… | |
[3] https://skf-berlin.de/evas-obdach/ | |
[4] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5626627 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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