# taz.de -- Obdachlosigkeit in Berlin: Auf der Lichtenberger Platte | |
> Vor dem Bahnhof Lichtenberg haben sich Obdachlose häuslich eingerichtet. | |
> Doch niemand weiß, wie lange sie noch bleiben dürfen. | |
Bild: Ein Hauch von Beständigkeit | |
BERLIN taz | „Die Leute haben Angst“ beschreibt Dennis Wajda die Stimmung | |
im Camp. Der 29-Jährige sitzt in einem abgenutzten Sessel, er ist spürbar | |
angespannt. Hier, auf einer kleinen Fläche neben dem Eingang zur | |
Unterführung am Bahnhof Lichtenberg, haben er und über ein Dutzend weiterer | |
obdachloser Menschen sich eingerichtet. „Die Lichtenberger Platte“, so | |
nennen sie ihr Zuhause. | |
Es gibt mehrere Matratzen, Sofas, eine Küche. Sogar ein Bücherregal steht | |
an der Wand. Die Einrichtung vermittelt einen Hauch von Beständigkeit, doch | |
der Schein trügt. Wajda deutet auf eine Gruppe von Mitarbeitern des | |
Ordnungsamts und BVG-Securities. Am Montag seien sie das erste Mal | |
aufgetaucht, um den Bewohner*innen der gegenüberliegenden Camps | |
mitzuteilen, dass sie geräumt werden. „In so einem Klima wachsen schnell | |
Gerüchte“, sagt Wajda. Keiner weiß, wie lange sie noch bleiben können. | |
Nach der Schließung des Kältebahnhofs zogen viele Obdachlose, die im Winter | |
in der Unterführung übernachten durften, einfach vor den Bahnhof und | |
schlugen dort ihre Zelte auf. In den folgenden Monaten stießen immer mehr | |
Menschen dazu, der Vorplatz entwickelte sich zudem zu einem Treffpunkt der | |
Trinkerszene. | |
Beim Bezirksamt häuften sich die Beschwerden, mehr als 50 waren es im Laufe | |
des Sommers. Anwohner*innen und Passant*innen klagten über Belästigungen, | |
Schmutz oder fühlten sich durch den Anblick von Armut gestört, wie aus | |
einem Papier des Bezirksamts hervorgeht, das der taz vorliegt. Dennis Wajda | |
betont, er und seine Gruppe legten großen Wert darauf, den Platz sauber zu | |
halten: „Wir räumen hier mehrmals am Tag auf.“ Doch andere Gruppen auf dem | |
Bahnhofsvorplatz achten offenbar weniger darauf, mangels frei zugänglicher | |
Toiletten wurde oft an die nahestehenden Gebäude uriniert. | |
Die Bahn drängte den Bezirk Ende vergangenen Monats, den kompletten | |
Vorplatz räumen zu lassen, doch das Bezirksamt des links-regierten | |
Lichtenbergs war zunächst dagegen. Man einigte sich mit der Deutschen Bahn | |
darauf, zumindest die Fahrradständer und den Zugang zum Aufzug | |
freizuhalten. De facto bedeutete das eine Räumung des Camps links des | |
Eingangs, zu dem Wajdas Gruppe nicht gehört. | |
Am Donnerstagmorgen räumte dann ein Großaufgebot von BSR und Ordnungsamt | |
die Überreste des Camps weg, die meisten Obdachlosen waren da schon | |
verschwunden. Für Wajda und seine Gruppe, die rechts des Eingangs | |
kampieren, ist vorgesehen, bis zum Ende des Monats eine Ausweichfläche zu | |
finden. | |
## Unsinnige Räumungen | |
Der aus dem Rheinland kommende Wajda lebt seit einem Jahr auf der Straße. | |
Als die Obdachlosigkeit unvermeidbar schien, zog er nach Berlin. Er lebte | |
zunächst im Tiergarten, dann an der Oberbaumbrücke. Bei jeder Räumung | |
verlor er Hab und Gut, schließlich kam er zum Kältebahnhof Lichtenberg, wo | |
er bis jetzt bleiben konnte. | |
„Und auf der nächsten Platte werden wir wieder verdrängt“, sagt Wajda | |
resigniert, „wie soll man sein Leben auf die Reihe kriegen, wenn man die | |
ganze Zeit damit beschäftigt ist, eine sichere Bleibe zu finden?“ Der Weg | |
aus der Obdachlosigkeit sei lang und beschwerlich, benötige viel Kraft – | |
und davon bleibe nicht mehr übrig, wenn man auf der Straße überleben will. | |
„Räumungen sind besonders langfristig gesehen unsinnig“, sagt Jörg Richer… | |
Geschäftsleiter der Karuna Sozialgenossenschaft, die auch die Menschen am | |
Lichtenberger Bahnhof betreut. „Man verschiebt das Problem und hat an einem | |
anderen Ort eine ähnliche Situation.“ | |
Wajda und die Bewohner*innen der Lichtenberger Platte wollen nicht mehr | |
auf Versprechungen vom Bezirk oder Senat warten. Deshalb haben sie selbst | |
Initiative ergriffen und eine Liste von neun Freiflächen und leerstehenden | |
Gebäuden im Bezirk erstellt, die sie selbstverwaltet bewohnen wollen. | |
Wenn Wajda über die Idee spricht, kehrt hörbar Optimismus in seine Stimme | |
zurück; er spricht von Erdaufbereitung, Gemüseanbau, Schmuckherstellung und | |
Holzbearbeitung, die vor Ort realisiert werden könnten. Es gebe hier viele | |
Leute mit enormem Potenzial. „Es ist nicht so, als ob wir nicht in der Lage | |
wären, so etwas zu tun“, sagt Wajda, „wir dürfen nur nicht.“ Nach | |
wochenlangen Versuchen der Kontaktaufnahme übergaben sie die Liste | |
schließlich dem Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke). Aus dem Büro | |
des Bürgermeisters heißt es nüchtern, die vorgeschlagenen Flächen seien | |
nicht im Besitz des Bezirksamts, aber man prüfe „derzeit eigene Flächen“. | |
Der Vorschlag der Bewohner*innen ähnelt stark dem in Berlin seit Monaten | |
diskutierten Konzept der „Safe Places“ (siehe Kasten). Richert geht noch | |
einen Schritt weiter und fordert sogenannte Common Places, an denen die | |
Bewohner*innen sinnstiftenden Tätigkeiten wie etwa Urban Gardening zusammen | |
mit der Nachbarschaft nachgehen können. | |
Wajda sehnt sich vor allem nach einem Ort, an dem er und die anderen länger | |
als ein paar Monate bleiben können. Wichtig sei auch, dass die Gruppe | |
zusammenbleibt: „Das hier ist eine Familie“, sagt er. | |
6 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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