# taz.de -- Wenn alte Menschen sterben: Trauer ist alterslos | |
> Dass ein Mensch alt ist, bedeutet noch lange nicht, dass sein Tod eine | |
> kleinere Lücke hinterlässt. | |
Bild: Kerzen für die Toten | |
Kürzlich war ich in der Kirche bei uns um die Ecke, um eine Kerze | |
anzuzünden, als ich den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere | |
Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen | |
praktischer Ethik geben. Es ist eine kleine Kirche, in der fast nie jemand | |
ist, und ich hatte eine Kerze für jemanden angezündet, der mir viel | |
bedeutet, eine Verwandte, die mit 97 Jahren gestorben ist. | |
Es war kein Moment, in dem ich irgendjemanden hätte treffen wollen. Der | |
Ethikrat setzte sich in eine Kirchenbank, und zu meiner eigenen | |
Überraschung ging ich zu ihm hinüber und sagte einleitungslos: „Als ich | |
gestern jemandem von diesem Tod erzählte, einer klugen Frau, die nicht | |
herzlos ist, sagte sie in etwa: ‚Wenn deine Verwandte so alt war, ist es | |
doch gut so.‘ | |
Vielleicht, zumindest nach äußerem Anschein, ist das wahr, weil sie müde | |
geworden ist, so müde, dass ihr alles viel wurde, selbst die Musik, selbst | |
die Familie. Vielleicht tue ich der nicht herzlosen Frau unrecht, wenn ich | |
in dem ‚gut so‘ noch etwas anderes höre: dass die Lücke, die der Tod eines | |
sehr alten Menschen reißt, kleiner ist als bei jungen. | |
Ich habe einmal in einem Text einer Autorin, die vor allem unheimliche | |
Krimis schreibt, gelesen, dass der Tod der eigenen Eltern einen um so mehr | |
trifft, je älter man ist. Einmal war ich bei einem Gottesdienst zum | |
Totensonntag, wo jeder nach vorne kommen und eine Kerze für die | |
Verstorbenen anzünden konnte. Es kamen viele, auch ein kräftiger Mann | |
mittleren Alters, er sagte ‚für meine Mutter‘ und dann begann er zu weinen. | |
Ich glaube, dass einen der Tod immer und immer trifft, aber ich glaube | |
auch, dass man im Alter nicht wehrhafter wird. Weil die Sterblichkeit der | |
anderen und auch die eigene nicht mehr so unwirklich ist, weil man | |
verstanden hat, dass Nähe nichts ist, was man erzwingen könnte. Nahe | |
Menschen sind wie Sternschnuppen, sie erscheinen ohne eigenes Zutun und es | |
wird sehr dunkel, wenn sie verschwinden. | |
## Die alte Frau, die zum Scrabbeln kam | |
‚Er war schon alt‘, sagen manche Leute als Nachsatz, wenn sie vom Tod des | |
Onkels, der Großmutter sprechen. Als sei es ein alles heilender Trost. | |
Gerade weil sie alt sind, wird es durch ihren Tod umso einsamer in der | |
Reihe ihrer Geschwister und Freunde. Ich denke an die alte Frau, die meine | |
Verwandte zum Scrabbeln besucht hat, und frage mich, wen sie künftig | |
besuchen kann. Ich frage mich, mit wem sie darüber sprechen kann, dass | |
jeden Tag schon beim Aufstehen etwas weh tut und warum das Laufen der | |
Kleinkinder eine Sensation ist und das genauso hart erkämpfte Laufen der | |
Alten nur störend, wenn irgendjemand es eilig hat. | |
Ich frage mich, mit wem sie sich darüber wundern kann, dass das Kind, das | |
man war, verschwunden ist. Dass der Tod näher rückt und dass der Weg zum | |
Sterben wie eine Lotterie scheint: Man kann es gut treffen oder nicht, und | |
niemand weiß, warum. Ich frage mich, mit wem sie darüber spricht, dass die | |
Welt immer fremder wird und dass es niemanden mehr gibt, der einem durchs | |
Haar streicht, wenn der Schmerz nicht vergeht. | |
Vielleicht habe ich die Frau, die nicht herzlos ist, und all die anderen | |
missverstanden, und das wäre schön. Ich habe jemanden verloren, der | |
preußische Grazie hatte, das ist eine sehr seltene Mischung und niemand | |
wird sich so über mein schlechtes Trompetenspiel freuen. Ich bin ein | |
bisschen alt und nun bin ich in gewisser Hinsicht verwaist und ich möchte | |
nicht, dass irgendjemand einen Millimeter der Lücke, die nun um mich ist, | |
anzweifelt.“ | |
Der Ethikrat sagte nichts. Manchmal gibt es nichts zu sagen. Dann stand er | |
auf und zündete Kerzen an und es war traurig und nicht traurig zugleich, zu | |
sehen, dass es viele waren. | |
3 Jun 2023 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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