| # taz.de -- Was will die Wahlrechtsreform?: 598 Sitze müssen reichen | |
| > Der Bundestag ist nach dem chinesischen Volkskongress das zweitgrößte | |
| > Parlament der Welt. Eine Wahlrechtsreform der Ampelkoalition soll das | |
| > ändern. | |
| Bild: Es wird immer enger im Bundestag: Für jeden Sitz ein Stuhl | |
| ## Warum braucht es überhaupt eine Wahlrechtsreform? | |
| Der Bundestag ist derzeit deutlich größer als ursprünglich gedacht. | |
| Eigentlich, so steht es in Paragraf 1 des Bundeswahlgesetzes, soll er nur | |
| aus 598 Parlamentarier:innen bestehen. Zu den 299 mit der Erststimme | |
| in ihrem Wahlkreis direkt gewählten Abgeordneten sollen 299 weitere kommen, | |
| die über die Landeslisten ihrer Parteien ins Parlament einziehen. | |
| Tatsächlich gehören dem Bundestag aktuell aber 736 Abgeordnete an. Damit | |
| hat Deutschland das zweitgrößte Parlament der Welt, hinter dem Nationalen | |
| Volkskongress Chinas. | |
| ## Wie kommt es, dass der Bundestag so viel größer ist als vorgesehen? | |
| Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Zusammensetzung des Bundestags | |
| auf einer komplizierten Kombination des Verhältniswahlrechts mit einer | |
| Mehrheitswahlrechtkomponente beruht. Entscheidend dafür, mit welchem Anteil | |
| eine Partei im Bundestag vertreten ist, ist die Zweitstimme, mit der die | |
| jeweilige Parteiliste gewählt wird. Prioritär ist also das | |
| Verhältniswahlrecht. Ein Problem entsteht jedoch, wenn eine Partei in einem | |
| Bundesland mehr Direktmandate holt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis | |
| zustehen. Diese zusätzlichen Sitze nennt man Überhangmandate. | |
| Damit diese nicht zu einer Verzerrung des Wähler:innenwillens führen, | |
| gibt es für alle anderen Parteien Ausgleichsmandate – und zwar aufgrund des | |
| föderalen Wahlsystems auf Landesebene. Das heißt, Direktmandate können | |
| nicht verrechnet werden. Das führt zu der kuriosen Situation, dass die CDU | |
| aktuell sich nicht nur über 12 Überhangmandate, sondern auch noch über 18 | |
| Ausgleichsmandate freuen kann. Bei der SPD ist das Verhältnis 10 zu 26, bei | |
| der AfD 1 zu 13. Insgesamt gibt es momentan 34 Überhang- und 104 | |
| Ausgleichsmandate. Theoretisch könnten es bei künftigen Wahlen ohne eine | |
| Wahlrechtsreform noch wesentlich mehr werden. Daher sind sich alle im | |
| Bundestag vertretenen Parteien darüber einig, dass es hier eine Änderung | |
| geben muss. | |
| ## Warum hat es nicht schon längst eine Wahlrechtsreform gegeben, die das | |
| Direktmandateproblem grundsätzlich löst? | |
| Das Problem mit den Überhangmandaten ist so alt wie die Bundesrepublik. | |
| Schon bei der ersten Wahl im Jahr 1949 gab es sie – damals waren es zwei, | |
| je eines für die CDU und die SPD. Das Fifty-fifty-Ideal, also ein Bundestag | |
| mit gesetzlicher Sollgröße, beschränkte sich auf die Wahlen von 1965 bis | |
| 1976. | |
| Ansonsten gab es stets Überhangmandate – die jedoch bis einschließlich der | |
| Bundestagswahl 2009 nicht ausgeglichen wurden. Davon profitierten immer die | |
| großen Parteien: abwechselnd mal nur die SPD (1980, 1983, 1998), mal nur | |
| die CDU (1987, 1990), mal beide (1994, 2002, 2005) sowie einmal CDU und CSU | |
| (2009). Entsprechend hatten weder die SPD noch die Union ein Interesse | |
| daran, an dieser Bevorteilung etwas zu ändern. | |
| Das Bundesverfassungsgericht erklärte dieses Verfahren jedoch im Jahr 2012 | |
| für verfassungswidrig, da es „die Grundsätze der Gleichheit und | |
| Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien“ | |
| verletze. Überhangmandate seien „nur in einem Umfang hinnehmbar, der den | |
| Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt“. Deswegen | |
| verabschiedete der Bundestag hektisch eine Wahlrechtsreform, auf deren | |
| Grundlage seit der Bundestagswahl 2013 Überhangmandate für eine Partei | |
| durch Ausgleichsmandate für alle anderen ausgeglichen werden. Seitdem wird | |
| eifrig darüber gestritten, wie es gelingen kann, verfassungskonform den | |
| Trend zu einem immer größeren Parlament zu stoppen. Doch die Vorstellungen, | |
| wie das gelingen kann, gehen stark auseinander, da es auch um Machtfragen | |
| geht: Wer profitiert davon, zu wessen Lasten geht es? | |
| ## Welcher Vorschlag steht aktuell zur Debatte? | |
| SPD, Grüne und FDP haben sich [1][auf einen Gesetzentwurf geeinigt], nach | |
| dem Überhang- und Ausgleichsmandate künftig vollständig wegfallen sollen. | |
| Entscheidend für die Mandatszahl einer Partei wäre demnach ausschließlich | |
| die Zweitstimme, die deswegen in „Hauptstimme“ umbenannt werden soll. Damit | |
| wäre weitgehend garantiert, dass der Bundestag künftig tatsächlich nur noch | |
| aus 598 Abgeordneten besteht. Nur noch in seltenen Ausnahmefällen könnte | |
| das Parlament größer sein, und das auch nur um wenige Sitze. Diese | |
| Ausnahmen gäbe es, wenn ein:e parteiunabhängige:r | |
| Einzelbewerber:in ein Direktmandat gewinnen würde (was zuletzt 1949 | |
| der Fall war) oder wenn eine Partei (wie 2002 die PDS) zwar die | |
| Fünfprozenthürde verfehlt, aber ein oder zwei Direktmandate gewinnt. | |
| ## Was würde sich mit dem Gesetz der Ampelkoalition ändern? | |
| Der Vorschlag der Ampelparteien würde keine Partei übervorteilen, geht | |
| allerdings auf Kosten der Personenwahl, also der | |
| Mehrheitswahlrechtskomponente. Denn SPD, Grüne und FDP kehren die bisherige | |
| Praxis um: Wenn eine Partei mit der Erststimme mehr Wahlkreise gewinnt, als | |
| ihr eigentlich im Verhältnis an Parlamentssitzen zustehen, dann werden ihr | |
| entsprechend Direktmandate abgezogen. Das hat zur Folge, dass nicht mehr | |
| zwangsläufig aus jedem Wahlkreis ein:e Abgeordnete:r in den Bundestag | |
| gewählt würde. Das Problem ließe sich dadurch lösen, dass die Gesamtzahl | |
| der Sitze erhöht wird, zum Beispiel auf 650, also dass es von vornherein | |
| mehr Listenplätze als Direktmandate gibt. | |
| Allerdings ist es schon jetzt so, dass manche Wahlkreise nicht über die | |
| gesamte Legislaturperiode hinweg im Bundestag repräsentiert sind. Denn | |
| anders als in Ländern mit Mehrheitswahlrecht, wie Großbritannien oder den | |
| USA, gibt es keine Nachwahl, falls direkt gewählte Abgeordnete ausscheiden. | |
| Aktuelles Beispiel dafür ist Ex-Außenminister Heiko Maas, der sein in | |
| Saarlouis gewonnenes Direktmandat zum Jahreswechsel niedergelegt hat und | |
| für den die 22-jährige Emily Vontz über die saarländische Landesliste der | |
| SPD nachgerückt ist. Dass dem so ist, lässt die Behauptung vonseiten der | |
| Union, die von der Ampel eingebrachte Wahlrechtsreform sei | |
| „verfassungswidrig“, zumindest zweifelhaft erscheinen. | |
| ## Warum bringt der Gesetzentwurf der Ampel gerade die CSU so stark in | |
| Rage? | |
| Das hat mit der Schwäche der CSU zu tun. Traditionell holt die | |
| Regionalpartei in Bayern fast alle Direktmandate. In früheren Zeiten deckte | |
| sich das mit den hohen heimatlichen Zweitstimmenergebnissen von bis zu 60 | |
| Prozent. Doch das ist heutzutage anders. Bei der Bundestagswahl 2021 hat | |
| die CSU zwar fast sämtliche Wahlkreise in Bayern direkt gewonnen (bis auf | |
| eine grüne Ausnahme), kam landesweit jedoch nur auf 31,7 Prozent der | |
| Stimmen. | |
| Hätte es die rot-grün-gelbe Wahlrechtsreform schon gegeben, wären daher | |
| nicht 45 CSU-Politiker als direkt gewählte Abgeordnete in den Bundestag | |
| eingezogen, sondern nur 34 – so viele, wie der Partei nach ihrem | |
| Zweitstimmenergebnis zugestanden hätten. 11 Kandidaten hätten hingegen auf | |
| ihr Mandat verzichten müssen, und zwar diejenigen mit dem schlechtesten | |
| Wahlkreisergebnis. Das lässt CSU-Generalsekretär Martin Huber jetzt | |
| trumpistisch wettern, [2][die Ampel betreibe „organisierte Wahlfälschung“ | |
| und lege „die Axt an unser demokratisches Fundament“]. | |
| ## Welche alternative Lösung des Problems schlägt die Unionsfraktion vor? | |
| Einen eigenen Gesetzentwurf haben bislang weder die CSU noch die | |
| Schwesterpartei CDU vorgelegt. Aber in der vom Bundestag eingesetzten | |
| Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der | |
| Parlamentsarbeit haben die Mitglieder der Unionsfraktion ein sogenanntes | |
| Grabenwahlrecht vorgeschlagen – womit sie eine alte, seinerzeit aus gutem | |
| Grund gescheiterte Idee Konrad Adenauers aufgegriffen haben. | |
| Die Einführung des Grabenwahlrechts würde eine Abkopplung der Erst- von der | |
| Zweitstimme bedeuten: Den, wie bisher, 299 direkt gewählten Abgeordneten | |
| würden völlig unabhängig davon weitere über die Zweitstimme gewählte 299 | |
| Abgeordnete gegenüberstehen. Damit wäre auf den ersten Blick das Ergebnis | |
| gleich: Wie beim Ampelentwurf hätte der Bundestag nur noch 598 Abgeordnete. | |
| Doch der zweite Blick offenbart das Problem: Das Grabenwahlrecht kann zu | |
| einer massiven Verfälschung des Wähler:innenwillens führen. Denn in | |
| diesem Modell gäbe es keinerei Verrechnung von Direktmandaten mehr. Wozu | |
| das führen kann, lässt sich gut am Beispiel der CSU illustrieren: Mit dem | |
| Grabenwahlrecht hätte sie bei der Bundestagswahl 2021 nicht nur | |
| ausgleichslos ihre 45 direkt gewonnenen Mandate erhalten, sondern auch noch | |
| weitere 16 über die Zweitstimme. Damit hätte sie 61 von insgesamt 92 | |
| bayerischen Bundestagssitzen erhalten – zwei Drittel der bayerischen | |
| Mandate bei einem Stimmanteil von weniger als einem Drittel. | |
| Doch nicht nur die CSU, auch die CDU würde stark vom Grabenwahlrecht | |
| profitieren. Kein Wunder also, dass es der Union gut gefallen würde. Anders | |
| als das von der Ampel präferierte Modell entspräche es jedenfalls eher | |
| nicht dem „Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl“. | |
| 22 Jan 2023 | |
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| Pascal Beucker | |
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