# taz.de -- Vulvenkunst in Mexiko: Gegen Femizid und Patriarchat | |
> Eine Künstlerin holt Vulven aus der Ecke des Tabus, um sie auf den Sockel | |
> der Kunst zu stellen – und setzt ihnen dann noch einen Heiligenschein | |
> auf. | |
Bild: Stoffvulva aus dem Workshop von Paula Jessica Romer | |
MEXIKO-STADT taz | Paula Jessica Romer möchte die Vulva zu einem Rockstar | |
machen. Zu einer Ikone, etwas Extravagantem, etwas, das bewundert wird, das | |
benannt und gezeigt werden darf, wofür niemand sich schämen muss. | |
In Mexiko ist die Schutzheilige Jungfrau Guadalupe genau das: Sie ist die | |
Ikone der Weiblichkeit, die einzige. Die Jungfrau, verhüllt in bodenlangem | |
Stoff, den Blick auf die Erde gerichtet, die Hände gefaltet. Sie hängt in | |
jedem Haus, in jedem Geschäft und zeigt stumm, wie die richtige Frau sein | |
soll: unberührt und unterwürfig. Da sich die 33-jährige Künstlerin Romer | |
mit diesem Frauenbild nicht identifizieren kann, zieht sie die Heilige aus | |
– sie näht Vulven aus Stoff, die sich in Form und Farbe beim Stil der | |
Guadalupe bedienen, sie näht heilige Vulven. | |
Romer sitzt hinter ihrer Nähmaschine in ihrem Atelier im Zentrum von | |
Mexiko-Stadt. Die Straße, die von unten hochdröhnt, gibt niemals Ruhe. Das | |
Atelier teilt sie sich mit 17 anderen KünstlerInnen. Hier stehen | |
Druckmaschinen und hängen Macramé-Konstruktionen; an den Wänden des alten | |
Fabrikgebäudes ist kaum noch Platz. Dazwischen streunt Señor Gatito herum, | |
Romers Katze. Ein mageres, zerrupftes Wesen, das sichtlich eine | |
Vergangenheit auf der Straße hinter sich hat. In Romers Bereich der Etage | |
quellen Stoffe aus Kisten in Regalen. | |
Seit zwei Jahren arbeitet und lebt sie in Mexiko-Stadt. Es ist Anfang März. | |
Vor ein paar Tagen hat sie eine über einen Meter große Vulva fertig genäht. | |
Sie wird [1][am 8. März, dem Weltfrauentag], auf einem Podest über den | |
Köpfen von rund 80.000 Frauen zum Zocalo, dem zentralen Platz der | |
Metropole, getragen werden. | |
## Masturbation mit Rosenkranz | |
Im Moment schaut Romer an die Decke und sucht Worte, während sie in eine | |
Feige beißt. Die kleine zierliche Frau trägt ihre schwarzen Haare kurz, die | |
Achselhaare lang und ein schwarzes, langes Kleid. Die Farbwahl ihres | |
Outfits kontrastiert die Stoffe, die vor ihr liegen. Alle Farben, Texturen, | |
Muster und Schnitte scheinen vertreten, nur etwas Schwarzes fehlt. | |
An der Wand vor ihr hängt ein Holzrahmen, wie man ihn zum Sticken braucht, | |
darin ist ein türkises Tuch gespannt, auf das sie eine Vulva aus violettem | |
Stoff genäht hat. Sie wird von einem goldenen Heiligenschein gekrönt, | |
dessen Strahlen in kleinen Blumen enden. Aus der Mitte der Vulva hängt ein | |
rosa Rosenkranz. Romers suchender Blick macht bei dem Rahmen halt. „Diese | |
hier stößt zum Beispiel gerade das Patriarchat in Form eines Rosenkranzes | |
aus, gleichzeitig sehe ich in dieser Collage eine Frau, die mit einem | |
Rosenkranz masturbiert“, erklärt Romer ihr Werk. Für sie gäbe es immer | |
mehrere Lesarten von derselben Sache. | |
So auch bei der Guadalupe. Romer fragt sich, ob die Schutzheilige als | |
Jungfrau gilt, weil sie von keinem Penis penetriert wurde oder weil sie im | |
Geiste jungfräulich war? Ein fügsames, gerade erst aufblühendes Mädchen. | |
Klar sei auf jeden Fall, dass die Guadalupe vom Patriarchat benutzt wurde, | |
um ein bestimmtes Frauen(vor)bild zu propagieren. „Eine Frau, die | |
unterwürfig und nicht frei in ihrer Sexualität ist. Die verschlossen darauf | |
wartet, vom Täubchen geschwängert zu werden.“ Die unbefleckte Empfängnis, | |
auch bei der tropikalisierten Maria. | |
Für Romer ist die Guadalupe aber viel mehr. Eine mexikanische Großmutter, | |
eine Kämpferin, zärtlich, aber ignorant, eine, die einem beibringt, wie man | |
eine gute Salsa macht. Gleichzeitig sehe sie in ihr eine Jugendliche, eine | |
verwundbare, junge Frau im Wachstum. „Ich liebe die Dramatik der Guadalupe. | |
Wie der Stoff ihrer Kleider fällt, die satten Farben und das Blumenbeet, | |
auf dem sie steht.“ | |
Am 12. Dezember, am Tag der Schutzheiligen, wird ihre Figur durch die | |
Dörfer getragen. „Wie ein Rockstar, der seine Fans besucht“, findet Romer. | |
Am 8. März wird ihre Ikone, ihre riesige Stoffvulva, durch Mexiko-Stadt | |
getragen werden. Eingehüllt in den typischen dunkelgrünen, mit Sternen | |
verzierten Mantel der Guadalupe in einer der größten Demonstrationen | |
Mexikos der letzten Jahre. | |
Es werden fast nur Frauen anwesend sein, die Männer, die mitlaufen, werden | |
mit der Parole „Männer raus!“ aufgefordert werden, die Demo zu verlassen. | |
Romer hält diesen Schritt für notwendig. „In Mexiko erwacht der Feminismus | |
gerade erst mit viel Hitze, er bricht mit einem lauten Schrei aus uns | |
heraus.“ Bevor man etwas anführen könne, müsse man sich zuerst mit seinen | |
Schwestern verbinden. „Außerdem macht es auch nichts, wenn die Männer | |
einmal kurz nicht im Mittelpunkt stehen.“ Und dann beginnt Romer mit ihrer | |
herrlich sarkastischen und doch ernst gemeinten Art, sich direkt an die | |
Männer Mexikos zu wenden: „Deswegen, mein Herr, setzen Sie sich, seien Sie | |
kurz ruhig, trinken Sie Ihr Käffchen und hören Sie einfach nur zu, denn | |
jetzt sprechen wir über unsere Themen.“ | |
Romers Verbindung zu Religion geht weit in ihre Kindheit zurück. Ihre | |
Eltern waren Teil einer christlichen Sekte aus den Vereinigten Staaten. In | |
ihrer Kindheit reisten sie, zusammen mit ihren drei Geschwistern, viel | |
umher, die Eltern missionierten, verkauften Bücher und sangen Lieder. | |
Ciudad Juárez war das Zuhause, zu dem sie immer wieder zurückkehrten, aus | |
dem sie dann aber 1996 wegzogen, wie alle, die konnten. Denn zwischen 1993 | |
und 2005 wurden in Ciudad Juárez 370 Mädchen und Frauen ermordet und 400 | |
als vermisst gemeldet. Die Grenzstadt im Norden Mexikos wurde als | |
gefährlichste Stadt der Welt berüchtigt. „Ich bin mir sicher, wären wir | |
nicht weggezogen, wären wir jetzt auch tot“, sagt Romer. | |
Inzwischen [2][werden in Mexiko zehn Frauen pro Tag ermordet], das ist ein | |
Anstieg um mehr als das Doppelte in den letzten fünf Jahren. Sie werden | |
umgebracht, weil sie Frauen sind, aus Eifersucht, Wut oder einfach weil er | |
stärker war. Zwei Tage nach dem ersten Besuch bei ihr trifft sich Romer mit | |
drei jungen Frauen in ihrem Atelier. Im Workshop sollen die Teilnehmerinnen | |
lernen, wie man Vulvart näht. Vor ihnen stehen Platten mit aufgeschnittenem | |
Obst, Krüge mit frischem Saft und kleine Handspiegel, damit jede von ihnen | |
gleich im Bad ihre Vulva anschauen kann, um sie dann auf das bereitliegende | |
Papier zu malen. | |
Zuerst kommt aber noch eine Sprechübung: „Vulva, vulva, vulva“, sagen alle | |
vier im Chor. Wie eine Selbsthilfegruppe fürs Frausein beziehungsweise fürs | |
Vulva-Haben. Wobei, Selbsthilfegruppen sind eigentlich für Leute, die ein | |
Problem haben, die vier hier haben aber bloß Vulven, keine Probleme. | |
Vielleicht fühlt sich die Zusammenkunft deswegen so eigenartig an. Weil es | |
normal sein sollte, die eigenen Körperteile zu benennen. Dann geht es | |
weiter, dreimal im Chor „Vagina“. | |
Sagt man diese Wörter dreimal laut, wird klar, dass es eben noch nicht | |
selbstverständlich und die Übung vielleicht notwendig ist. Vor dem | |
eigentlichen Nähen besprechen die Frauen, welche Wörter sie für Vulva | |
kennen, etwa die Hälfte ist herabwürdigend. Dann tauschen sie aus, wann sie | |
das letzte Mal masturbiert haben, was ihnen beim Sex gefällt und was nicht. | |
Das Unbehagen vom Anfang ist verflogen und das Gespräch plänkelt so vor | |
sich hin, während jede von ihnen ihre Vulva malt. | |
Romer leitet das Gespräch an, sie weiß, welche Botschaft sie überbringen | |
will: Die Vulva ist weder eklig noch sollte man sich für sie schämen. Als | |
die anderen beginnen zu nähen, ergänzt sie: „Sie ist schließlich der | |
Ursprung von allem. Aus ihr kommen wir alle, egal woher wir kommen.“ | |
28 Apr 2020 | |
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Pola Kapuste | |
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