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# taz.de -- Verschobener NSU-Prozess: Die Chaostage von München
> Wegen Fehler bei der Zulassung ausländischer Journalisten verschiebt das
> Gericht den Beginn des NSU-Prozesses um drei Wochen.
Bild: Bleiben zu: Die Türen des Verhandlungssaals in München.
MÜNCHEN/BERLIN taz | Die Halteverbotsschilder und Absperrgitter um das
Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße in München stehen schon.
Auch ein Zelt vor der Sicherheitsschleuse des Gerichts ist längst
aufgebaut, für den erwarteten Zuschauerandrang.
München wartet seit Tagen gespannt auf den Beginn des NSU-Prozesses. Ein
Gefangenentransport sollte am Mittwochmorgen die Hauptangeklagte Beate
Zschäpe von der Justizvollzugsanstalt Stadelheim auf einer streng geheimen
Route zur Nymphenburger Straße bringen. Um zehn Uhr sollte dort in Saal A
101 der Prozess gegen sie beginnen. Eigentlich.
Doch nun das: Zwei Tage vor dem geplanten Start hat das Münchner
Oberlandesgericht (OLG) den Beginn des Prozesses gegen Beate Zschäpe und
vier mutmaßliche Helfer der Terrorzelle NSU wegen Fehlern bei der
Journalistenzulassung absagen müssen. Neuer Starttermin ist Montag, der 6.
Mai. Was für eine Blamage.
Bei einem kleinen Verfahren wäre so etwas schon unangenehm. Doch der
NSU-Prozess ist nicht irgendeiner, sondern einer der wichtigsten Prozesse
der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zehn Morde, zwei Bombenanschläge, 15
Raubüberfälle: 13 Jahre lang wurden die Verbrechen nicht als das tödliche
Werk von Rassisten erkannt. Am Mittwoch sollte endlich die juristische
Aufarbeitung beginnen. Nun müssen die Hinterbliebenen der Opfer weitere
drei Wochen warten.
Grund für die Verschiebung ist das vom OLG München verkorkste
Medien-Zulassungsverfahren für den NSU-Prozess. Von den 50 sicheren Plätzen
für Journalisten war zunächst kein einziger an ein türkisches Medium
gegangen – und das obwohl acht der zehn Mordopfer des NSU türkische Wurzeln
haben. Sabah, eine der türkischsprachigen Zeitungen, die keinen Platz
erhalten haben, klagte vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe – und bekam
am Freitagnachmittag Recht. In dem Eilverfahren wurde auch bekannt, dass
das Münchner Gericht bei der Vergabe der Journalistenplätze technische
Fehler gemacht hatte, sodass nicht alle interessierten Medien gleichzeitig
per E-Mail informiert worden waren, darunter Sabah.
Gleichwohl hat das Verfassungsgericht dem OLG München die Wahl gelassen. Es
könne mindestens drei zusätzliche Journalistenplätze „an Vertreter von
ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern“ vergeben – oder
alternativ die Sitzplatzvergabe insgesamt nach anderen Regeln organisieren.
Das Münchner Gericht entschied sich für die zweite Variante und kündigte am
Montag an, dass man das Akkreditierungsverfahren für Journalisten komplett
neu starten werde.
Seine Entscheidung versuchte das Münchner Oberlandesgericht auf einer
Pressekonferenz am Nachmittag zu erklären. Der Andrang im Sitzungssaal A
206 des Strafjustizzentrums ist groß. Fast verschwindet OLG-Sprecherin
Margarete Nötzel hinter den aufgebauten Mikrofonen. Auch zahlreiche
ausländische Medienvertreter sind gekommen, die schon für den Prozess nach
München gereist sind. Doch Antworten auf die zahlreichen Fragen hat die
Gerichtssprecherin nicht.
Der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats, Manfred Götzl, habe das
Wochenende nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Nachdenken
genutzt und ihr dann gegen Mittag seine Entscheidung schriftlich
mitgeteilt, sagt Sprecherin Nötzel. Ansonsten zitiert sie fast wörtlich aus
der dünnen Pressemitteilung. Zeitlich und organisatorisch wäre ein neues
Akkreditierungsverfahren innerhalb von zwei Tagen nicht möglich gewesen,
steht da. Deshalb die Verschiebung.
Wann das neue Verfahren beginnen soll, nach welchen Kriterien die
Medienvertreter diesmal ausgewählt werden, wie groß das Kontingent für
türkischsprachige und andere ausländische Medien sein wird:
Gerichtssprecherin Nötzel wiederholt die gleichen Sätze: „Ich habe keine
Ahnung.“ „Ich weiß es nicht.“ „Das steht noch nicht fest.“ Nicht ein…
das vor dem Gerichtsgebäude aufgebaute Zelt und die Sicherheitsabsperrungen
bis zum neuen Auftakttermin stehen bleiben, vermochte sie zu sagen.
Vor allem für den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl ist die Schlappe beim
Akkreditierungsverfahren peinlich. Er hatte bei der Zulassung der
Journalisten den Hut auf und sich beim ersten Anlauf dagegen entschieden,
ein festes Kontingent für ausländische Medien zu reservieren. Das wäre
absolut möglich gewesen. Bislang galt der 60-jährige Götzl als ein
Hundertprozentiger. Ein Richter, der penibel auf die Paragrafen achtet,
dessen Urteile Bestand haben. Nur in einem einzigen Fall hat der
Bundesgerichtshof ein Götzl-Urteil kassiert.
Und nun dieses Chaos bei der Vergabe der Journalistenplätze. Auf dem
gesamten NSU-Prozess lastet jetzt eine schwere Hypothek.
Natürlich hatten die mehr als 150 Prozessbeteiligten – darunter 77
Nebenkläger und ihre Anwälte – längst auch ihre Flüge und Zugfahrten nach
München gebucht, Hotelzimmer reserviert, Pressekonferenzen anberaumt. Doch
weit schwerer als die Kosten, die durch die Verschiebung entstehen, wiegt
der Ansehensverlust für die deutsche Justiz im Inland und im Ausland. Der
Prozess sollte Wunden heilen und das jahrelange Versagen der deutschen
Behörden wiedergutmachen.
Die Angehörigen der Opfer und ihre Anwälte reagierten am Montag mit
Entsetzen auf die Nachricht aus München. „Gamze Kubasik, die Tochter des
ermordeten Mehmet Kubasik, empfindet die kurzfristige Verlegung wie einen
Schlag ins Gesicht“, teilte ihr Anwalt Sebastian Scharmer mit. Damit sei
„die Belastungsgrenze der Familie endgültig überschritten“.
Ähnlich reagierte auch Jens Rabe, der Semiya Simsek vertritt. Sie ist die
Tochter des ersten Opfers der rechten Terrorgruppe NSU. „Es ist mehr als
ärgerlich, dass der Prozessauftakt verschoben wird“, sagte Anwalt Rabe.
Zumal die Verschiebung in seinen Augen vermeidbar gewesen wäre, wenn das
Gericht nicht erst auf eine Entscheidung aus Karlsruhe gewartet hätte,
sondern selbst so schnell wie möglich die Fehler bei der
Journalistenzulassung korrigiert hätte.
„Ich bin fassungslos“, sagte auch Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der zwei
Opferfamilien vertritt. „So langsam hat das Ganze nur noch
Slapstickcharakter.“
15 Apr 2013
## AUTOREN
Marlene Halser
Wolf Schmidt
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