# taz.de -- Venezuela nach der Wahl: Mobilisierung auf allen Seiten | |
> Seit sich Venezuelas Präsident Maduro mit zweifelhaften Daten zum | |
> Wahlsieger erklärt hat, wächst die Wut. Auf den Straßen drohen | |
> Konfrontationen. | |
Bild: Unterstützerinnen der Opposition werden laut gegen Maduro | |
Caracas taz | In Venezuelas Hauptstadt Caracas schmeckt zwei Tage nach der | |
[1][Wahl vom Sonntag] vieles nach Konfrontation. Die Opposition hat zu | |
einer Großdemonstration aufgerufen, um gegen die ihrer Ansicht nach | |
gefälschten Wahlergebnisse zu protestieren, auch die Regierung will ihre | |
Anhänger:innen auf die Straße bringen. Schon am frühen Dienstagmorgen | |
kursierten Videoaufnahmen, die hunderte Demonstrierende am internationalen | |
Flughafen zeigten. | |
Am Montagmorgen nach der Wahl hatte in Caracas zuerst Totenstille | |
geherrscht. Bis in die frühen Morgenstunden hatte es gedauert, bis der | |
Wahlrat CNE das hochumstrittene Ergebnis veröffentlichte und Maduro mit | |
deutlichem Abstand zum Präsidenten erklärte, entgegen aller Umfragen vor | |
der Wahl, entgegen den Nachwahlerhebungen der Opposition, und ohne die | |
analogen Wahlunterlagen vorzulegen. | |
Am Vormittag ertönen in die Stille die ersten Cacerolazos. Das metallische | |
Klopfen ist typisch, wenn Menschen in Lateinamerika zum friedlichen Protest | |
auf Töpfe und Pfannen schlagen. Der Klang des Kochgeschirrs dringt durch | |
die armen Barrios in Caracas genauso wie im Reichenviertel Altamira. Von | |
einem Wohnblock zum nächsten zieht der Ruf. Es ist der Protest aus dem | |
Fenster, vom Balkon, mit sicherem Abstand. | |
Im Laufe des Tages kommt es im ganzen Land auf der Straße zu Protesten. In | |
der Hauptstadt Caracas füllt sich die Avenida Francisco de Miranda mit | |
Motorrädern und Menschen. Was erst wie eine kleine Kundgebung auf der Plaza | |
de Altamira aussieht, wird zum Riesenmarsch. Mit Musik und | |
Volksfeststimmung und großem Ernst. | |
## „Sie wissen, dass sie verloren haben“ | |
„Ganz Petare kommt jetzt herunter“, sagt eine Frau der taz, die sich dem | |
Menschenstrom mit ihren Freundinnen angeschlossen hat. Als sie mitbekam, | |
dass die Nachbarn losmarschierten, ging sie mit, erzählt sie. Sie ist | |
Buchhalterin und trägt eine Venezuela-Fahne um die Schultern. „Ich wäre | |
Mittelschicht, wenn es in diesem Land noch eine geben würde.“ Auch für sie | |
ist klar: „Sie haben die Wahlen gestohlen. Sie wissen, dass sie verloren | |
haben.“ | |
Sie wohnt direkt unterhalb des riesigen Armenviertels Petare, das lange als | |
Hochburg des Chavismus galt. Maduros ewige Rede ist, dass die Opposition | |
aus lauter Reichen und Privilegierten bestehe, die den Armen ihre | |
Essenspakete wegnehmen wollen. Und nur er die Armen retten könne. | |
Jetzt kommen diese Armen in die Stadt herunter, um aller Welt zu zeigen, | |
dass das nicht stimmt. Dass sie ihn nicht wollen. Sie haben genug von | |
subventionierten Essenspaketen und Gutscheinen. Sie wollen einen Lohn, von | |
dem sie sich ihr Essen selbst kaufen können. Dazu die Wut über den | |
Wahlbetrug, der für sie alle offensichtlich ist. | |
„Wir haben gewonnen. Ich war Zeugin.“ „Wir Nachbarn aus dem Barrio wollen | |
dich nicht. Verschwinde endlich, Maduro!“ steht auf Plakaten. „Petare | |
presente, Edmundo presidente!“, „Freiheit“, „Diese Regierung wird stür… | |
rufen die Münder. Dazu Vuvuzelas, Töpfe, Stangen, um an Laternenmasten zu | |
schlagen und alles, was Krach macht. Dazwischen immer wieder röhrende | |
Motorräder, auf die sich ganze Kleinfamilien gequetscht haben, Hupen, | |
Pfeifen. | |
## „Jetzt! Hau! Schon! Ab!“ | |
Es sind viele junge Menschen mit dunklerer Hautfarbe, Frauen mit | |
bauchfreien Tops und Piercings, Leggins und Jogginghosen, Männer in Shorts | |
und Badelatschen und löchrigen Schuhen, Käppis und Tätowierungen. Aber auch | |
Mittelalte in Karohemden und Sneakern, alte Damen mit Sonnenbrillen, | |
Familien mit Kindern, Typen, die aussehen, als ob sie im Hipster-Café in | |
ein Laptop tippen. Viele tragen „Venezuela“ auf der Brust, als Fahne mit | |
sich. Den Patriotismus hat der Madurismus definitiv nicht gepachtet. | |
Vereinzelt haben Männer ihren Kopf verhüllt – gegen die Karibiksonne oder | |
die Blicke? | |
Was sie am meisten erschöpft, sei die Ungewissheit, sagt eine Frau. Dass | |
sie nicht für die Zukunft planen kann in diesem Land. 24 Jahre ist sie alt. | |
„25 Jahre Chavismus“, sagt sie leise. „Hoffnung“ ist das, was da vor ih… | |
Augen passiert. | |
Eine Schülerin ist mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder gekommen. „Ich | |
will, dass Maduro geht, dass mein Vater von seinem Gehalt leben kann.“ Fünf | |
Stunden sind sie zu Fuß aus Petare hergelaufen, haben auch kein Geld, um | |
zurückzufahren, sagt die Mutter. Dürr sind sie alle drei. | |
Eine alte Dame mit Silberlöckchen schlägt mit einem Stock rhythmisch auf | |
einen Laternenmast ein, geradezu kathartisch: „Jetzt! Hau! Schon! Ab!“ | |
## Stundenlang strömen immer mehr Menschen in die Stadt | |
Die Geschäfte haben die Metallrolläden heruntergelassen, manche die Zäune | |
geschlossen, auch aus Angst vor Vandalismus. Aber stundenlang ziehen | |
Tausende vorbei, ohne sich ihnen überhaupt zu nähern. Als gegen Ende des | |
Nachmittags doch ein paar Jungs eine Werbetafel an einer Bushaltestelle | |
aushebeln, bekommen sie es mit einer Frau zu tun: „Wir wollen mit Maduro | |
Schluss machen, nicht mit Caracas!“ | |
An einer Abzweigung kokelt mitten auf der Straße eine Plastiktüte mit | |
Maduro-Wahlplakaten. Überhaupt sind die Wahlplakate verschwunden. Die | |
Rauchschwade sieht aus der Ferne aus wie ein Tränengasangriff. | |
Stundenlang strömen immer mehr Menschen zu Fuß und auf Motorrädern in die | |
Stadt. Nach allem, was man erfragen kann, hat sich das großteils spontan | |
ergeben. Es gab keinen Aufruf. Auch das Ziel ist nicht klar. Manche sagen: | |
Präsidentschaftspalast. Andere: Sitz des Wahlrats. Fest steht: Sie kommen | |
nicht an. Sie kommen bis zu einer Straßensperre der Polizei. Da dreht der | |
Zug um und strömt wieder zurück auf der Gegenseite der mehrspurigen | |
Avenida, trifft sich mit allen, die nachkommen. | |
Als sich die Dämmerung nähert und die Aras über den Stadthimmel ziehen, | |
treibt die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen, auf Motorrädern und | |
mit gepanzerten Fahrzeugen die Demonstrierenden vor sich her und in die | |
Flucht. Die Plaza de Altamira wird auf einen Schlag leer. | |
## Demonstrierende stoßen Chávez-Statuen um | |
Videos von anderen Orten zeigen Menschen in zivil, die sich zwischen den | |
Polizisten bewegen und Schüsse abfeuern. Das könnten Mitglieder der | |
sogenannten Colectivos sein, paramilitärischer regierungstreuer | |
Schlägertrupps. | |
Beobachter:innen sagen, dass die Reaktionen der Polizei bisher | |
gemäßigt waren. Kein Vergleich mit der brutalen Gewalt, die Demonstrierende | |
in Venezuela gewohnt sind. Nichts von Polizeitrupps, die am Rande stehen. | |
Über Stunden ist sie überhaupt nicht zu sehen, während die Menschen die | |
Avenida für sich erobern. Die Frage ist, ob das so bleibt, wenn die | |
Proteste weitergehen. | |
Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Foro Penal wurde bei den | |
Protesten bislang mindestens ein Mensch getötet. 46 weitere Menschen seien | |
festgenommen worden. | |
Die Wut gegen das Maduro-Regime und teilweise auch seinen Förderer Hugo | |
Chávez, der am Wahlsonntag 70 geworden wäre, ist groß. Demonstrierende | |
stießen mehrere Chávez-Statuen im Land um. Sie kamen auch bis zum Flughafen | |
der Hauptstadt, der nur über eine einzige Straße zu erreichen ist. In den | |
kommenden Tagen könnte es zu Blockaden kommen. Gesicherte Informationen | |
sind allerdings derzeit Mangelware. | |
## Internetseite des Wahlrats am Montag nicht erreichbar | |
Oppositionsführerin María Corina Machado nannte am Montagabend in einer | |
Pressekonferenz erste Zahlen zum Wahlergebnis. Zu dem Zeitpunkt lagen der | |
Opposition laut Machado 73 Prozent der schriftlichen Wahlprotokolle vor. | |
Deren Auszählung habe 2,75 Millionen Stimmen für Maduro und 6,27 Millionen | |
für seinen Herausforderer Edmundo Gonzalez ergeben. Die Opposition kündigte | |
an, die Unterlagen zur Überprüfung für alle öffentlich ins Netz zu stellen. | |
Die unterschieden sich deutlich von denen des Wahlrats: Dessen Präsident | |
hatte nach Mitternacht in einem ersten, allerdings „unumkehrbaren“ Bericht | |
von einem Sieg Maduros mit 51,2 Prozent der Stimmen gesprochen. Auf | |
González Urrutia entfielen demnach 44,2 Prozent. Die Opposition erkennt das | |
Ergebnis nicht an. Die Internetseite des Wahlrats, wo dieser detaillierte | |
Ergebnisse veröffentlichen wollte, war am Montag nicht erreichbar. | |
Dafür ist Generalstaatsanwalt Tarek William Saab dem Wunsch des | |
Vorsitzenden nachgekommen und hat ermittelt. Ein Hacker-Angriff auf das | |
unter Fachleuten als zuverlässig angesehene Computer-Wahlsystem sei für die | |
auffälligen Verzögerungen am Wahlsonntag verantwortlich gewesen, sagte der | |
Generalstaatsanwalt. Die Attacke sei aus Nordmazedonien gekommen und von | |
Machado zusammen mit den Oppositionsführern Leopoldo López und Lester | |
Toledo ausgeheckt worden. Beweise legte er nicht vor. Es könnte sein, dass | |
Verhaftungen folgen. | |
Venezuela hat erklärt, sein diplomatisches Personal aus sieben | |
lateinamerikanischen Ländern abzuziehen: Argentinien, Chile, Costa Rica, | |
Peru, Panama, Uruguay und der Dominikanischen Republik. Die hatten wie so | |
viele zuvor eine vollständige Überprüfung des Wahlergebnisses gefordert. | |
Für Caracas eine „Einmischung“. Die übliche Reaktion auf Kritik. | |
Die USA erklärten, Wahlmanipulationen hätten Maduros Anspruch auf den | |
Wahlsieg „jede Glaubwürdigkeit“ genommen. Washington schloss weitere | |
Sanktionen gegen das OPEC-Mitglied nicht aus. | |
Oppositionsführerin Machado rief dazu auf, weiter friedlich zu | |
demonstrieren. Gewalt könnte dem Militär einen Anlass geben, einzugreifen. | |
Verteidigungsminister Vladimir Padrino hatte vor einer Wiederholung der | |
„schrecklichen Situationen von 2014, 2017 und 2019“ gewarnt, oder vielmehr | |
gedroht. Bei den Massenprotesten gegen Maduro [2][kamen damals Hunderte | |
Menschen ums Leben]. | |
30 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sarah Himmel | |
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