# taz.de -- Ukraine nach den Protesten: Mythos Euromaidan | |
> Vor fünf Jahren gingen die Menschen in der Ukraine in Massen auf die | |
> Straße. Was ist vom revolutionären Kampf geblieben? | |
Bild: Steht noch heute auf dem Maidan: Armbandverkäufer Oleg im Winter 2013/14 | |
KIEW taz | Oleg geht auf einige Besucher des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes | |
zu. Ob sie wegen des 45 Meter hohen Obelisken, an dessen Spitze eine | |
Frauenskulptur die Unabhängigkeit der Ukraine symbolisiert, gekommen sind, | |
sie auf dem Platz die Ausstellung über die Ereignisse des Maidan sehen oder | |
sich an die Revolte von 2013/14 erinnern wollen, weiß er zunächst nicht. | |
Seit fünf Jahren ist der Platz seine Heimat. Hier verkauft er Passanten | |
gelb-blaue Armbänder, hier hat er schon vor genau fünf Jahren gestanden. | |
„Von drei Seiten haben Scharfschützen auf uns geschossen“, sagt er | |
aufgeregt, als sei es gestern gewesen, und deutet in Richtung Hotel | |
Ukraijna. „Es sind Russen gewesen. Einen von ihnen haben wir gefangen | |
genommen. Er hatte einen Moskauer Akzent.“ Die Demonstranten hätten nur mit | |
Steinen in den Händen gegen eine Übermacht bewaffneter Polizisten und | |
Scharfschützen gewonnen. | |
„Wollen Sie nicht auch ein Armband erwerben?“, fragt er. „Damit finanzier… | |
wir den Krankenhausaufenthalt verletzter Soldaten.“ Stolz führt er Besucher | |
zu einem Bild der Dauerausstellung auf dem Maidan. „Sehen Sie, hier stehe | |
ich, wie ich gerade einen Pflasterstein in die Hand nehme“, sagt er. | |
„Machen Sie doch bitte ein Foto von mir, direkt vor meinem Plakat.“ | |
Genau fünf Jahre nach den blutigen Ereignissen des Maidan haben sich nur | |
ein paar Dutzend Menschen auf dem Platz eingefunden, um sich die | |
Ausstellung über die damaligen Ereignisse anzusehen. Am Freitag seien bei | |
einer Gedenkveranstaltung gut tausend Personen da gewesen, am Donnerstag | |
waren es weniger, sagt Oleg. Man habe der Toten gedacht, derer des Maidan | |
und derer im Osten des Landes. | |
Oleg ist enttäuscht. Er wisse auch gar nicht, wem er bei den | |
Präsidentschaftswahlen seine Stimme geben werde. „Sicher ist nur: | |
Poroschenko bekommt meine Stimme nicht.“ Er blickt auf die „Straße der | |
Himmlischen Hundert“, die an den Platz angrenzt. Hier waren 2014 Dutzende | |
Demonstranten getötet worden. | |
Nun werden die Porträts der Opfer auf der linken Seite von einem zwei Meter | |
hohen undurchsichtigen Zaun verdeckt. „Hier wird ein nationales | |
Gedenkzentrum für die Himmlischen Hundert gebaut werden“, steht da. Damit | |
sind die hundert Demonstranten gemeint, die bei den Kundgebungen auf dem | |
Maidan damals erschossen wurden. | |
## Vorwürfe von Amnesty International | |
„Der Mann ist schlecht gelaunt“, raunt ein Fußgänger mit Blick auf Oleg. | |
„Drei Tage lang gehen hier ständig Menschentrauben mit Blumen in den Händen | |
die Straße am Unabhängigkeitsplatz vorbei, und an jedem der hundert | |
Porträts liegt ein Blumenmeer.“ Die Menschen würden nun einmal lieber im | |
Stillen trauern. | |
„Ich bin heute hier“, sagt ein Mann mit einem Strauß Rosen in der Hand, | |
„weil mein 16-jähriger Sohn in seiner Klasse gesammelt und mich gebeten | |
hat, im Namen seiner Klasse hier Blumen niederzulegen.“ | |
„Wir haben 2014 geglaubt, wir hätten gewonnen, aber wir haben viele Ziele | |
nicht erreicht“, sagt ein Passant. „Trotzdem haben wir etwas bewirkt. Ich | |
bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Meine Kinder schon in der Ukraine. | |
Doch wirklich begriffen haben sie den Unterschied erst durch die Ereignisse | |
des Maidan.“ | |
Ob wirklich alle Scharfschützen Russen waren, wie Oleg behauptet, ist | |
offen. So hatte im Februar der aus dem westukrainischen Lwiw stammende | |
Maidan-Aktivist Iwan Bubentschik gegenüber Bird in Flight berichtet, am 20. | |
Februar 2014 vom Konservatorium aus auf Polizisten auf dem Maidan | |
geschossen zu haben. | |
Pünktlich zu den Jahrestagen der Morde auf dem Maidan vom 18. bis 20. | |
Februar 2014 sagte jetzt Generalstaatsanwalt Juri Luzenko, der Ex-Präsident | |
Janukowitsch habe der Sondereinheit Berkut befohlen, Aktivisten vom Maidan | |
zu vertreiben. 66 Täter seien identifiziert worden, 46 von ihnen nach | |
Russland geflohen, 20 in der Ukraine in Untersuchungshaft, zitiert die | |
Ukrainska Prawda Luzenko. Zuvor hatte Amnesty International den | |
ukrainischen Behörden vorgeworfen, die Maidan-Morde 2013–2014 nicht | |
effektiv untersucht zu haben. | |
22 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Maidan | |
Euromaidan | |
Kolumne Stadtgespräch | |
Ostukraine | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Julia Timoschenko | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gefangenentausch in der Ukraine: Bizarre Tauschgeschäfte | |
Schon am Montag wird sich die Frage nach der nächsten Übergabe stellen, die | |
Suche nach neuem „Material“ geht weiter. Der Preis dafür ist hoch. | |
Gipfel zum Krieg in der Ukraine: Erneute Bemühung um Frieden | |
Russland und die Ukraine wollen den Friedensplan von 2015 wiederbeleben und | |
umfassend Gefangene austauschen. Ein weiterer Gipfel ist geplant. | |
Präsidentenwahl in der Ukraine: Die Show geht weiter | |
Der Komiker Wolodimir Selenski entscheidet den ersten Wahlgang mit 30 | |
Prozent für sich. In der Stichwahl trifft er auf Amtsinhaber Poroschenko. | |
Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Sie haben keine Stimme | |
Viele ukrainische Wähler kommen nicht an die Orte, wo sie in den Wahllisten | |
stehen. Grund ist der Krieg mit Russland und die Annexion der Krim. | |
Vor den Wahlen in der Ukraine: Da hört der Spaß auf | |
Am Sonntag geht es um die Zukunft der Ukraine. Armut und Krieg prägen das | |
Land. Und was passiert? Ein Komiker führt in allen Umfragen. | |
Getötete Aktivist*innen in der Ukraine: Ein Mord kostet 500 Dollar | |
Mindestens zehn ukrainische Aktivist*innen wurden in den letzten Jahren | |
ermordet. So wie die junge Politikerin Katja Handsjuk. | |
Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Timoschenko versucht es nochmal | |
Die ehemalige ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko tritt bei der | |
Wahl Ende März an. Ihre Chancen stehen gut. | |
Medien in der Ukraine: Mit anderen Worten | |
Per Gesetz sollen Printmedien auf Ukrainisch publizieren, als Zeichen gegen | |
das dominante Russisch. Zeitungen in der Ukraine fürchten um ihr Bestehen. |