# taz.de -- Über das Stolpern im Alltag: Kleine Krater im Asphalt | |
> Wer stolpert, erlebt immer etwas mehr Freiheit als einer, der | |
> schnurstracks zum Ziel eilt. Zeit, sich mit den Unebenheiten auf dem | |
> eigenen Weg zu befassen. | |
Bild: Wer im Alltag stolpert, erlebt immer etwas mehr Freiheit | |
Da braucht es also eine Pandemie, damit die Kolumnistin sich fragt, weshalb | |
ihre Kolumne eigentlich „Schlagloch“ heißt. In einem kleinen digitalen | |
Tête-á-Tête kamen wir [1][Kolumnist:innen] erstmals darauf, darüber zu | |
sprechen, warum diese Kolumne nicht etwa „Das Wort zur Woche“ heißt. | |
Im [2][Schlagloch] liegt das „Stolpern über etwas“ verborgen. Wer stolpert, | |
erlebt immer etwas mehr Freiheit als einer, der schnurstracks zum Ziel | |
eilt. Stolpern, das ist eigentlich eine Bewegungssequenz, die mit dem | |
Aufrichten und Sich-Umsehen endet: Worüber ist man denn so gestolpert? Dank | |
der Scham ist man dem kindlichen Blick recht nah. | |
Hätte ich eher über „das Schlagloch“ an sich nachgedacht, hätte ich mich | |
nicht jedes Mal nur mit meinen [3][politischen Analysen] befasst. Durch | |
Analysen schwebt man ja über dem Asphalt. Man fährt nicht darauf herum. Man | |
steht am Rand und beurteilt, was andere so zusammenfahren. Auch eine gute | |
Position, aber nicht ganz das, was das Schlagloch ist, selbst dann, wenn es | |
einem gelingt, es zu umfahren. | |
Ich denke zurück an ein Theaterprojekt, das ich vor Jahren mit Freunden in | |
Rumänien realisiert hatte; wir fuhren an einem freien Tag in einem kleinen | |
Wagen zu einem Gebirge nahe Hermannstadt (Sibiu). Ich habe nie wieder im | |
Leben eine so verschlaglöcherte Straße gesehen. Auf der Rückfahrt, es war | |
Nacht, saß ich quasi mit der Stirn an der Windschutzscheibe neben der | |
Fahrerin und lotste sie um die Schlaglöcher herum. Es waren eher kleine | |
Krater im Asphalt, die den Mietwagen fast aufgefressen hätten. Man will da | |
nicht reinfallen. Das war, nebenbei, eine meiner ersten Lektionen in Sachen | |
EU: Man poliert die Kulturhauptstadt für Europas Touristen, aber das Umland | |
lässt man an einer Kette von Schlaglöchern verhungern. | |
Ja, ich hätte hier sicher mehr von den Schlaglöchern des Alltags | |
geschrieben. Wobei so ein Begriff, wenn man sich ihm annähert, sich | |
zunächst immer ein wenig entfernt. | |
Es ist eine seltsame Gewohnheit von mir, einen Begriff, der mehr als | |
dreimal in einem Text vorkommt, plötzlich zu googeln, als wäre ich mir | |
nicht sicher, ob ich ihn verstehe. Sobald ich mich auf einen Begriff zu | |
sehr verlassen will, aktiviert sich eine Art Grundmisstrauen gegen meine | |
Wortauffassung: Was, wenn ich diesen Begriff irgendwie falsch abgespeichert | |
habe? | |
Ich google „Schlagloch“ und sehe: Schlaglöcher sind in der Tat diese Risse | |
im Asphalt. Manche sehen aus wie Erdwunden. Die Suchmaschine wirft sofort | |
entsprechende Bilder aus, wenn man „Schlagloch“ eintippt. | |
Ich lerne auf den Autofahrerdienstleitungsseiten, die aufpoppen, dass es | |
versicherungsrechtlich ziemlich bescheuert enden kann, in so ein Schlagloch | |
zu fallen mit dem Auto; ich lerne auch, dass man nicht einmal in der | |
eigenen Straße mit einem Eimer Teer rausdürfte, um das Schlagloch | |
zuzuschütten, dafür sei die Kommune zuständig – was mir eine grundsätzlic… | |
Problematik dieses Landes wieder vor Augen führt: Für alles ist irgendeine | |
Behörde zuständig. | |
Man macht sich sogar strafbar, wenn man es gut machen will, und so sitzen | |
alle jammernd oder motzend vor ihren Schlaglöchern und belästigen oder | |
beschimpfen die Zuständigen, die naturgemäß zu spät kommen, weil sie für zu | |
viele und zu vieles zuständig sind. So lässt sich eine Gesellschaft mittels | |
Zuständigkeiten auch lähmen. | |
Ich stolpere physisch viel weniger seit diesem zweiten Lockdown, allein | |
deshalb, weil ich mich weniger bewege. Gleichzeitig ist diese monatelange | |
Coronazeit wie ein Schlagloch an sich. Weiß nicht, wie ich reinfiel, noch | |
weiß ich, wie ich rauskomme oder wann. Ich versuche mir vorzustellen, wie | |
ein Schlagloch beschaffen sein müsste, das sich beim Autofahren anfühlen | |
würde wie diese Pandemie. Aber nicht einmal diese Fantasie bekommt ihren | |
Raum, weil ich schon an die Autohasser denke und wie sie sagen werden, ich | |
solle nicht mit Autos in den Gehirnwindungen fantasieren. | |
Ich bewundere diese Resolutheit. Ich hatte wohl immer zu viel Respekt vor | |
der Tatsache, dass das Leben des anderen nun einmal das Leben des anderen | |
ist und somit ist es das Auto der anderen. Es sind aber unsere Straßen, | |
klar, womit wir wieder bei den Schlaglöchern wären, denn irgendjemand muss | |
sie instand setzen und alle müssen dafür bezahlen. Diese Interdependenz | |
entwickelter Gesellschaften ist manchmal eine Zumutung für eine wie mich, | |
die gerne alle im Laissez-faire-Modus leben lassen würde. | |
Wahrscheinlich rührt das von einer Verklärung aus meiner Kindheit: Im | |
ehemaligen Jugoslawien haben Leute einfach mal so Häuser in die Landschaft | |
gebaut, weil das Land ja leer stand. Sehr plausibel fand ich das als Kind. | |
In Deutschland hingegen durfte man nicht einmal das Fahrrad vor einem | |
Schmuckladen parken, in dem man gleich 200 Euro für eine Kette liegen | |
lassen würde. | |
Gestern Nacht auf Twitter kam aus den USA ein GIF, das Rita Hayworth | |
zeigte, wie sie in dem Film „The Lady from Shangai“ in einer Kutsche über | |
die Straßen gefahren wird. Dem Ruckeln nach muss es eine schlaglochreiche | |
Straße gewesen sein. Hayworth sitzt da, ein heller Frauenkörper im Dunkel | |
der Nacht, den Kopf ratlos gen Himmel gestreckt. Am Bildrand waren ihre | |
Gedanken zu lesen: „I was not in my right mind.“ | |
Jeder kennt diese Momente. Momente, die so intensiv sind, dass man, wenn | |
man die Situation verlässt, noch keinen Sinn herstellen kann. | |
Schlagloch-Momente. Wer hätte das alles etwa im Januar noch kommen sehen? | |
Je länger die Pandemie sich entspinnt, desto ver-rückter kommen mir die | |
meisten vor. Sei es im Versuch, vernünftig zu sein (als wäre dieser | |
Wahnsinn irgendwie normal), oder im Versuch, das Ganze zu leugnen. In den | |
sozialen Medien ruckelt es heftig, jeder dritte Tweet ein Schlagloch. Es | |
ist offensichtlich, dass das Leben derzeit vielen auf so viele Weisen in | |
die Fresse schlägt. Wobei: Lieber über ein Schlagloch stolpern als auf die | |
Fresse fallen. | |
26 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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