# taz.de -- NS-Verbrechen und rechte Gewalt: Rassismusbekämpfentheater | |
> Horst Seehofers Bekenntnis zum Kampf gegen Rassismus und Faschismus ist | |
> reichlich halbherzig. Dabei wäre eine konsequente Haltung notwendig. | |
Bild: Esther Bejarano auf der Bühne der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Jahr 2016 | |
„Was geht in den Menschen vor, wenn Menschen anderen Menschen das | |
Menschsein absprechen?“ Das ist so ein Satz von Esther Bejarano. Eine ihrer | |
klaren, schlichten Antworten auf die Frage, was Faschismus genau ist. | |
[1][Esther Bejarano hat erlebt, was Faschismus ist]. | |
Bejarano hat Auschwitz überlebt. Sie hat überlebt, dass Nazis ihr | |
musikalisches Talent missbrauchten: Im Mädchenorchester musste sie spielen, | |
als Gefangene in den Tod geschickt wurden. Als wäre das Töten eine | |
Inszenierung. Sie hat den Tag der Befreiung als ihre zweite Geburt erlebt. | |
Das Talent, das sie in den Lagern entdeckt und das ihr das Leben gerettet | |
hat, nutzt sie heute, um mit jüngeren Menschen eine Verbindung zu suchen. | |
Sie rappt. Sie will, dass man „schunkelt“ zu ihren Liedern. „Nach Auschwi… | |
wollte ich mich an den Nazis rächen. Das habe ich natürlich nicht getan. | |
Oder doch. So lange über das Grauen der Faschisten reden zu dürfen, das ist | |
meine Rache“, sagt sie heute. Ihre Rache besteht auch darin, das Leben zu | |
lieben. Und es mit anderen zu feiern. | |
Wer eine Stunde mit der bald sechsundneunzigjährigen Frau spricht, ihren | |
Kampf gegen Rassismus und Faschismus erlebt, der wird das Wort | |
Antifaschismus nie wieder infrage stellen. Ich durfte sie diese Woche | |
kennenlernen bei der Verleihung des diesjährigen Hermann-Maas-Preises in | |
Heidelberg. Ich war Teil der Jury, ich bin daher insofern befangen, als ich | |
die Arbeit dieser Frau und ihre Kraft bewundere. Sie ist eine der letzten | |
Zeitzeuginnen. Wenn wir als Gesellschaft das Glück haben, wird sie noch | |
einige Jahre bei uns sein, denn ihr Ziel, so sagt sie im Gespräch, sei | |
weiterzukämpfen, „bis es keine Nazis“ mehr gibt. Ein wenig utopisch, sagt | |
sie. | |
In Deutschland, dem Land, in dem der Faschismus Menschen auf grausame Weise | |
ermordet hat, in dem während der Naziherrschaft Bürokratie zum Synonym für | |
eiskaltes Morden wurde, sollte so ein Ziel nicht so utopisch sein. Es | |
sollte das Ziel eines jeden Demokraten in diesem Land sein. So steht es in | |
der deutschen Verfassung. Doch die Regierung, so Bejarano, tue nicht genug | |
gegen Rassismus und Faschismus. Im Gegenteil, sie bekämpfe etwa den Verein, | |
dessen Ehrenvorsitzende sie sei: die Vereinigung der Verfolgten des | |
Nazi-Regimes (VVN-BdA). Dem Verein wurde letztes Jahr die Gemeinnützigkeit | |
aberkannt. Bejarano schrieb damals einen offenen Brief an den | |
Finanzminister und heutigen SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz: „Das Haus | |
brennt – und sie sperren die Feuerwehr aus.“ | |
## Vereinigung der Überlebenden | |
Es ist ein Verein, den die Überlebenden von Konzentrationslagern gegründet | |
haben. Der bayerische Verfassungsschutz soll maßgeblich daran beteiligt | |
sein, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Organisation als | |
„extremistisch“ aufführt. Steuernachzahlungen im fünfstelligen Bereich | |
werden gefordert. Mitarbeiter in Finanzministerien wissen erfahrungsgemäß, | |
wie man zivilgesellschaftliche Organisationen in die Knie zwingt oder | |
stärkt. Zu Recht lässt Bejarano im Gespräch die Frage im Raum stehen, wie | |
sich so viele rechtsextreme Netzwerke und Strukturen halten können. Die | |
Regierung tut nicht genug, sagt sie. | |
Für eine Überlebende ist der Kampf gegen Rassismus naturgemäß nie genug. | |
Diese Kompromisslosigkeit der Zeitzeug:innen ist auch ein Grund dafür, dass | |
die Bundesrepublik heute eine der stabilsten Demokratien weltweit ist. Hier | |
konnte man von Überlebenden lernen: Demokratien stehen nie von selbst, sie | |
stehen nur, wenn die Bevölkerung klug über die Herrschenden wacht. | |
Zeitzeug:innen wie Bejarano gehen von uns. Doch sind wir, die nächsten | |
Generationen, mit genug Wissen und Sensoren ausgestattet, um diesen Kampf | |
fortzusetzen? Wer keine eigene Erfahrung mit Faschismus hat, dessen Haut | |
ist vermutlich etwas dicker, oder es wird gern vorgeworfen, seine Humanität | |
sei nur Pose. Schreiten wir früh und laut genug ein, wenn es darum geht, | |
antidemokratische Strukturen zu bekämpfen? | |
Die Bundesregierung verkündet auf ihrer Homepage stolz, dass sie nun einen | |
„Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ | |
unter dem Vorsitz der Bundeskanzlerin habe. Diese Woche hatte die Regierung | |
Gelegenheit, unter Beweis zu stellen, wie ernst sie es mit dem Kampf gegen | |
Rechtsextremismus meint. Von Rassismus Betroffene verlangen nicht erst seit | |
Hanau und Halle eine [2][Rassismus-Studie bei der Polizei]. Die Koalition | |
macht aus solchen zivilgesellschaftlichen Forderungen gerne Kompromisse, | |
wie gerade geschehen. Dieser ist jedoch besonders perfide. | |
## Rassismusstudie bei der Polizei | |
Der Autor Max Czollek fasst das Perfide an diesem „Kompromiss“ auf seinem | |
Twitter-Account kurz zusammen: „Die Studie, die wir bekommen = Welche | |
Erfahrungen von Hass & Gewalt machen Polizisten eigentlich? OB IHR UNS | |
VERARSCHEN WOLLT, HABE ICH GEFRAGT?!“ Die Frage in GROSSSBUCHSTABEN ist | |
berechtigt. Damit Horst Seehofers Handschrift bei dem Kompromiss gut | |
erkennbar ist, sollen die Geheimdienste zugleich mehr | |
Überwachungsbefugnisse bekommen. Im Zweifelsfall werden somit Minderheiten | |
über ihren „Hass auf die Polizei“ ausgespäht. Die Bundesregierung | |
inszeniert Anti-Rassismus-Arbeit. Was sie eigentlich tut: Sie | |
instrumentalisiert den Wunsch der von Rassismus Betroffenen, um den | |
Geheimdiensten mehr Eingriffe ins Private zu ermöglichen. | |
„Alle Menschen müssen wissen, dass es auf sie ankommt. Jeder Einzelne | |
zählt“, sagt Ester Bejarano. Jeder Einzelne müsse immer, wenn er mit | |
Rassismus oder Faschismus konfrontiert sei, die Stimme erheben. Eine | |
Bundesregierung, die sich den Kampf gegen Rassismus auf die Fahnen | |
schreibt, sich aber windet und drückt, wenn es um entschlossenes Handeln | |
geht, hat solche Zeitzeuginnen wie Bejarano nicht verdient. Gern benutzt | |
man sie, um zu zeigen, wie vorbildlich Deutschland den Nationalsozialismus | |
aufgearbeitet habe. | |
Doch man verhöhnt die Überlebenden, wenn man im Hier und Jetzt nicht | |
entschlossen gegen Rassismus vorgeht und dabei auch noch so tut, als ob. | |
21 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Aberkennung-der-VVN-Gemeinnuetzigkeit/!5640617 | |
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## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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