# taz.de -- Transparency-Chefin über Finnland: „Ich bevorzuge eine Streitkul… | |
> Anna-Maija Mertens ist Geschäftsführerin von Transparency Deutschland und | |
> Finnin. Was für nationale Eigenheiten gibt es da in puncto Korruption? | |
Bild: Anna-Maija Mertens | |
taz: Anna-Maija Mertens, Sie haben in Deutschland studiert und von 2010 bis | |
2014 das Finnland-Institut in Berlin geleitet. Heute sind Sie | |
Geschäftsführerin von Transparency International Deutschland. Warum | |
wechselten Sie von der eher nationalstaatlich orientierten Kulturarbeit zu | |
einer supranational tätigen Antikorruptions-NGO? | |
Anna-Maija Mertens: Auch die Arbeit des Finnland-Instituts habe ich nicht | |
als rein nationale Angelegenheit begriffen. Eher als einen Dialog zwischen | |
deutschsprachigen und finnischen Kulturen. Es gibt siebzehn | |
Finnland-Institute weltweit und die stehen ebenfalls in einem | |
internationalen Austausch. | |
Das Finnland-Institut wird wie das deutsche Goethe-Institut staatlich | |
finanziert? | |
Ja, aber dazwischen gibt es eine von der Politik unabhängige Stiftung, die | |
die Eigenständigkeit der Arbeit garantiert. | |
Wie würden Sie die Tätigkeit von Transparency Deutschland kurz umreißen? | |
Unsere Hauptaufgabe ist der Kampf gegen Korruption. Wir versuchen | |
vorrangig, strukturelle Veränderungen voranzutreiben, weniger eigene | |
investigative Untersuchungen. Wir wollen Einfluss auf die Gesetzgebung | |
nehmen, Bedingungen fördern, die die Korruption verhindern oder eindämmen. | |
Und dass sie dort, wo sie existiert, bestraft wird. | |
Quasi die Arbeit einer Lobbyorganisation? | |
Richtig. Wir begreifen uns als überparteilich und stehen im Austausch mit | |
Institutionen und Behörden. Derzeit begleiten wir beispielsweise das | |
Vorhaben des deutschen Wirtschaftsministeriums, ein zentrales Register zu | |
erstellen. Es erfasst Firmen, die im Zusammenhang mit Korruption negativ | |
auffielen. Damit künftig an diese keine öffentlichen Aufträge mehr ergehen. | |
Eine Bundesdatei gab es dazu bislang nicht? | |
Nein. Dabei ist Korruption gerade überregional und international ein großer | |
Faktor, überall, wo viel Geld und Macht zusammenkommen. Bei uns im Verein | |
arbeiten fast nur ehrenamtliche Mitarbeiter. Deutschlandweit haben wir 34 | |
regionale oder thematische Gruppen. Unsere Experten beschäftigen sich | |
damit, etwa Vorschläge zur Bekämpfung von Korruption in Wissenschaft, | |
Politik, Medien oder im Gesundheitswesen zu erstellen. | |
Sie veröffentlichen auch jährlich ein Länderranking, einen | |
Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) nach Staaten? | |
Ja, wobei mein russischer Kollege mir einmal zu Recht sagte: Anna-Maija, | |
ihr seid unfair. Als Russen sind wir bei diesem CPI-Ranking immer ganz | |
schlecht und ihr Deutschen und Finnen ganz gut. Aber ohne das | |
internationale kriminelle Netzwerk in euren Staaten wären unsere russischen | |
Korrupten niemals so erfolgreich. Eure Banken empfangen deren Geld mit | |
Kusshand und fragen nicht, woher die ihr Vermögen haben. | |
Finnland und die Bundesrepublik sind nach dem Korruptionsindex eher | |
Musterschüler? | |
Deutschland stagniert auf dem relativ guten Platz 10, Finnland ist derzeit | |
Drittbester. Aber der Länderkorruptionsindex bewirkt auch etwas in Staaten | |
wie Russland. Auch wenn mein russischer Kollege völlig recht hat: In der | |
globalisierten Ökonomie müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit | |
Kriminelle ihr Geld nicht in Staaten anlegen oder waschen, die wie Finnland | |
oder Deutschland als sauber gelten. Ab 1. Juli tritt in Deutschland ein | |
Gesetz in Kraft, nach dem Vermögen aus dem Ausland ihre rechtmäßige | |
Herkunft nachweisen müssen. Bislang musste man handfeste Beweise haben, | |
bevor das Geld konfisziert werden konnte, auch wenn konkrete Hinweise für | |
den kriminellen Ursprung des Geldes vorlagen. | |
Sie leben seit 1995 in Deutschland, also über die Hälfte Ihres Lebens. Wie | |
sehr unterscheiden sich finnische und deutsche Gesellschaft bei Themen wie | |
Gerechtigkeit oder Offenheit? | |
Finnland ist eine sehr starke Konsensgesellschaft. Man versucht alle | |
einzubeziehen, streitet nicht so gern. Das hat Vorteile. Aber auch | |
Nachteile. Es gibt zu wenig Debatte. Konsensziele werden oft vorverhandelt. | |
Ich bevorzuge eine Streitkultur wie in Deutschland. | |
Über die manche auch klagen, sie sei zu direkt und konfrontativ? | |
Ich finde es gut, wenn man gegensätzliche Argumente ins Spiel bringt, durch | |
„Streit“ zu neuer Erkenntnis gelangt. Auch von der Auseinandersetzung der | |
Deutschen mit ihrer Geschichte könnten die Finnen eine Menge lernen. | |
Umgekehrt mag ich an Finnland die größere Chancengleichheit, den offeneren | |
Zugang zu Kultur und gleicher Bildung für alle. | |
Das in Deutschland um sich greifende Privatschulmodell ist nicht gegeben? | |
Die ersten kommen langsam. Aber noch garantiert der Staat eine im Idealfall | |
gleich hohe Qualität für alle. Wir sind von der Fläche genauso groß wie | |
Deutschland, haben aber nur 5,3 Millionen Einwohner. Die Philosophie in | |
Finnland heißt: Wir brauchen jeden. Der Staat achtet darauf, dass alle an | |
die modernen Informations- und Kommunikationskanäle angeschlossen sind. | |
Auch in den entlegenen Ecken des Landes. Gleichzeitig werden weiterhin | |
Bibliotheken gebaut, Zeitungen, Bücher in Räumen mit Computern, Internet | |
und Cafe. | |
Und in puncto Korruption, sehen Sie da prägnante Unterschiede zwischen | |
Deutschland und Finnland? | |
Auch wieder in der Offenheit. In Finnland ist zum Beispiel einsehbar, wer | |
in welcher Höhe Steuern zahlt. Es gibt kein Steuergeheimnis. Man kann | |
wissen, was der Nachbar verdient. Das könnte die Ehrlichkeit im Umgang mit | |
finanziellen Dingen befördern. Ebenso die Transparenz bei öffentlichen | |
Ausgaben: Wer weiß, dass seine Steuern vernünftig verwendet werden, ist | |
eher bereit zu zahlen. Wenn man hier Geheimnisse pflegt, bleibt am Ende | |
immer die Frage: Wer kontrolliert eigentlich den Kontrolleur. Auf der | |
anderen Seite sind die Schwächen von Finnland die des kleinen Landes: Da | |
jeder jeden kennt, entsteht Vetternwirtschaft, die die Transparenz wiederum | |
nicht wirklich fördert. Und da es so wenige Menschen sind, gibt es aus | |
meiner Sicht generell zu wenig Sensibilität für Interessenkonflikte. | |
Finnland existiert als selbstständiger Staat an der nordöstlichen | |
Peripherie Europas erst seit 1917. Von Geografie und Natur nicht | |
begünstigt, eingeklemmt zwischen Schweden und Russland blickt es dennoch | |
auf eine relative Erfolgsgeschichte – zumindest seit 1945 – zurück. Woran | |
liegt das? | |
Vielleicht, weil man immer aktiv bleiben musste. Auch politisch. Wir teilen | |
mit Russland eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Gerade über Russland gibt | |
es sehr unterschiedliche Ansichten. Viele aus meiner Generation finden die | |
frühere Politik Kekkonens gegenüber der Sowjetdiktatur nach 1945 | |
fürchterlich. Kleinheit und Konsensgesellschaft verhinderten in Finnland | |
lange die offene Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg von 1918 oder mit | |
dem Verhalten gegenüber Nazideutschland und der Sowjetunion. | |
Liest man das Buch „Finnlands Geschichte“ des Historikers Henrik Meinander, | |
so glaubt man, einen gewissen Opportunismus zu erkennen: Die Duldung der | |
staatlichen Eigenständigkeit wurde durch Kritiklosigkeit gegenüber Moskau | |
und guten Geschäften Finnlands mit Moskau erkauft. | |
Wobei die Älteren dann gern entgegnen: Was hätten wir denn tun sollen? | |
Finnland wäre Sowjetsatellit geworden. Pragmatisch zu handeln, ist eine | |
Sache. Aber Gründe für Kompromisse zu verschweigen, eine andere. Mein | |
Großvater mütterlicherseits hat bei den Roten gekämpft, mein Großvater | |
väterlicherseits bei den Weißen. Das ist in vielen finnischen Familien so. | |
Und bis vor Kurzem wurde darüber zumeist geschwiegen. Auch in meiner | |
Familie. Wie kann man miteinander verheiratet sein, ohne solch große Themen | |
anzusprechen? Wenn das Thema auf Russland kam, haben sie miteinander | |
geflüstert. | |
Wie würden Sie das heutige Verhältnis Finnlands zu Russland | |
charakterisieren? | |
Finnland hat sich eindeutig positiv zu den EU-Sanktionen gegen Russland | |
verhalten, auch wenn die Wirtschaft dadurch Verluste hatte. Heute gibt es | |
eine starke Verankerung Richtung Europäische Union. Doch eine | |
Mitgliedschaft in der Nato würde das Land emotional überfordern, in zwei | |
gleich große Lager von Gegnern und Befürwortern spalten. | |
In Finnland gibt es ein ultra-nationalistisches Phänomen, die „Wahren | |
Finnen“. | |
In der direkten Übersetzung heißen sie eigentlich „Basis Finnen“. Das | |
klingt etwas anders als „Wahre Finnen“. Sie sind Populisten, aber nicht | |
alle rechtsradikal. Sie greifen aktuelle Stimmungen auf, ob sie nun mehr | |
von links oder rechts kommen, ist ihnen egal. Hauptsache, es passt in ihr | |
Vorurteilsschema. | |
Die „Basis Finnen“ in der Koalition mit Ministerpräsident Juha Sipilä | |
haben sich gerade gespalten. Ist ihr Stern am Sinken? | |
Konstruktiv mitregieren zu müssen, ist für Extremisten immer riskant. Aber | |
es war dennoch ein Fehler von Sipilä, ihnen die Tür zur Koalition | |
aufzumachen. Die „Basis Finnen“ sind offen für rechtsradikale Parolen. Zur | |
Selbstverteidigung muss es für Demokratien aber eine „rote Linie“ geben. | |
Die traditionellen Parteien haben zudem der Rhetorik der „Basis Finnen“ den | |
Weg bereitet, indem sie sich laufend selbst von der EU distanziert und | |
Brüssel die Schuld für Dinge zugeschoben haben, für die die EU-Kommission | |
nichts kann. Wir leben in einer globalisierten Welt. Die Politik muss den | |
Menschen erklären, dass dies eine Interaktion mit sich bringt: Die Welt | |
kommt auch zu uns. Und das birgt vor allem auch Chancen. | |
Eine Frage in Zeiten des zunehmenden Lichts: Welche Rolle spielt | |
Mittsommer, der diese Woche bevorstehende längste Tag des Jahres, im Leben | |
einer langjährigen Auslandsfinnin wie Ihnen? | |
Das Mittsommerfest ist eine hochemotionale Angelegenheit. Egal wie kritisch | |
ich die finnische Gesellschaft sehe, Mittsommer weckt Heimatgefühle in mir. | |
Wie sieht ein klassisches Mittsommerfest in Finnland aus? | |
Man ist auf keinen Fall in der Stadt, die Städte sind leer. Die Touristen | |
stehen an diesem Tag in Helsinki und fragen sich: Wo sind denn all die | |
Finnen hin? Nun, die sind auf dem Land, mit ihren Familien, in ihren Mökkis | |
am See, in ihren häufig ganz einfachen Hütten in der Natur und so weit wie | |
möglich weg von anderen. Finnen lieben die Ruhe. Dann sind sie dort, heizen | |
die Sauna an, machen ein Feuer, grillen Würste, machen Witze über sich | |
selbst, lachen und trinken. Und springen in den See. | |
20 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Transparency International | |
Lesestück Interview | |
Finnland | |
Schwerpunkt Korruption | |
Finnland | |
Popfestival | |
Norwegen | |
Design | |
Sommerzeit | |
Russland | |
Nigeria | |
Unternehmen | |
Europäische Kommission | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Oodi-Bibliothek in Helsinki: Bollwerk gegen Populismus | |
Der Common Ground in der modernen demokratischen Stadtgesellschaft: Die | |
Finnen bauen die Bibliothek der Zukunft, digital und analog zugleich. | |
Flow Festival in Helsinki: Blumenkränze im Haar | |
100 Jahre Unabhängigkeit wollen gefeiert werden. Mit finnischen Musikern | |
oder Weltstars wie Frank Ocean: Eindrücke aus Finnland. | |
Nachbarschaft an der Grenze: Ein Geburtstagsberg für Finnland | |
Nur zu oft hat der Zufall den Stift geführt, als Menschen sich Trennlinien | |
auf der Erde ausdachten. Zeit, das zu ändern, findet ein Norweger. | |
Nordisches Design für Kinder: Frische Luft und Haferflocken | |
Die Ausstellung „Century of a Child“ in Berlin zeigt chronologisch Design | |
im gesellschaftlichen Wandel der letzten hundert Jahre. | |
Sicherheit bei der Fête de la Musique: Polizeifahrzeuge statt Betonpoller | |
Konzerte an vielen Orten: Das kann man nicht komplett absichern, sagt die | |
Organisatorin. Bei anderen Veranstaltungen gibt es strengere Auflagen. | |
Korruption in Russland: Bestechung als Ordnungsprinzip | |
Vom Gouverneur bis zum Beerdigungsinstitut: Warum die allgegenwärtige | |
Korruption in Wladimir Putins Reich unausrottbar ist. | |
Kampf gegen Korruption: Nigeria will Whistleblower bezahlen | |
Eine Whistleblower-Richtlinie erlaubt künftig Zahlungen an Informanten. Sie | |
soll helfen, die Korruption zu bekämpfen. | |
Gesetzentwurf zu korrupten Firmen: Ein Register für Missetäter | |
Ein Gesetzentwurf sieht vor: Korrupte Unternehmen sollen künftig in einer | |
bundesweiten Liste erfasst werden. Kritikern reicht das nicht. | |
Politiker in der Wirtschaft: Bei Google kennt man die EU sehr gut | |
Immer mehr Europapolitiker wechseln nach ihrer Amtszeit zu Lobbyfirmen. Das | |
hat absurde Folgen – und nährt den Politikverdruss. |