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# taz.de -- Oodi-Bibliothek in Helsinki: Bollwerk gegen Populismus
> Der Common Ground in der modernen demokratischen Stadtgesellschaft: Die
> Finnen bauen die Bibliothek der Zukunft, digital und analog zugleich.
Bild: Die neue Zentralbibliothek Oodi in Helsinki
Was machen die Finnen? Sie lesen und bauen neue Bibliotheken. Kari Lämsä
ist Service-Manager der neuen Zentralbibliothek Oodi in Helsinki. Die Oodi
kann sich im vorweihnachtlichen Helsinki vor Besucher*innen kaum retten.
Dabei ist der imposante modernistische Bau, wie Lämsä erklärt, gegenüber
dem Parlament in Finnlands Hauptstadt noch gar nicht ganz fertig. Doch zur
offiziellen Eröffnung jetzt am 5. Dezember schaffte es die Oodi gleich auf
die Titelseite der New York Times.
Lämsä führt nun eine Gruppe ausländischer Besucher durch die hohe
Eingangshalle des multifunktionalen Baus. Vorbei an einem EU-Infopoint,
beweglichen Konferenzräumen, Kino und Café geht es über eine großzügige
Wendeltreppe nach oben in das Zwischengeschoss der riesigen neuen
Zentralbibliothek von Helsinki.
Die Oodi wird, so Lämsä, digitale und analoge Kulturen zusammenführen. Für
Alte und junge Menschen will sie der Marktplatz für Kommunikation, Ästhetik
und kreative Ideen sein. Das Zwischengeschoss der neuen Oodi ist dafür von
zentraler Bedeutung.
## Tonstudios und 3D-Printer
Es beherbergt, wie Lämsä zeigt, den künftigen „maker space“: Tonstudios …
Musiker*innen, Küchen für Kochkurse, Computer- und Spieleräume, Textil- und
3D-Printer, Plotter, Arbeitsplätze mit Overlock-Nähmaschinen,
Schneidegeräte und Hightech-Räume, deren gläserne Wände aus Bildschirmen
bestehen, ein herausragendes elektronisches Equipment also für kreatives
Hirn- und Handwerk. Aber auch grüne Ecken mit vertikaler Botanik oder
Möglichkeiten zum Abhängen, worauf Juho Grönholm von ALA-Architekten
hinweist, ebenso wie die Möglichkeit, Yoga auszuüben.
Für die Inhaber einer (in Finnland kostenlosen!) Bibliothekskarte sind
Arbeitsplätze und Geräte im Zwischendeck der Oodi frei nutzbar und digital
zu reservieren.
Oodi, die Bibliothek der Zukunft, ist ein Konglomerat aus Begegnungs-,
Wissens- und Produktionsstätte, verpackt im avantgardistischen Design der
ALA-Architekten. Der große, geschwungene Bau aus Glas, Stahl und einer
wärmenden Holzfassade setzt Maßstäbe.
Er ist das Resultat eines 20-jährigen Diskussionsprozesses der Bürgerschaft
Helsinkis. Eine überwältigende Mehrheit votierte für die Errichtung der
Bibliothek an dem zentralen Ort gegenüber dem Parlament und für den Entwurf
der ALA-Architekten, die den Architektenwettbewerb 2013 gewannen. Mit 98
Millionen Euro Kosten wurde der Bau in relativ kurzer Zeit realisiert.
## Ruhe und Action
Oodis Nutzungskonzept fußt auf einem erweiterten Bibliotheksbegriff. „Wir
haben im Planungsprozess die Leute nach ihren Wünschen und Träumen
befragt“, sagt Service-Manager Lämsä. „Und“, so Lämsä weiter, „sie
wünschten sich Ruhe und Action.“ Das ist natürlich ein Widerspruch, aber
gerade dieser Gegensatz kann attraktiv sein. Das begreift, wer nach dem
„maker space“ schließlich das luftige, gigantische Obergeschoss der neuen
Zentralbibliothek betritt.
Das Bibliotheksobergeschoss bietet mit seinen Glasfronten, geschwungenen
Decken und freien Sichtachsen einen grandiosen Blick auf die umliegenden
Bauten. Und dennoch schwelgt man hier nicht in einer Wolke der Erhabenheit
nordischer Architektur und Designs.
Es ist beeindruckend schön – und von Menschen belebt. Jugendliche hängen in
Lesesesseln mit ihren Laptops und Smartphones. Eine Armee geparkter
Kinderwagen steht vor der so geschmackvoll wie funktional eingerichteten
Lounge für junge und angehende Leser*innen. Kleinkinder und der
Geräuschpegel stören, wie Bibliothekschefin Anna-Maria Soininvaara sagt,
[1][in Finnland nicht].
Rund 100.000 Titel hält man im Obergeschoss der Oodi präsent, in halbhohen
Regalen und im offenen Verleih. Andere Titel aus den Beständen der
finnischen Bibliotheken können digital bestellt und hier ausgeliehen
werden. „Konzentriert gelesen wird eher zu Hause“, so Soininvaara. Oder in
speziellen Leseräumen der Bibliotheken.
## Kreativ und für Alle
Als Bollwerk gegen den Populismus bezeichnen junge Politiker*innen wie
Tommi Laitio oder Nasima Razmyar die finnische Bibliothekslandschaft. Oodi
sei nur das leuchtende neue Flaggschiff der insgesamt 853 (!) öffentlichen
Bibliotheken Finnlands, wie Razmyar meint. Die 35-Jährige ist
Sozialdemokratin und Vizebürgermeisterin für Kultur und Freizeit der Stadt
Helsinki.
„Mein Finnisch ist gut, weil ich von Anfang an im Stadtteil Käpylä Zugang
zu einer Bibliothek in der Nachbarschaft hatte“, sagt Razmyar. Und sie
merkt nicht ohne Stolz an, so heute selber zu einer [2][5,5 Millionen
Einwohner*innen zählenden Nation] zu gehören, die „einst sehr arm war, aber
heute sehr reich und die am stärksten literarisierte Gesellschaft der
ganzen Welt ist“.
Als achtjähriges Exilantenkind kam die gebürtige Afghanin nach Finnland.
Ihr Vater war bis zum Sturz des Regimes von Mohammed Nadschibullah 1992
Botschafter Afghanistans in Moskau. Für die finnische Öffentlichkeit ist
die junge Frau heute ein Role-Model für gelungene Integration.
Auch die Finnen haben ihre Diskurse mit den Neuen Rechten. Und damit diese
nicht zu stark werden, wurde neben Oodi in den letzten Jahren viel in die
Breite investiert. Im Stadtteil Maunula im Nordwesten Helsinkis ist an der
Rückfront eines Supermarktes 2016 das Maunulatalo-Haus eröffnet worden.
Nicht nur von der kompromisslos modernistischen Architektur wirkt es wie
eine Oodi, eine Ode im Kleinen.
## So machen es die Finnen
Zum Supermarkt hin wurde ein Loch in die Mauer geschlagen, so dass die
Konsument*innen direkt in die neue Bibliothek schauen können.
Bibliotheksleiterin Sari Jovero hat an diesem Morgen gerade eine
Kindergartengruppe zu Besuch. Ein Pädagoge liest ihnen Geschichten in einem
kuscheligen, aber nicht kitschig gestalteten Leseraum vor.
Das Maunulatalo-Haus ist Bibliothek, Volkshochschule, Café, „maker space“
und Jugendzentrum in einem. Die Leiterin der Vokslhochschule, Emmi Komlosi,
zeigt die mit elektronischem Equipment und moderner Technik hervorragend
ausgestatteten Räume. Wie im Stadtzentrum können auch hier Orchester
proben, Lesungen, Tanz- oder Theaterveranstaltungen stattfinden, sich
Gruppen oder Einzelne in Computer- oder Arbeitsräume zurückziehen. Jovero
und Komlosi berichten, dass man mit dem Bau der Begegnungsstätte auf
Berichte über sich anbahnende soziale Spannungen im Viertel reagierte.
Insgesamt 37 Stadtteilbibliotheken gehören zum Netz der zentralen Oodi in
Helsinki. Sie haben unterschiedliche Schwerpunkte, ob in Maunula oder im
innerstädtischen Stadtteil Töölö. Dort wurde die von Alvar-Aalto-Schüler
Aarne Ervi entworfene, 1970 eröffnete Stadtteilbibliothek gerade saniert.
Der Chic der klassisch-nordischen Moderne blieb dabei erhalten. Und ein
Blick in die von Anne Ala-Honkola geleitete Institution erweist, dass hier
trotz Oodi weiter Bedarf besteht. Auch das Literaturdenkmal Töölö lebt und
ist bestens frequentiert.
Und so machen es halt die Finnen in ihren dunklen, langen Winternächten:
Sie gehen in ihre strahlenden Bibliotheken. Und lesen. Ob analog oder
digital, ist ihnen egal.
17 Dec 2018
## LINKS
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[2] /Transparency-Chefin-ueber-Finnland/!5418595
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Finnland
Gegenwartsliteratur
Architektur
Helsinki
Leerstand
Schwerpunkt Flucht
Transparency International
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