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# taz.de -- Transfeindlichkeit in Brasilien: Identitätspolitik von rechts
> Brasilien galt als liberales Vorbild. Die Ehe für alle wurde bereits 2011
> eingeführt – gleichzeitig gibt es in keinem Land so viel Gewalt gegen
> LGBTQ.
Bild: Gay Pride Parade in Sao Paulo, Brasilien
Berlin taz | Zwei Kinder stehen auf einem Zebrastreifen, im Hintergrund
sieht man Erwachsene in rosa- und blaufarbenen T-Shirts. Eines der Kinder
hält einen Banner in der Hand, darauf steht: „Trans Kinder existieren.“ Das
Foto wurde am 11. Juni auf der Pride-Parade in [1][São Paulo] aufgenommen.
Nichts spektakuläres könnte man sagen, doch die Aufnahme hat eine heftige
Debatte im ganzen Land ausgelöst.
Bei der [2][Pride] zogen Millionen Menschen durch die Straßen der
Megametropole, im Block angemeldet von der NGO Minha Criança Trans („Mein
trans Kind“) waren auch Eltern mit Kindern dabei. Bereits 2022 war die
Gruppe auf der Parade, jedoch weitgehend unbemerkt. Das sollte in diesem
Jahr anders sein.
Rechtsradikale Politiker*innen posteten das Foto der zwei Kinder auf
ihren Kanälen. So zum Beispiel Eduardo Bolsonaro, Sohn des ehemaligen
Präsidenten Jair Bolsonaro und einer der wichtigsten Köpfe der extremen
Rechten in Südamerika. Er schrieb: Linke Politiker wollten Kindern
erlauben, ohne elterliche Erlaubnis eine Geschlechtsumwandlung
durchzuführen. Eine Lüge, die schnell die Runde machte. Der Tenor vieler
Kommentator*innen: Es gebe keine trans Kinder, sie seien von den Linken
manipuliert.
„Natürlich gibt es trans Kinder, ich war ja selbst eins“, sagt Fernanda de
Moraes der taz. Die 51-Jährige ist Generalsekretärin der Nationalen
Assoziation für Travestis und Transsexuelle (Antra). Laut ihren
Beobachtungen nehmen die Attacken auf trans Menschen in Brasilien zu.
Während es einerseits durchaus Fortschritte gibt, hat die Rechte rund um
die Welt die Themen Gender und Transfeindlichkeit verstärkt für sich
entdeckt.
## konservative Familienbilder und eine rigide Sexualmoral
Diese Identitätspolitik von rechts hat verschiedene Triebfedern:
Antimodernismus, konservative Familienbilder, eine rigide Sexualmoral. Es
soll auch der Eindruck entstehen, man befinde sich inmitten eines
Kulturkampfes gegen das „woke Establishment“. Mit einem fast schon von
Obsession getriebenen Eifer werden insbesondere trans Menschen als Ziel
ausgemacht. Für die extreme Rechte ist das Thema auch deshalb so zentral,
weil es anschlussfähig in bürgerlich-konservative Milieus ist.
Ein Begriff fällt besonders häufig: „Genderideologie“. Dieser Kampfbegriff
imaginiert ein ausgetüftelten Plan linker und liberaler Kräfte, mit dem
Ziel die Gesellschaft tiefgreifend umzugestalten und die „traditionelle
Familie“ zu zerstören. Gleichstellungspolitik und LGBT-Rechte werden als
Gefahr für die „natürliche Ordnung der Gesellschaft“ präsentiert. Da
keinerlei Belege für einen „großen Plan“ gibt, ordnen
Wissenschaftler*innen den Diskurs häufig als Verschwörungsmythos ein.
Welche Auswirkungen die Debatte um eine vermeintliche Genderideologie haben
kann, sieht man in Brasilien. 2018 wurde der Diskurs zu einer der
wichtigsten Waffen des Rechtsaußen-Kandidaten Jair Bolsonaro. Die Linken,
hieß es, würden Kinder und Jugendliche dazu anstiften, ihr Geschlecht zu
wechseln, homosexuell zu werden und verfrühte sexuelle Praktiken fördern.
Über die sozialen Medien verbreiteten Bolsonaro und Co wildeste Lügen.
Ein Bildungsprogramm, um Homofeindlichkeit an Schulen zu bekämpfen, wurde
kurzerhand zu einem Projekt zur „Frühsexualisierung“ von Kindern
umgedichtet. Viele Brasilianer*innen glauben bis heute, die
Arbeiterpartei PT habe Babyfläschchen in Penisform in Kinderkrippen
verteilt. Die Debatte um Geschlecht und Sexualität war ausschlaggebend im
Wahlkampf und scharte in der konservativen Gesellschaft viele besorgte
Brasilianer*innen hinter Bolsonaro. Mit Erfolg, er gewann die Wahl.
Während seiner Amtszeit versuchte er einen erzkonservativen Umbau des
Staates einzuleiten. Nicht mit allem war er erfolgreich, doch viele
Expert*innen sind sich sicher: Er warf das Land weit zurück.
## Pride-Parade in São Paulo ist die größte der Welt
Dabei galt Brasilien einmal als liberales Vorbild. Die Ehe für alle wurde
bereits 2011 eingeführt, seit 2019 werden Homo- und Transfeindlichkeit als
Hassverbrechen eingestuft. In den großen Städten halten
gleichgeschlechtliche Paare völlig selbstverständlich Händchen, die
Dragqueen Pabllo Vittar ist eine der bekanntesten Popstars und die
Pride-Parade in São Paulo ist die größte der Welt. Auch trans Menschen sind
in kaum einem Land so sichtbar wie in Brasilien. Bereits in den 1980er
Jahren traten trans Frauen in TV-Shows auf und in den letzten Jahren haben
es [3][etliche trans Politiker*innen geschafft], in die Parlamente
einzuziehen.
Es gibt jedoch eine andere Seite: Das größte Land Lateinamerikas ist
weltweiter Spitzenreiter homo- und transfeindlicher Gewalt, [4][273 LGBT
wurden 2022 ermordet]. 90 Prozent der trans Frauen arbeiten als
Sexarbeiterinnen, nur 0,2 Prozent besuchen eine Universität. Laut einer
Studie von Antra liegt die Lebenserwartung von trans Menschen in
[5][Brasilien bei etwa 35 Jahren]. Und der Hass auf trans Menschen nimmt
zu. „Früher waren die Vorurteile eher versteckt. Seit der Amtszeit von
Bolsonaro leben viele ihren Hass offen aus“, sagt Antra-Mitarbeiterin
Fernanda de Moraes.
Im letzten Jahr [6][verlor Bolsonaro die Wahl]. Doch immer noch feuert die
extreme Rechte gegen trans Menschen – nun eben aus der Opposition heraus.
Wie in anderen Ländern nährt sie die Erzählung einer großen Verschwörung
der liberalen Elite. Auch im Parlament geht es oft zur Sache. Am 8. März
setzte sich der ultrarechte Abgeordnete und Bolsonaro-Freund Nikolas
Ferreira während einer Debatte eine Perücke auf und spottete über trans
Menschen.
Kürzlich erklärte der Pastor und Influencer Yago Martins: „Wir verstümmeln
die Biologie im Namen der Ideologie.“ Insbesondere Kinder sind ein
Reizthema. Dabei ist es auch in Brasilien alles andere als leicht, eine
Geschlechtsangleichung durchzuführen. Hormonblocker können erst mit 16
Jahren eingenommen werden und auch nur mit Zustimmung der Eltern. Operative
Wege sind erst mit 18 Jahren möglich. Laut Moraes gehe es den Rechten
allerdings auch überhaupt nicht um die Kinder, sondern ihre eigenen
politischen Interessen.
## Bolsonaros Scherbenhaufen
Seit dem 1. Januar regiert der [7][Sozialdemokrat Luiz Inácio „Lula“ da
Silva]. Um Bolsonaro zu schlagen, schmiedete er ein breites Bündnis, auch
mit konservativen Kräften. „Delikate Themen“, wie Schwangerschaftsabbrüche
und LGBT-Rechte, wurden im Wahlkampf vermieden, vor allem um der
evangelikalen Wählerschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Bolsonaros
Amtszeit hinterließ einen Scherbenhaufen. „Jegliche LGBT-Politik wurde von
ihm zerstört“, sagt die Aktivistin Moraes. „Alles muss nun neu aufgebaut
werden.“
Was ihr Hoffnung mache: Es gebe jetzt wieder ein Sekretariat für LGBT mit
einer trans Frau an der Spitze. Der Minister für Menschenrechte, Silvio
Almeida, hielt auf der Pride-Parade in São Paulo eine Rede. Es brauche aber
auch spezifische Gesetze für LGBT, sowie Reformen in der Bildungspolitik,
um Vorurteile abzubauen, meint Moraes. Denn die Gesellschaft müsse lernen,
dass trans Menschen dazugehören.
Und die Debatte über die Kinder auf der Parade in São Paulo? Viele Eltern
gingen in die Offensive, stellten sich vor ihre Kinder. Die NGO Minha
Criança Transschrieb auf Facebook, sie werde sich von den Angriffen nicht
einschüchtern lassen und nicht die Auseinandersetzung scheuen. „Wir werden
weiterhin rufen: trans Kinder und Jugendliche existieren!“
28 Jun 2023
## LINKS
[1] /Prozessbeginn-gegen-Ex-Praesident-Bolsonaro/!5942677
[2] /Queere-Demos/!5940003
[3] /Transfeindlichkeit-in-Brasilien/!5750415
[4] https://www1.folha.uol.com.br/cotidiano/2023/05/brasil-registrou-273-mortes…
[5] https://antrabrasil.org/category/violencia/
[6] /Lula-gewinnt-die-Stichwahl-in-Brasilien/!5891471
[7] /Brasilien-nach-Bolsonaro/!5903636
## AUTOREN
Niklas Franzen
## TAGS
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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Schwerpunkt LGBTQIA
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