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# taz.de -- Transfeindlichkeit in Brasilien: Gegen Widerstände
> Erika Hilton ist die erste trans Frau im Stadtrat von São Paulo – und
> wurde zum Popstar. Mit dem Erfolg kamen auch die Angriffe gegen sie.
Bild: Erika Hilton im Stadtrat von São Paulo, November 2020
Plötzlich ist die Angst wieder da. Ende Januar sitzt Erika Hilton in ihrem
Stadtratsbüro in São Paulo, als sie laute Stimmen von draußen hört. Ein
Mann will sich Zugang zum Büro verschaffen. Er trägt einen Rucksack, auf
seine Maske ist ein Kreuz und der Spruch „Gott ist Liebe“ gedruckt. Der
Mann wirkt nervös, bleibt eine Weile vor dem Büro. Schließlich gelingt es
Mitarbeiter*innen der Politikerin, ihn wegzuschicken, doch er lässt
einen Brief da. Darin stellt er sich als „reaktionärer Kellner“ vor und
schreibt, Hilton im Netz bedroht zu haben. So erzählt Hilton es der taz.
„Es war ein Schreck. Und ein Signal, dass wir nicht sicher sind“.
Zwei Monate zuvor. Am 17. November 2020 steht Erika Hilton im grünen
Blümchenkleid auf dem geräumigen Balkon eines Kulturzentrums, im
Hintergrund funkeln die Lichter der Megametropole São Paulo. In der Hand
hält sie eine Sektflasche, Mitarbeiter*innen liegen sich in den Armen.
Das verwackelte Handyvideo, auf dem die Szene zu sehen ist, wurde
aufgezeichnet, wenige Minuten nachdem bekannt geworden war, dass Hilton als
erste trans Frau i[1][n den Stadtrat von São Paulo] einziehen wird. 50.508
Stimmen holte sie, so viele wie keine brasilianische Stadträtin jemals vor
ihr. TV-Auftritte, Interviewmarathons, Vogue-Coverfoto: Das Leben der
28-Jährigen stellte sich auf den Kopf. Auf einmal war Hilton ein Popstar
der brasilianischen Linken.
Doch es gibt eine andere Seite des Ruhms. Die Sozialistin geht nur noch mit
Bodyguards auf die Straße, kann nicht mehr in Restaurants sitzen, verbringt
viel Zeit in Autos mit getönten Scheiben. Mehr als 50 Morddrohungen brachte
sie allein im ersten Monat ihrer Amtszeit zur Anzeige. Ende Januar feuerte
ein Unbekannter Schüsse auf das Haus einer Kollegin, vor dem Haus einer
weiteren Politikerin schoss ein Motorradfahrer in die Luft. Wie Hilton sind
die beiden Schwarz, trans und Mitglied der Partei für Sozialismus und
Freiheit (PSOL). Ob es einen Zusammenhang zwischen den Taten gibt, ist
bisher nicht geklärt. Doch klar ist: Linke Politiker*innen leben
gefährlich in Brasilien. Woher kommt dieser Hass?
„Wenn wir die Plätze verlassen, die uns gesellschaftlich zugewiesen sind
und Machtpositionen einnehmen, werden wir automatisch Ziel von Angriffen“,
sagt Hilton. [2][Rassismus und Transfeindlichkeit] seien tief verankert in
den Köpfen vieler Menschen. Das mache das Leben „grausam“ für all jene, d…
am Rand stehen. Schwarze, LGBTI, Vorstadtbewohner*innen. Hilton weiß, wovon
sie spricht.
## Nicht sicher im Land
Ihre Geschichte ist die Geschichte einer Frau, die am armen Stadtrand von
São Paulo aufwuchs. Die auf der Straße schlief, nachdem sie von ihrer
streng religiösen Familie rausgeworfen wurde. Die sich als Sexarbeiterin in
der Großstadt durchschlug. Die ihre freien Tage im Gefängnis verbrachte, wo
ihr Ex-Partner einsaß. Ihre Vergangenheit verstecken? Kommt für Hilton
nicht in Frage. „Es ist nicht falsch, was ich gemacht und erlebt habe“,
meint sie selbstbewusst. Doch ihr Weg habe viel Kraft gefordert. Irgendwann
kehrte sie zu ihrer Familie zurück, nahm ein Studium auf, begann, sich als
Aktivistin einzumischen.
Der kometenhafte Aufstieg zur linken Hoffnungsträgerin ähnelt dem Weg einer
anderen Frau: Marielle Franco. Die Schwarze, lesbische
Menschenrechtsaktivistin aus der Favela Maré mischte als Outsiderin den
verkrusteten Politbetrieb von Rio de Janeiro auf. Die linke Stadträtin
kritisierte Polizeieinsätze, kämpfte für das Recht auf Abtreibung, legte
sich mit paramilitärischen Banden an. Nicht wenige sagten Franco eine große
politische Karriere voraus. Doch dann kam der 14. März 2018. An jenem Tag
wurde sie zusammen mit ihrem Fahrer ermordet. Der Fall löste Schockwellen
aus, auch außerhalb Brasiliens. Heute ist Francos Konterfei auf vielen
Wänden zu sehen, Straßen wurden nach ihr benannt. Doch die Auftraggeber der
Tat sind bis heute nicht gefasst, die Ermittlungen laufen schleppend – auch
weil Polizist*innen die Ermittlungen manipuliert haben sollen. „Was mit
Marielle passiert ist, hat ein Warnlicht in uns allen eingeschaltet“, sagt
Hilton.
Mitte November schrieb die Schwarze Bundesabgeordnete und Feministin
Talíria Petrone: „Wenn man in einem Land keine Politik machen kann, ohne
Opfer von Gewalt zu werden, ist die Demokratie in Gefahr.“ Kurz zuvor hatte
die enge Freundin der ermordeten Franco bekannt gegeben, vorerst
unterzutauchen. Zu konkret waren die Anschlagspläne gegen sie, zu groß die
Gefahr für sie und ihre Tochter. Jean Wyllys verließ Brasilien Anfang 2019,
kurz nach der Wahl des Rechtsradikalen Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Im
Netz hatten Unbekannte den offen schwulen Abgeordneten bedroht und die
Adressen von seinen Verwandten veröffentlicht. Wyllys ist bis heute nicht
nach Brasilien zurückgekehrt und wohnt jetzt in Barcelona.
## Transfeindlichkeit nimmt zu
Was diese Politiker*innen eint: Sie sind Mitglied der PSOL. Die
Linksabspaltung der Arbeiterpartei PT erzielte auf lokaler Ebene einige
Achtungserfolge, ist im politischen System angekommen. Doch die Partei ist
anders geblieben. Sie ist divers aufgestellt und eng mit sozialen
Bewegungen verbunden. Die für Brasilien typische Bündnispolitik lehnt sie
ab, eckt als Oppositionspartei an. „Wir legen den Finger in die Wunde“,
meint Hilton.
Die meisten Politiker*innen Brasiliens sind männlich, weiß und
wohlhabend, kurz: die Elite der Gesellschaft. Dass mit Hilton nun eine
Schwarze trans Politikerin in das Parlament der größten Stadt
Lateinamerikas eingezogen ist, kommt einer kleinen Revolution gleich, zeugt
aber auch von der inneren Zerrissenheit Brasiliens. Es ist ein Land, in dem
sich Marginalisierte hart ihren Platz erkämpft haben, in dem trans Personen
so sichtbar sind wie fast nirgendwo in der Welt. Neben Hilton zogen 30
weitere trans Politiker*innen im ganzen Land in die Lokalparlamente.
Es ist aber auch das Land, in dem die Lebenserwartung von trans Frauen bei
35 Jahren liegt, nur die wenigsten dem Kreislauf aus Armut, Sexarbeit und
Gefängnis entfliehen können. Und es ist auch das Land, das trauriger
Spitzenreiter transfeindlicher Gewalt ist. 175 trans Frauen wurden 2020
ermordet – ein Anstieg um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch
Regierungsvertreter*innen heizen die Gewalt an, unter dem
rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro nehmen Fundamentalist*innen
immer mehr Einfluss.
Dennoch: Im Stadtrat sei sie bisher freundlich aufgenommen worden, erzählt
Hilton. Mit einer Ausnahme. Eine rechte Politikerin schwadronierte in einer
Rede, eine „globalistische Agenda“ würde „Männer verweiblichen und Frau…
vermännlichen“. An wen sich die Worte richteten, war klar. Doch Hilton will
sich von solchen Angriffen nicht lähmen lassen. Nicht nur als Opfer gesehen
werden. Dem Stadtrat auch mit anderen Themen ihren Stempel aufdrücken.
Priorität habe für sie die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit. Während
sich die Mittel- und Oberschicht São Paulos in gut bewachten Wohntürmen
abschottet, leben Millionen Menschen in der sozial benachteiligten
Peripherie, die die Stadt wie ein dichter Wald aus Wellblech und Backstein
umgibt. Seit Corona ist kaum noch eine Straßenecke zu sehen, die nicht von
Obdachlosencamps bevölkert ist. Selten waren Elend und Verzweiflung größer.
## Antworten gegen Bolsonaro
Hilton hat sich viel vorgenommen und denkt bereits darüber nach, auf
Bundesebene zu kandidieren. Doch die Realität brasilianischer Politik ist
hart, kleinste Verbesserungen müssen mühsam erkämpft werden, die
Widerstände des Systems sind brutal. Hinzu kommt: Von einzelnen Ausnahmen
abgesehen, ist die Linke schwach, orientierungslos und zerstritten.
Präsident Bolsonaro sitzt trotz zahlreicher Skandale und seines
katastrophalen Krisenmanagements fest im Sattel. Ein von vielen Linken
gefordertes Amtsenthebungsverfahren ist derzeit chancenlos. Wirkliche
Antworten auf das „Krebsgeschwür Bolsonaro“, wie Hilton sagt, gibt es kaum.
So ist es schon fast zu einer Phrase verkommen, wenn Linke beschwören, die
„Basisarbeit“ wieder aufzunehmen. Konkret heißt das: den Kontakt mit armen
Brasilianer*innen wiederherstellen. Nicht wenige unterstützen
Bolsonaro, beten inbrünstig in ultrakonservativen Pfingstkirchen oder haben
sich ganz von der Politik abgewendet. Auch Hilton will hier ansetzen. Was
sie anders machen wird? „Ich weiß, was es heißt, ausgegrenzt zu sein.“ Und
sie will ein Beispiel für andere Marginalisierte setzen. „Wir können nur
etwas ändern, wenn wir Einzug in die Politik erhalten.“ Es sind kleine
Schritte, die Erika Hilton geht. Höchstens ein Anfang. Aber im derzeitigen
Brasilien ist das schon ziemlich viel.
24 Feb 2021
## LINKS
[1] /Kommunalwahlen-in-Brasilien/!5732134
[2] /Experte-zur-Rassismusdebatte-in-Brasilien/!5727101
## AUTOREN
Niklas Franzen
## TAGS
Schwerpunkt LGBTQIA
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