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# taz.de -- Experte zur Rassismusdebatte in Brasilien: „Ein System der Angst�…
> Der Kampf gegen Rassismus in Brasilien muss sich auch gegen den
> Neoliberalismus richten, sagt Philosoph Silvio Almeida. Bolsonaro schüre
> viel Hass.
Bild: Beerdigung des getöteten João Beto. Sein Tod hat eine Debatte über Ras…
taz: Herr Almeida, Präsident Jair Bolsonaro hat Brasilien mit seinem
Verharmlosungskurs ins Coronachaos gestürzt. Zudem ist er in zahlreiche
Skandale verstrickt, und der Wirtschaft geht es schlecht. In den letzten
Umfragen verzeichnet Bolsonaro dennoch [1][die höchsten Umfragewerte seit
Amtsantritt]. Wie ist das möglich?
Silvio Almeida: Bolsonaro hat Kontrolle über den Staatsapparat, das ist
ein großer Vorteil. Die Armee steht hinter ihm, ebenso ein Teil des
Parlaments, das er durch politische Manöver auf seine Seite bringen konnte.
Ein großer Teil der Unternehmerschaft hofft auf die angekündigten
ultraliberalen „Reformen“ und hält ihm ebenfalls die Treue. Auch viele
Medien spielen dieses Spiel mit und beginnen die Regierung aufgrund der
neoliberalen Politik zu bestätigen. Und das, obwohl der Präsident den
Journalismus verachtet, Oppositionellen ganz offen mit Gewalt droht und
zunehmend autoritär auftritt. Bolsonaro hat es außerdem geschafft, die
Coronanothilfen für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
Sie sprechen von den 600 Reais (rund 90 Euro), die seit Beginn der Pandemie
monatlich an arme Brasilianer*innen ausgezahlt werden.
Genau. Das ist viel Geld in Brasilien. Seine Regierung war eigentlich
dagegen, erst auf Druck der linken Opposition wurde diese Summe ausgezahlt.
Bolsonaro inszeniert sich nun als Urheber dieser Zahlungen. Das wirkt sich
auf die Umfragen aus: Trotz totaler politischer Inkompetenz ist Bolsonaro
so beliebt wie nie zuvor.
Ende Juni machte ein Video aus Rio de Janeiro die Runde. Ein Mann riss am
Copacabanastrand Kreuze aus dem Sand, die eine NGO [2][in Erinnerung an die
Covid-19-Toten aufgestellt hatte]. Was sagt das über den Zustand des Landes
aus?
Brasilien ist ein Land, in dem das Leben einen sehr geringen Stellenwert
hat. Seit je existiert eine Naturalisierung des Todes – und das wird nun
durch die Bolsonaro-Regierung extrem angeheizt. Durch ihren aggressiven
Diskurs, den extremen Militarismus. Die aktuelle Regierung ist aber auch
Symptom einer Gesellschaft, die historisch auf Gewalt beruht. Brasilien hat
zwei offene Wunden: das Erbe der Sklaverei und die nicht aufgearbeitete
Militärdiktatur [Brasilien wurde von 1964 bis 1985 von rechten Generälen
regiert; Anm. d. Red]. Bis 1888 wurden schwarze Menschen in Brasilien
versklavt gehalten, so lange wie in keinem anderen Land der Welt. Und die
wichtigsten Figuren der aktuellen Regierung haben während der Diktatur ihre
Karrieren begonnen. Brasilien schafft es nicht, diese beiden Wunden zu
behandeln.
Der Rassismus in Brasilien scheint sich von dem in anderen Ländern zu
unterscheiden. Während es in Europa oder den USA zahlreiche Neonazigruppen
gibt, würde sich in Brasilien kaum jemand offen als Rassist bezeichnen. Es
gibt den Staatsgründungsmythos einer „Rassendemokratie“.
Es ist es wichtig, zu betonen, dass es auch in Brasilien Neonazigruppen
gibt. Laut Studien sind es mehr als 330 Gruppen im ganzen Land, und ihre
Anzahl steigt. Aber es stimmt, dass der Rassismus hier anders funktioniert.
In den USA und in Südafrika war die „Rassentrennung“ Grundlage für die
Staatenbildung. Die nationale Einheit in den USA war nur möglich durch die
Einführung der rassistischen Segregation. Auch in Südafrika kam es zu einer
Vereinigung der Weißen auf Kosten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. In
Brasilien ist das Gegenteil passiert: Als sich der brasilianische Staat
konstituierte, existierte die Sklaverei noch, ebenso der Diskurs von der
Unterlegenheit der Schwarzen. Doch mit der nationalen Einigung in den
1930er Jahren wurde der Mythos der Rassendemokratie geschaffen – also die
Vorstellung, dass Weiße, Schwarze und Indigene angeblich harmonisch
zusammenleben. Aus europäischer Perspektive gilt Brasilien oft als ein
buntes Paradies. Dieser Diskurs verschleiert jedoch die strukturelle
Gewalt.
Wie sieht die aus?
In Brasilien sprechen wir nicht von weißer Vorherrschaft, sondern von
weißer Überlegenheit. Je weißer, also je phänotypisch europäischer deine
Haut ist, desto mehr soziale Anerkennung wirst du erfahren. Es gibt riesige
Ungleichheiten zwischen Weißen und Schwarzen, die jedoch oft verdeckt
werden. Das ist eine sehr ausgeklügelte Strategie, um Schwarze zu
unterdrücken.
Bolsonaro erklärt immer wieder, kein Rassist zu sein, und tritt fast
täglich mit seinem schwarzen Berater auf. Was halten Sie davon?
Bolsonaro ist ein Rassist, ohne Zweifel. Er schürt ganz offen Vorurteile
gegen Schwarze. Bei einer Veranstaltung, ironischerweise in einem jüdischen
Kulturzentrum, verglich Bolsonaro einmal schwarze Menschen mit Tieren. Was
ist danach passiert? Bolsonaro wurde wegen Rassismus angeklagt, aber der
Oberste Gerichtshof hat die Anzeige eingestellt. Rassismus braucht Raum, um
sich reproduzieren zu können, und diesen Raum schafft die Regierung. Einer
ihrer ersten Akte war der Versuch, die Quotenregelung an den
Bundesuniversitäten zu kippen.
Durch die von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT eingeführten
Quoten hatten Schwarze und Indigene erstmals im größeren Umfang Zugang zu
Universitäten bekommen.
Genau, das war eine klare Ansage. Und als Chef der Fundação Palmares
[staatliche Organisation zur Bekämpfung von Rassismus; Anm. d. Red.]
nominierte Bolsonaro einen schwarzen Mann, der gegen Antirassismus wettert
und Idole der Schwarzenbewegung beleidigt.
Oft geht die neoliberale Wirtschaftspolitik bei der Debatte über die
Bolsonaro-Regierung ein wenig unter. Welche Rolle spielt sie in dieser
Frage?
Brasilien ist kürzlich auf die Welthungerkarte der UNO zurückgekehrt. Eine
Austeritätspolitik, die soziale Rechte und Schutzsysteme für Arbeiter
zerstört, hat verheerende Auswirkungen in einem Land, in dem die meisten
Schwarzen arm sind. Rassismus und Wirtschaft müssen zusammen gedacht
werden.
In ihrem Buch „Racismo Estrutural“ schreiben Sie: „Um den Rassismus zu
bekämpfen, reicht es nicht, dass Schwarze und Indigene Machtpositionen
einnehmen.“ Was muss passieren?
Der Kampf gegen den Rassismus muss auch ein Kampf gegen den Neoliberalismus
sein. Die Austeritätspolitik benötigt autoritäre Maßnahmen, denn ein
offener demokratischer Prozess würde viel Widerstand hervorrufen. Deshalb
ist es für das neoliberale Projekt so wichtig, die
Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung immer stärker einzuschränken.
Wie schafft man das? Durch Gewalt, durch Rassismus. Indem man Angst schürt
und Feinde kreiert. Das hat Bolsonaro perfektioniert.
Letzten Donnerstag erst töteten in Porto Alegre [3][Wachmänner eines
Supermarkts] einen Schwarzen. Viele Tode in Brasilien gehen auf das Konto
der Polizei. Anders als in den USA führen Gewalttaten der Polizei aber
selten zu großen Protesten. Warum?
Das Land hat sich an den Tod von schwarzen Menschen gewöhnt. Das lässt sich
mit einem Beispiel erklären: Wir haben TV-Shows, in denen Gewalttaten der
Polizei glorifiziert werden. In einer dieser Sendungen gibt es eine Rubrik,
die „Steuernummer gestrichen“ heißt. Diese Nummer wird gestrichen, wenn man
stirbt. Der Moderator feiert, applaudiert und lacht, wenn Polizisten einen
angeblichen Verbrecher töten. Das sind oft Hinrichtungen,
selbstverständlich ohne Urteil. Ein Zivilisationsbruch zur besten
Sendezeit. Die Menschen in Brasilien denken oft: „Die Polizei in den USA
ist sehr gewalttätig.“ Sie ist gewalttätig, ja. Aber die Polizei in
Brasilien ist noch viel schlimmer.
993 Menschen tötete die Polizei der USA im Jahr 2019. Allein die Polizei
von Rio de Janeiro tötete in diesem Zeitraum 1.810 Menschen – und das,
obwohl die USA 50-mal so viele Einwohner*innen wie Rio de Janeiro haben.
Richtig. Während der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA machten Bilder
von knienden Polizisten die Runde, die sich mit den Demonstranten
solidarisierten oder sich entschuldigen wollten. Solche Bilder wären
unvorstellbar in Brasilien. Die Polizei hier ist militarisiert. Ihr Ziel
ist es, einen internen Feind auszulöschen – nämlich die eigene Bevölkerung.
Das macht eine ähnliche Protestkultur wie in den USA oder Europa schwer.
Aber es gibt Widerstand: in den Stadtteilen, von der Schwarzenbewegung, von
Menschenrechtsgruppen. Der Widerstand muss sich aber an die Bedingungen
eines Landes anpassen, das von unvorstellbarer Gewalt geprägt ist. Dass
nicht noch mehr Menschen getötet wurden, hat auch damit zu tun, dass sich
viele wehren. Etliche Errungenschaften für Demokratie und
Staatsbürgerschaft gehen zudem auf die Proteste von schwarzen Brasilianern
zurück. Das Land hat der Schwarzenbewegung viel zu verdanken.
23 Nov 2020
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## AUTOREN
Niklas Franzen
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Schwerpunkt Rassismus
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