| # taz.de -- Corona in Brasilien: Fast ein Toter pro Minute | |
| > Brasilien ist weltweiter Corona-Hotspot. Dennoch treten erste Lockerungen | |
| > in Kraft. Das löst Proteste aus – von Gegnern, aber auch von | |
| > Befürwortern. | |
| Bild: Stiller Protest: Ein Aktivistin der NGO „Rio de Paz“ bei einer Protes… | |
| São Paulo taz | Es ist ein stiller Protest, der Donnerstagmorgen am | |
| weltbekannten Copacabana-Strand von Rio de Janeiro stattfindet: | |
| Mitarbeiter*innen der NGO Rio de Paz heben einhundert symbolische Gräber | |
| aus und hämmern Kreuze in den Sand. Auf einem Schild steht: „Brasil, país | |
| das covas“ (Brasilien, das Land der Gräber“). Die NGO will mit der Aktion | |
| der [1][tausenden Toten durch Covid-19] gedenken. Gleichzeitig will sie | |
| aber auch gegen den Corona-Kurs der Regierung protestieren. | |
| Während am Copacabana-Strand ein symbolisches Begräbnis stattfindet, heben | |
| an vielen anderen Orten Brasiliens Bagger tatsächlich Massengräber aus. | |
| Brasilien ist derzeit der [2][weltweite Corona-Hotspot]: Das Land hat | |
| bereits die zweitmeisten Infizierten, mehr als 40.000 Tote durch Covid-19 | |
| und in den vergangenen Tagen so viele neue Tote zu beklagen wie nirgendwo | |
| sonst. Der traurige Wert: Fast ein Toter durch Corona pro Minute. Und laut | |
| der WHO steht das Schlimmste noch bevor. | |
| Brasilien steuert auf den Höhepunkt der Pandemie zu, steckt gleichzeitig | |
| aber auch in einer handfesten politischen Krise. Das Land hat immer noch | |
| keinen neuen Gesundheitsminister, zwei Gesundheitsminister mussten während | |
| der Pandemie bereits zurücktreten. | |
| Der Grund: [3][Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Jair Bolsonaro]. Ein | |
| Gesundheitsminister musste gehen, weil er die Empfehlungen der WHO befolgen | |
| wollte. Ein anderer, weil er sich gegen den Einsatz eines vermutlich | |
| gesundheitsschädlichen Medikaments aussprach. Der | |
| Interims-Gesundheitsminister ist ein General und hat keine Erfahrung in | |
| diesem Bereich. | |
| ## Aus den Nachrichten verbannt | |
| Zuletzt sorgte sein Ministerium für Empörung, weil es die Gesamtzahl der | |
| Corona-Toten nicht mehr veröffentlicht hatte, sondern nur noch Zahlen der | |
| vergangenen 24 Stunden. Außerdem wurde die Veröffentlichung nach hinten | |
| geschoben, um nicht in den allabendlichen Nachrichten zu erscheinen. | |
| Daten, die die Entwicklung der vergangenen Monate aufzeigten, wurden gar | |
| ganz aus dem Netz entfernt. „Die kumulativen Daten spiegeln nicht wider, wo | |
| sich das Land gerade befindet“, erklärte Bolsonaro auf Twitter. Doch wieder | |
| einmal blockte das [4][oberste Gericht] ein Vorhaben der Regierung und | |
| verfügte, alle Daten über die Virus-Infektion wieder zur Verfügung zu | |
| stellen. | |
| Bolsonaro ging noch weiter. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump droht er, | |
| aus der Weltgesundheitsorganisation auszusteigen. Die WHO verhalte sich wie | |
| eine „politische Organisation“. Bolsonaro, der Corona als „kleine Grippe�… | |
| herunterspielt, würde am liebsten alle Isolationsmaßnahmen aufheben, die | |
| von den Landesregierungen beschlossen wurden. | |
| Zu Beginn der Pandemie war das öffentliche Leben fast vollständig zum | |
| Erliegen gekommen: Geschäfte und Schulen wurden geschlossen, Konzerte | |
| verboten, Parks und Strände abgeriegelt. Die meisten Städte entschieden | |
| sich jedoch gegen einen kompletten Lockdown, die Polizei ging kaum gegen | |
| Menschenansammlungen vor. | |
| ## Noch schlimmer | |
| Vor allem arme Menschen waren und sind weiter auf den öffentlichen | |
| Nahverkehr angewiesen. Während am Anfang viele Menschen zu Hause blieben, | |
| ist die Isolationsrate in den letzten Wochen gesunken. Allerdings: | |
| Expert*innen vermuten, dass die Situation viel schlimmer wäre, hätte es | |
| keinerlei Isolationsmaßnahmen gegeben und wären die Forderungen von | |
| Bolsonaro umgesetzt worden. | |
| Lange Zeit hatten sich die Gouverneure geweigert, Flexibilisierungen | |
| umzusetzen. Doch um einen kompletten Einbruch der Wirtschaft zu verhindern, | |
| wurden nun in einigen Städten die ersten Lockerungen umgesetzt. | |
| In Rio de Janeiro machten Einkaufszentren ihre Tore wieder auf, jedoch mit | |
| strikten Richtlinien wie Fiebermessungen am Eingang, begrenzten | |
| Einkaufsflächen und reduzierten Öffnungszeiten. | |
| Auch in [5][São Paulo] durften viele Geschäfte am Donnerstag wieder öffnen. | |
| In der Innenstadt waren daraufhin die Straßen voll mit Fußgänger*innen, | |
| Autos stauten sich auf den Straßen und Menschen zwängten sich in volle | |
| Busse. | |
| ## Lange Schlangen | |
| Es fühlte sich zeitweise so an, als habe die Megametropole das Virus | |
| überwunden. Doch die Stadt ist landesweit am stärksten von der Pandemie | |
| betroffen und hat in den vergangenen Tagen neue Rekordwerte an | |
| Covid-19-Toten vermeldet. | |
| Die Straße des 25. März ist eine wuselige Einkaufstraße mit Ramschläden und | |
| Kaufhäusern mit chinesischer Waren im Zentrum von São Paulo. Am Donnerstag | |
| drängen sich tausende Menschen auf der Straße. Vor Geschäften haben sich | |
| lange Schlangen gebildet. Fliegende Händler*innen preisen lauthals ihre | |
| Waren an. | |
| An einer Straßenecke steht Luiz Fernando, 49, blaues Fußballtrikot, eine | |
| große Pappe mit Fotos von gefälschten Sneakern in der Hand. Für ein | |
| Geschäft wirbt er auf der Straße um Kund*innen. In den vergangenen drei | |
| Monaten sei die Straße komplett leer gewesen, sagt Fernando. Nur über das | |
| Internet habe der Laden ein bisschen Ware verkauft. | |
| Doch auch jetzt laufe das Geschäft schlecht. „Niemand kauft etwas“, sagt | |
| Fernando. „Die Leute sind hier, weil etwas los ist, und bummeln nur herum.“ | |
| Es scheint, als sei vielen Brasilianer*innen das Risiko der Infektion immer | |
| noch nicht bewusst. | |
| ## Stabile Zustimmung | |
| Expert*innen kritisieren die Flexibilisierungen scharf. „Das Risiko ist | |
| sehr hoch und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Wiedereröffnungen | |
| kontrollierbar sind“, sagte der Virologe André Ribas Freitas der linken | |
| Zeitung Brasil de Fato. „In Europa wurde gelockert, weil die Anzahl der | |
| Infizierten sank. Hier steigen die Infektionszahlen aber weiter rasant an. | |
| Wir sollten erst lockern, wenn ein konstanter Rückgang zu verzeichnen ist.“ | |
| Umfragen zeigen, dass die meisten Brasilianer*innen die Isolationsmaßnahmen | |
| unterstützen, das Virus ernst nehmen und Bolsonaros Kurs kritisch sehen. | |
| Allerdings: Der Präsident genießt trotzdem eine stabile Zustimmung von rund | |
| 30 Prozent der Bevölkerung. Und seine radikalsten Unterstützer*innen | |
| demonstrieren Woche für Woche gegen den die Quarantänemaßnahmen. | |
| Aber auch bei anderen Menschen wächst die Kritik am Stillstand. Am | |
| Mittwochabend protestierten in São Paulo rund 200 Menschen vor dem Gebäude | |
| des Stadtrats. Sé Augusto Damasceno, 39, muskulöse Oberarme, ist Besitzer | |
| eines Fitnessstudios im Süden der Stadt. Seit drei Monaten ist sein Studio | |
| geschlossen. „Es ist dramatisch für uns“, sagt Damasceno. „Ich habe kein | |
| Geld mehr und weiß nicht, was ich machen soll.“ | |
| Hilfsleistungen von der Regierung habe er nicht erhalten. Seine Kritik | |
| richtet sich an Landes- und Bundesregierung. Laut Damasceno sei es möglich, | |
| auch im Fitnessstudio Abstand zu halten und Masken zu tragen. „Außerdem | |
| denke ich, dass Fitnessstudios wichtig für die Gesundheit der Menschen sind | |
| und alleine deshalb schon wieder öffnen sollten.“ | |
| ## Finanzielles Drama | |
| Für Menschen wie Damasceno, die keine Ersparnisse haben und nicht von zu | |
| Hause aus arbeiten können, ist das Virus ein finanzielles Drama. Doch auch | |
| für die, die wieder arbeiten können, ist die Pandemie ein Dilemma: Entweder | |
| sie bleiben ohne Lohn zu Hause oder sie gehen arbeiten und damit das Risiko | |
| einer Infektion ein. | |
| Die Aktion am Copacabana-Strand endet, als Unterstützer*innen Bolsonaros | |
| auftauchen. Videos zeigen, wie ein Mann in Sportkleidung die Kreuze | |
| niederreißt und über Linke schimpf. Ein anderer Mann, der seinen Sohn durch | |
| Covid-19 verloren hat, stapft daraufhin durch den Sand, stellt die Kreuze | |
| wieder auf und brüllt mit brüchiger Stimme: „Respektiert unseren Schmerz.“ | |
| 12 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Niklas Franzen | |
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