# taz.de -- Coronakrise in Brasilien: Virus trifft auf Armut | |
> In São Paulo steigen die Infektionen, das Gesundheitssystem steht vor dem | |
> Kollaps. Das trifft vor allem die Ärmsten in den Favelas und auf der | |
> Straße. | |
Bild: Covid-19 in Favelas: Brasilândia, Viertel in Sao Paolo, hat die höchste… | |
SAO PAULO taz | Leandro Costa hievt eine Kiste mit Lebensmitteln aus einem | |
Transporter. Der 30-Jährige ist Franziskaner-Mönch, seine Schutzmaske ist | |
mit dem Braunton der Kutte farblich abgestimmt. | |
„Dort drüben steht unser Zelt der Solidarität“, sagt Costa und zeigt auf | |
ein Konstrukt aus Metall und Plastik auf dem São Francisco-Platz in der | |
Innenstadt von São Paulo. Hunderte Menschen stehen davor Schlange. Essen in | |
Styropor-Behältern wird ausgeteilt, Hände werden desinfiziert, Mönche | |
drängen sich durch das Gewusel. | |
Der vor rund 800 Jahren in Italien entstandene Franziskaner-Orden ist seit | |
mehr als 500 Jahren in Brasilien aktiv. „Wir helfen schon immer denen, die | |
am Rand der Gesellschaft sind“, sagt Costa. „Mit Beginn der Corona-Pandemie | |
hat das Elend stark zugenommen.“ Laut Costa wurden vor der Krise täglich | |
rund 800 Menschen versorgt, meist Obdachlose. Seit dem Ausbruch von | |
Covid-19 im größten Land Lateinamerikas sind es täglich 2.600 Menschen. | |
Brasilien hat bereits mehr als 16.000 Corona-Tote und [1][eine der höchsten | |
Ansteckungsraten der Welt]. | |
Neben zwei warmen Mahlzeiten werden auf dem São Francisco-Platz auch Masken | |
und Desinfektionsmittel verteilt. Die Stadtverwaltung hat mobile Toiletten | |
und Duschen aufgebaut. Und in Partnerschaft mit der Organisation „Ärzte | |
ohne Grenzen“ wird sich um eine erste medizinische Versorgung gekümmert. | |
## New Yorker Verhältnisse drohen | |
Kaum eine Gruppe trifft die Corona-Krise so hart wie die Obdachlosen. In | |
der Megametropole São Paulo leben zehntausende Menschen auf der Straße. Die | |
genaue Zahl kennt niemand. | |
Einer davon ist Adalto Antônio, 50 Jahre alt, zahnloser Mund, FC | |
Barcelona-Trikot. Vor mehr als 20 Jahren kam er aus dem Hinterland in die | |
Megacity. Nachdem er vor einem Jahr seinen Job als Kesselschweißer verlor, | |
landete er auf der Straße. Mit dem Beginn der Pandemie sei das Leben auf | |
der Straße noch schwerer geworden. „Ich verdiene mein Geld mit Dosensammeln | |
und Betteln“, sagt Antônio. „Das ist jetzt fast unmöglich, da viel weniger | |
Menschen unterwegs sind und viele Angst vor uns haben.“ | |
Das [2][Virus breitet sich auch in den Favelas rasant aus]. Der arme | |
Stadtteil Brasilândia im Norden São Paulos führt die Rangliste der | |
Corona-Toten an. In den Vierteln der Mittel- und Oberschicht gibt es zwar | |
auch zahlreiche Infizierte, jedoch viel weniger Tote. Und es könnte noch | |
schlimmer kommen: Am Sonntag erklärte São Paulos Bürgermeister Bruno Covas, | |
dass das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Kollaps stehe. Der größten | |
Stadt Lateinamerikas drohen New Yorker Verhältnisse. | |
Neben den gesundheitlichen, machen sich auch die sozialen Auswirkungen der | |
Pandemie bemerkbar. Fast 40 Millionen Brasilianer*innen arbeiten informell, | |
den meisten dieser Arbeiter*innen ist mit der Krise ihr Einkommen | |
weggebrochen. Laut der Bank Santander ist mit 2,5 Millionen neuen | |
Arbeitslosen zu rechnen. | |
Der Mönch Costa beobachtet, dass mittlerweile nicht nur Obdachlose, sondern | |
auch viele Arbeiter*innen und Vorstadtbewohner*innen Hilfe suchen. Vor dem | |
Zelt haben sich auch an diesem heißen Herbsttag etliche Familien | |
versammelt. | |
## Lange Schlangen vor den Banken | |
Doch Mönch Costa sieht auch Positives. „Viele Menschen verschließen sich | |
nicht länger vor dem Elend ihrer Mitmenschen. Die Solidarität hat | |
zugenommen.“ Mehr Menschen spenden, mehr Freiwillige packen mit an. | |
Präsident Jair Bolsonaro stellt sich zwar in seinen Reden gerne auf die | |
Seite der Arbeiter*innen, um [3][gegen die von den Landesregierungen | |
beschlossenen Isolationsmaßnahmen] zu wettern. Doch viele Sozialprogramme | |
wurden nach seinem Amtsantritt gekürzt, eine spezifische Politik für die | |
Ärmsten gibt es in der Coronakrise nicht. | |
Nach Druck der linken Opposition hat der Kongress nun eine finanzielle | |
Direkthilfe für informell Beschäftigte bewilligt. Etwas mehr als | |
umgerechnet 200 Euro pro Person werden über drei Monate ausgezahlt. Das ist | |
nicht viel, aber für die meisten armen Familien ist das zumindest | |
ausreichend, um Essen und Miete zu bezahlen. An den Filialen der | |
staatlichen Caixa-Bank bilden sich täglich lange Schlangen. | |
Antônio hat keine Möglichkeit, die finanzielle Hilfe zu beantragen, da er | |
keine Ausweisdokumente hat. Deshalb kommt er auch morgen wieder zum Zelt | |
der Solidarität. | |
18 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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