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# taz.de -- Tonia Reeh und Marla Hansen im HKW: Musik blüht wie eine Blume
> Die eine erzählt Geschichten, die andere beschreibt Seelenlandschaften:
> Tonia Reeh und Marla Hansen spielten ein Konzert im HKW in Berlin.
Bild: Verschwindet hoffentlich nicht gleich wieder: Marla Hansen
Auf dem Dach des Hauses der Kulturen der Welt steht am Freitagabend eine
Frau mit einem schwarzen T-Shirt und raucht, als würde sie damit die
Freiheiten eines Open-Air-Konzerts erst recht feiern. Auf dem schwarzen
T-Shirt ist [1][Patti Smith] vom Cover ihres Debütalbums „Horses“ zu sehen,
anstelle von Smith’ Gesicht ist jedoch das Konterfei der berühmten
mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo eincollagiert. Das kämpferische
Element in der Kunst von Smith und Kahlo setzt sich auf der Bühne fort, wo
die Berliner Pianistin und Sängerin Tonia Reeh gerade an einem geliehenen
E-Piano dramatische Stimmen zu Gehör bringt.
Indem sie zunächst über die Tasten spurtet und dann wieder fordernde
Akkorde wie Thesen in den Raum stellt, klingt Reeh mal wie eine angespitzte
P. J. Harvey und dann wie ein Sukkubus aus dem Kartoffelkeller. Der Leiter
der Abteilung Musik des HKW [2][(und taz-Autor) Detlef Diederichsen]
kündigte Reeh auf der Bühne mit den Worten an: „Eine Frau mit vielen
Stimmen.“ Diese Versprechen löst Reeh auch ein.
Nach einem Stück geht sie von der Offensive in die Defensive über und
bittet das Publikum darum, sich für den nächsten Song doch bitte ein
Schlagzeug vorzustellen, das normalerweise dann zu hören wäre, wenn Reeh
mit ihrer Band La Tourette auftritt. In einer Woche wird die Berlinerin das
neue Album „Future Kids“ mit La Tourette veröffentlichen. Am tropisch
warmen Freitagabend setzt sie dann zu einem neuen furiosen
Himmelhöllentastenlauf an, dem sich mühelos das jahrelange klassische
Konditionstraining, aber auch die Emanzipation von diesem anhören lässt.
Reeh erzählt von einem „Motorcycle Boy“, von einem Jungen mit Motorrad, der
uns wegblasen will. In den Liedern von Tonia Reeh passiert viel, immer
wieder erleben ihre Figuren dramatische Abenteuer.
Jahrelang von der Bildfläche verschwunden
Mit der zweiten Künstlerin des Abends, Marla Hansen, liegt der Fall etwas
anders. In den Nullerjahren veröffentlichte die New Yorkerin mit Wahlheimat
Berlin bereits ihr Album „Wedding Day“. „Bald“, erklärt Hansen auf der
Bühne an einer Stelle zwischen zwei Stücken, „schlug das Leben zu“. Für
eine Weile verschwand die US-Amerikanerin von der Bildfläche. Ihre Lust am
Musikmachen blieb bestehen, aber die Gelegenheiten zum Songschreiben wurden
knapp. Sie lässt im Unklaren, was genau mit ihr geschah.
Hansen ging mit dieser Funkstille um, indem sie Lieder darüber komponierte,
was für eine Herausforderung es bedeuten kann, Konzerte zu geben und neue
Alben aufzunehmen, wenn beides nicht die Miete einbringt, aber trotzdem
viel Zeit erfordert, die Hansen sonst zum Geldverdienen gebraucht hätte. So
trägt sie am Freitagabend etwa auch das Stück „Path“ vor, welches sehr
schön beschreibt, wie nervig es sein kann, Musik zu machen, noch nerviger
allerdings, keine Musik zu machen. Spätestens in diesem Moment hat sie die
im Abstand von anderthalb Metern stehenden ZuschauerInnen auf ihrer Seite.
Ob Hansen eine Viola wie eine akustische Gitarre zupft oder zur Gitarre
wechselt, Musik blüht für sie mal wie eine Blume auf, die sich von jedem
Windhauch umwehen lässt, und mal wie eine Menschenfleisch fressende
Pflanze, die unberechenbar und herrisch in Liedern wächst und strotzt. Um
den Alltag in Seelenlandschaften zu beschreiben, eignen sich temperierter
Wohlklang ebenso wie atonale Schübe.
Hansen lässt sich davon [3][auf der Bühne oben auf dem Dach des HKW]
mitreißen, wo am Freitagabend allmählich die Sonne hinter den Wolken
wegsackte. Es blieb daher offen, ob Hansen über die Möglichkeiten der Musik
gerade selbst staunt oder sich freut, weil in den 13 Jahren seit dem
letzten Werk und dem neuen Album, “Dust“, ein Auftritt fast wieder wie ein
Debüt wirkt.
Beeindruckendes Konzert
Der einzige Kritikpunkt an Hansen wäre, dass sie teils auch singt, als wäre
die Musik eine schlafende Bluthündin, die nicht geweckt werden soll. Ihre
Musik ist so schön, dass jeder Songtext manchmal fast störend wirkt. Diese
Worte, die durch den Mund über die Lippen nach vorne geschoben werden
sollen, halten davon ab, sich in den Harmonien ungestört zu suhlen. Worte
tragen ein lästiges Gepäck mit sich herum, denn sie erfordern
Konzentration, nicht nur für die Musik, die zu hören ist, sondern auch für
den Menschen, der sie spielt. Weswegen Songtexte bei Hansen manchmal ganz
entfallen und dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit lautmalerische
„Hu-hu-hu“s und „Ah-ha-ah“ s wie ein gesungenes Effektgerät in die Lie…
eingeschleift werden.
Nichtsdestotrotz: ein beeindruckendes Konzert zweier singulärer
Künstlerinnen an einem heißen Hochsommerabend, der der beliebten Reihe
„Wassermusik“ gut steht.
9 Aug 2020
## LINKS
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[3] /Sommerliches-Festival-made-in-Berlin/!5699135
## AUTOREN
Kristof Schreuf
## TAGS
Berlin Kultur
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