# taz.de -- Tönnies-Beschäftigte in Quarantäne: Das große Warten | |
> Seit drei Wochen sind viele, die bei Tönnies arbeiten, in Quarantäne. Ihr | |
> Unmut richtet sich gegen die Behörden und gegen ihre Arbeitgeber. | |
Bild: Die Tönnies-Arbeiter werden von mobilen Einsatzteams mehrmals die Woche … | |
Gut, dass ihr hier seid“, sagt Piotr Brzozowski und zieht an einer | |
Zigarette. „Reden wir, ich bin stinksauer.“ | |
Es ist der Montag dieser Woche. Eine Siedlung an der Hauptstraße von Rheda | |
in Nordrhein-Westfalen. Brzozowski, ein kräftiger Mann mit kurz rasierten | |
Haaren, steht auf der kleinen Terrasse seiner Wohnung – auf den drei | |
Quadratmetern Frischluft, die ihm geblieben sind. Er raucht eine Zigarette | |
nach der nächsten. | |
Wir stehen mit Mundschutz und Sicherheitsabstand auf dem Gehweg daneben. | |
Die Häuser sind neu, Klinker an den Fassaden, Schotter, dort wo eigentlich | |
ein Garten wäre. Brzozowski teilt sich seine Wohnung mit drei Männern, im | |
Haus sind sie fast 30. Alle arbeiten für Tönnies. | |
Die größte Schlachterei Europas steht nur ein paar Autominuten weiter, | |
direkt an der A2, Abfahrt 23, Rheda-Wiedenbrück. Bis Mitte Juni hat | |
Brzozowski hier Tausende Rinderhälften vom Kühlwagen ins Lager geschoben, | |
Abteilung „Rindfleisch, Entladung“, mal zehn Stunden am Tag, mal zwölf für | |
9,35 Euro Mindestlohn und eine ganze Reihe an Abzügen. Es sei kalt gewesen, | |
sagt Brzozowski, die Stunden vergingen zäh. Aber er beschwere sich nicht, | |
sagt er, er habe gewusst, worauf er sich einlasse. | |
Nun sitzt Brzozowski seit drei Wochen fest, verdammt zum Nichtstun, | |
Quarantäne. Er sieht fern, er raucht auf der Terrasse, er kocht, er isst, | |
er raucht wieder, ab und zu bringen Freunde ein Bier vorbei. „Wir sind hier | |
eingesperrt wie Hunde“, sagt er. | |
Rund 7.000 Menschen schuften in Rheda-Wiedenbrück unweit von Gütersloh für | |
den Unternehmer Clemens Tönnies. Die meisten kommen aus Osteuropa, aus | |
Polen, Rumänien, Bulgarien. Sie wohnen in Dörfern und Städten rund um die | |
gigantischen Werkshallen, in Wohnungen in Gütersloh, in Mietskasernen in | |
Verl, in heruntergekommenen Nachkriegsbauten in Rietberg. Ein Heer an | |
Arbeitern, die meisten angestellt bei einem der etwa 25 Subunternehmen, die | |
Werkverträge mit Tönnies geschlossen haben. | |
Rund um die Uhr schlachten sie Schweine, packen Wurst ab, zerlegen Rinder. | |
Jedes fünfte Schwein, das in Deutschland geschlachtet wird, kommt von | |
Tönnies. Bis zu 30.000 Tiere pro Tag sterben allein in Rheda-Wiedenbrück. | |
Die Arbeiter stehen dicht an dicht am Fließband, es gibt wenig Pausen, bei | |
Tönnies zählt die Masse. | |
Was nicht so viel zählt: die Arbeiter und ihre Gesundheit. Mitte Juni | |
wurden 1.400 Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet. Das Virus hatte im | |
Schlachthof ideale Bedingungen: die Kälte, viele Menschen auf wenig Raum, | |
keine Filter in der Luftkühlanlage. Der Kreis Gütersloh schloss den | |
Schlachthof und stellte die gesamte Belegschaft unter Quarantäne. In Verl | |
zog die Stadt einen Bauzaun um die Unterkünfte der Arbeiter. In Rietberg | |
passt ein privater Sicherheitsdienst auf, dass die Arbeiter nicht | |
weglaufen. | |
Viele sitzen seit drei Wochen in ihren Unterkünften und sind schlecht | |
gelaunt. Sie wissen nicht, wann sie wieder rausdürfen. Sie wissen nicht, ob | |
sie für die Zeit der Quarantäne Geld bekommen. Manche kriegen nicht genug | |
Essen, sagen sie, weil die Subunternehmen, bei denen sie angestellt sind, | |
zu wenig liefern. | |
Kurz nachdem Brzozowski seine Geschichte erzählt hat, halten dunkle Vans | |
vor den Unterkünften, Bundeswehrsoldaten steigen aus und ziehen sich weiße | |
Schutzanzüge über die Tarnkleidung, dazu Mundschutz und Gesichtsschild. | |
Coronatests, schon wieder. | |
Bei den Rumänen eskaliert die Situation an diesem Montag, ein Mann schreit | |
die Soldaten an, die Dolmetscherin versucht zu übersetzen: Immer nur Tests, | |
keine Ergebnisse. Dann verschwindet er im Haus und kommt nicht wieder. Die | |
anderen Bewohner protestieren ebenfalls, lassen sich dann aber den | |
Wattestab in den Mund stecken. | |
Zweimal die Woche testen Feuerwehrleute, Soldaten, Angestellte von sozialen | |
Trägern und Freiwillige die Arbeiter und ihre Kontaktpersonen. Sie fahren | |
in sogenannten mobilen Teams zu den Wohnungen, klingeln, fragen nach | |
Symptomen, nehmen Abstriche und schicken sie ins Labor. Was sie nicht | |
dabeihaben: Informationen. Wie lange dauert die Quarantäne noch? Warum darf | |
mein Mitbewohner schon wieder raus und ich nicht? Werden wir diesen Monat | |
bezahlt? Wann können wir wieder arbeiten? | |
Sie verweisen dann auf eine Telefonnummer, die Hotline des Gesundheitsamts. | |
Die Arbeiter sagen, dort erreichen sie selten jemanden, oft scheitere es | |
auch an der Sprache. Brzozowski sagt, dass sich auch eine deutsche Freundin | |
für ihn erkundigt habe – erfolglos. „Ich habe keine Informationen.“ | |
Der Kreis Gütersloh koordiniert seit dem Corona-Ausbruch einen gewaltigen | |
Einsatz, um zu verhindern, dass das Virus sich weiter verbreitet. Die | |
Kreise Gütersloh und Warendorf gingen am 23. Juni für eine Weile zurück in | |
den Lockdown, alle Mitarbeiter und Kontaktpersonen von Tönnies mussten | |
identifiziert werden. Tönnies jedoch konnte zu Beginn noch nicht einmal die | |
Adressen der Arbeiter liefern. Die Stimmung ist eisig. Das Vertrauen in | |
Tönnies sei bei null, sagte wenig später der Leiter des Krisenstabs. | |
Die Arbeiter und Kontaktpersonen wurden zunächst zwei Wochen unter | |
Quarantäne gestellt. Anfang Juli wurde die Quarantäne verlängert, | |
allerdings mit Ausnahmen. Wer schon krank gewesen und genesen war, konnte | |
raus, auch wer negativ getestet wurde und über längere Zeit keinen Kontakt | |
mehr zu Infizierten gehabt hatte. | |
Mit den neuen Regeln begann aber auch das Chaos. Um sich wieder frei | |
bewegen zu können, braucht man einen Brief vom Kreis. Zwei von Brzozowskis | |
Mitbewohnern haben einen Brief bekommen, er selbst hat noch keinen, trotz | |
negativer Tests. Warum, weiß er nicht. | |
Sven-Georg Adenauer ist seit 20 Jahren Landrat im Kreis Gütersloh, er ist | |
ein Enkel des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, natürlich | |
Christdemokrat. Seit Adenauer den Produktionsstopp bei Tönnies angeordnet | |
hat, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über seinen Landkreis berichtet | |
wird. Adenauer spricht mit Tönnies gerade über die Bedingungen, unter denen | |
das Werk wieder öffnen kann. Am Vortag protestierten die Bauern vor der | |
Kreisbehörde, weil sie ihre Schweine nicht mehr loswerden. | |
Adenauer hat an diesem Dienstag Verstärkung zur Pressekonferenz | |
mitgebracht. Eine Handvoll Kameras steht im Foyer des Kreishauses am | |
Stadtrand von Gütersloh, viele Journalisten sitzen auf den Stufen. Die | |
Leiterin des Gesundheitsamts tritt ans Mikrofon und versucht es mit einem | |
Superlativ: Den größten Corona-Ausbruch in einem Schlachthof weltweit müsse | |
der Landkreis momentan bewältigen. Dann die Zahlen: 14.000 Testungen in | |
drei Wochen, erst 20 mobile Teams, jetzt 40. Das Virus habe sich bis jetzt | |
zum Glück nicht in der Bevölkerung verbreitet. | |
Eine Mitarbeiterin versucht, die unterschiedlichen Fälle zu erklären. | |
Besonders kompliziert ist es bei denjenigen, die Kontakt zu Infizierten | |
hatten, der Kreis schätzt die Zahl auf 4.500. Wann war der Kontakt? Und vor | |
allem: Wie schafft man es, die Menschen in den engen Unterkünften zu | |
isolieren? Wer mit Covid-19 aus Ischgl nach Hause kam, hatte sehr | |
wahrscheinlich ein eigenes Zimmer für die Quarantäne. Was aber, wenn die | |
Menschen in Stockbetten schlafen, sich Küchen und Toiletten mit bis zu | |
einem Dutzend anderen teilen? Seit Anfang Juli isoliert der Kreis die | |
positiv Getesteten in einer separaten Unterkunft. | |
Über die Kommunikation mit den Arbeitern spricht niemand. Nachfrage bei | |
Frank Scheffer, dem Leiter des Krisenstabs, am Rande der Pressekonferenz. | |
Weiß er vom Frust der Arbeiter? | |
„Ich kann verstehen, wenn die Leute sauer sind“, sagt Scheffer. Es sei eben | |
schwer zu vermitteln, gerade wenn die Tests negativ seien und die Menschen | |
trotzdem in Quarantäne bleiben müssten, weil sie Kontakt zu einer positiv | |
getesteten Person hatten. Man habe dreisprachige Infoblätter in den | |
Unterkünften verteilt, die Info-Hotline ausgebaut und Informationen an die | |
Konsulate gegeben. „Wir versuchen, was wir können. Aber die Ressourcen sind | |
begrenzt.“ | |
Ein paar Kilometer weiter in der Rietberger Innenstadt sitzt Agnieszka | |
Kukiełka in ihrem Büro. Kukiełka berät für die Caritas polnische | |
Werkarbeiter und ihre Familien. Sie geht mit ihnen zum Arzt, hilft bei | |
rechtlichen Fragen, organisiert Deutschkurse. Ihr Anliegen ist die | |
Integration. Kukiełka lebt seit fünf Jahren im Kreis Gütersloh, schon in | |
Polen arbeitete sie für die Caritas. | |
Viele Werkarbeiter sprächen auch nach Jahren kein Deutsch, sagt sie. Die | |
Vorarbeiter sprächen Polnisch, zu Hause sprächen alle Polnisch, und wie | |
soll man nach einer Zehnstundenschicht noch einen Deutschkurs machen? Als | |
der Landrat die Quarantäne verkündete, hat sie die Informationen übersetzt | |
und auf Facebook gepostet – nicht als Caritas-Mitarbeiterin, sondern als | |
Polin, sagt sie. | |
Am Anfang seien die Leute froh gewesen, aber irgendwann sei die Stimmung | |
gekippt. „Ich habe versucht das zu erklären: Niemand ist auf 7.000 Menschen | |
in Quarantäne vorbereitet, testen, Briefe schreiben, noch dazu alles | |
übersetzen“, sagt sie. Aber die Geduld der Leute sei am Ende. „Die sind | |
sauer, weil die Organisation und die Kommunikation immer noch nicht | |
funktioniert.“ | |
Wer darf raus, wer muss in Quarantäne bleiben, wann kommt mein Brief? | |
Kukiełka sagt: „Es gibt so viele Konstellationen, dass ich nach drei Wochen | |
sagen muss: Ich verstehe das selbst nicht mehr.“ | |
„Wenn es die sozialen Medien nicht gäbe, wüssten wir gar nichts“, sagt | |
Marek. In Jogginganzug und Badeschlappen lehnt er am Briefkasten seiner | |
Unterkunft irgendwo im Kreis Gütersloh. Marek will unerkannt bleiben, er | |
arbeitet seit Jahren bei Tönnies und fürchtet Konsequenzen, wenn er über | |
seine Arbeit spricht. Eigentlich heißt er anders. | |
Marek hat Kukiełkas Beiträge auf Facebook gelesen. In derselben Gruppe | |
sammeln sich zornige Kommentare polnischer Arbeiter: „Das ist krank, die | |
machen mit den Leuten, was sie wollen!“ – „Es herrscht ein totales | |
Informationschaos!“ Marek hat gelesen, dass einer dem polnischen Konsul | |
geschrieben habe, ein anderer dem polnischen Politiker Donald Tusk und | |
angeblich jemand auch Donald Trump. Vom Kreis Gütersloh hat er nichts | |
gelesen. | |
Die Wut auf Facebook richtet sich aber nicht nur gegen die Behörden, | |
sondern zunehmend auch gegen ihre Chefs. Alle arbeiten im Schlachthof von | |
Tönnies, die meisten sind aber von Subunternehmen angestellt, die einen | |
Werkvertrag mit Tönnies haben. Viele Polen arbeiten für DSI, eines der | |
größten Subunternehmen. | |
Und eines, das offenbar keine Probleme damit hat, zu tricksen und | |
Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Das zumindest legen die Aussagen von | |
zehn Mitarbeitern nahe, mit denen wir im Kreis Gütersloh gesprochen haben. | |
Verträge und Lohnabrechnungen belegen ihre Aussagen. | |
Wenn Marek von DSI erzählt, sagt er: „Das ist legaler Menschenhandel.“ | |
Er habe bei Tönnies zentnerschwere Kisten auf ein Fließband geleert, mal | |
neun Stunden, mal elf. „In meiner Schicht werden hauptsächlich Innereien | |
verarbeitet“, sagt er. „Du nimmst eine Kiste, und du wirfst sie aufs Band. | |
Alles ist voller Blut. Manchmal bin ich komplett nass gespritzt, da helfen | |
auch die Plastikschürzen nichts.“ Kiste links, dann das Band, rechts der | |
Fleischwolf – Marek baut seinen Arbeitsplatz mit den Händen in der Luft | |
nach, während er erzählt. | |
Kiste, dafür nutzen die Polen bei Tönnies ein deutsches Wort. Sie sagen: | |
Kista. 40 Tonnen hieve er pro Schicht aufs Band. „Alles geht auf Tempo.“ | |
Wer es nicht schaffe, könne einpacken. | |
Wie viele andere Arbeiter lebt Marek in einem geschlossenen System. | |
Mitarbeiter von DSI überwachen die Arbeit im Werk, sie notieren Stunden und | |
Strafen – und sie stellen die Unterkunft. Das ist nicht per se illegal, | |
aber es führt zu Abhängigkeit. | |
Die Miete und alle anderen Kosten werden direkt vom Lohn abgezogen. Am Ende | |
des Monats bleiben den Arbeitern oft nicht viel mehr als 1.000 Euro, auch | |
wenn sie sechs Tage die Woche arbeiten. | |
„Die Miete kostet über 100 Euro im Monat“, sagt Marek. „Aber wir haben | |
unterschrieben, dass sie für jeden Krankheitstag 10 Euro einbehalten | |
dürfen.“ Ein Vertrag, der bis April 2020 lief und uns vorliegt, bestätigt | |
Mareks Aussage. | |
Wer unentschuldigt fehle, zahle 100 Euro Strafe pro Tag. So sagen es | |
mehrere Mitarbeiter. Ein Arbeiter erzählt, dass dann ein DSI-Angestellter | |
in die Unterkunft käme, mit einem Steckbrief, ein A4-Papier mit | |
ausgedrucktem Foto. Die Arbeiter nennen diese Angestellten „Jagdhunde“. Man | |
werde ausgeschimpft und nach den Gründen befragt. In einer aktuellen | |
Lohnabrechnung finden wir den Posten „Abzug-Abmahnung“. Es sind 100 Euro. | |
Marek sagt, DSI trickse, wo es gehe. Für die GEZ-Gebühr zahlen alle 5 Euro | |
pro Monat – egal ob 4 Menschen in der Unterkunft wohnen oder 8. Auch dieser | |
Posten taucht auf einer Lohnabrechnung auf, die wir einsehen können. | |
Zudem sei die Abrechnung der Arbeitszeit oft nicht korrekt. Er habe vor ein | |
paar Monaten exakt die gleichen Schichten gearbeitet wie ein Kollege. Auf | |
der Abrechnung hätten aber neun Stunden gefehlt. Fast alle Arbeiter, mit | |
denen wir sprechen, beschweren sich über die Abrechnung. Trotzdem | |
unterschreiben sie die Listen, die ihre Vorarbeiter ihnen vorlegen, weil es | |
sich oft nur um ein paar Stunden handelt. Sich zu beschweren würde mehr | |
Probleme bedeuten. | |
Die Arbeiter berichten auch von Kollegen, die auf der Straße landen, wenn | |
sie gekündigt werden. „Wenn du arbeitest, ist alles gut“, sagt die | |
Sozialarbeiterin Kukiełka über die Subunternehmer-Struktur. „Aber wenn du | |
krank wirst, bist du nicht nur arbeitslos, sondern sofort auch obdachlos.“ | |
In Quarantäne sind die Subunternehmen für die Versorgung der Arbeiter | |
verantwortlich. Marek sagt, dass sie so lange Essen bekommen hätten, bis | |
die Ersten aus der Quarantäne entlassen wurden. Die hätten für die anderen | |
einkaufen sollen. Er rechnet damit, dass ihnen das Essen vom Gehalt | |
abgezogen wird. | |
Auf seiner Webseite präsentiert sich DSI als Dienstleister für | |
Lohnabrechnungen. DSI steht für Datenservice International. An derselben | |
Adresse sitzt aber mit demselben Geschäftsführer auch die DSI GmbH & Co KG. | |
Kernkompetenz: Zerlegung, Weiterverarbeitung, Verpackung, Transport und | |
Verladung von Rind- und Schweinefleisch, unter anderem für die Firma | |
Tönnies. Jahresumsatz 2018: 38,5 Millionen Euro. Laut eigenen Angaben | |
beschäftigt die Firma rund 1.000 Arbeiter bei Tönnies. | |
Das Büro von DSI ist ein roter Backsteinbau am Stadtrand von Rheda. Die | |
Fenster sind abgehängt, an der Tür ein Hinweis auf Polnisch: Wegen | |
Coronavirus-Pandemie bis auf Weiteres geschlossen. | |
Im Büro aber ist Betrieb. Arbeiter treten ein, sprechen die fünf | |
Mitarbeiter an. Alle sprechen Polnisch. Zwei Männer zeigen einen Brief, der | |
über das Ende ihrer Quarantäne informiert. Eine Frau telefoniert mit dem | |
Amt, ohne Ergebnis. | |
Wir bitten die Leiterin der Personalabteilung um ein Gespräch mit der | |
Geschäftsführung. Die Antwort: Keine Gespräche mit Journalisten, auch sie | |
dürfe nichts sagen. | |
Später antwortet DSI schriftlich auf unsere Fragen. DSI sagt, die | |
Netto-Arbeitszeit von 9 Stunden und 45 Minuten dürfe keinesfalls | |
überschritten werden. Überstunden und Samstagsarbeit gebe es nur unter | |
Einhaltung der Gesetze. Zum Vorwurf, Stunden falsch abzurechnen, antwortet | |
das Unternehmen, dass die Arbeiter die Möglichkeit hätten, die Stunden | |
einzusehen und sich zu beschweren. DSI schmeiße Arbeiter auch nicht aus der | |
Wohnung, wenn das Arbeitsverhältnis ende. „Dem Mitarbeiter werden ein paar | |
Tage Zeit gelassen, sich einen Transport zu buchen.“ | |
DSI habe die Mitarbeiter in der Quarantäne mit Lebensmitteln versorgt und | |
dafür extra eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, schreibt die Firma. Die | |
Arbeiter sagen, dass sich dort oft über Tage niemand meldete. | |
Auf die Fragen nach Strafen und Abzügen, etwa bei Krankheitstagen oder | |
unentschuldigtem Fehlen, geht die Firma nicht ein. Man nutze die A4-Zettel, | |
um Arbeiter zu identifizieren und nachzuforschen, was los sei, ob sie etwa | |
medizinische Hilfe benötigen. | |
Armin Wiese kennt die vielen Tricks der Subunternehmer. Er arbeitet für die | |
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, verhandelt mit der | |
Fleischindustrie und beobachtet Tönnies seit Jahrzehnten. Am Rhedaer | |
Rathaus erzählt Wiese von der Zeit, als der Vater von Clemens Tönnies noch | |
eine kleine Fleischerei hatte, nur ein paar Straßen weiter. Wiese kommt aus | |
der Region. Über DSI sagt er: „Die kennen alle Tricks, die es gibt.“ | |
Besonders wichtig ist für Wiese der 15. Juli. Mitte des Monats ist Zahltag | |
bei Tönnies – aber werden die Subunternehmer auch für die Quarantäne | |
bezahlen? „Die können sich das von den Behörden wiederholen“, sagt Wiese. | |
„Aber sie müssten in Vorleistung gehen.“ Gerade für kleine Subunternehmer | |
sei das schwierig. Er glaubt, dass viele Arbeiter kein Geld bekommen | |
werden. DSI schreibt, dass sie am 15. Juli den vollen Lohn zahlen werden. | |
Unklar ist aber auch, was passiert, wenn das Werk noch länger stillsteht. | |
Bekommen die Arbeiter dann Kurzarbeitergeld? Oder müssen sie zum Jobcenter? | |
Piotr Brzozowski ist das mittlerweile egal, er will dann längst weg sein. | |
Er habe in einer anderen Region einen Job gefunden, der wesentlich besser | |
bezahlt sei. Er braucht nur den Brief der Kreisbehörde, dass seine | |
Quarantäne beendet sei. Dann werde alles ganz schnell gehen. „Es wird nicht | |
mal eine Stunde dauern“, sagt er. „Ich gehe duschen, ich packe, dann bin | |
ich weg.“ | |
Marek hat inzwischen Post vom Kreis Gütersloh bekommen. Seine Quarantäne | |
endet am 14. Juli. Er will erst mal weiterarbeiten, wenn die Produktion | |
wieder hochfährt. Aber auch er sucht nach einem neuen Job. | |
Am Freitagmorgen sind wieder Bundeswehrsoldaten vorgefahren und haben | |
getestet. Piotr Brzozoswki hat nach Informationen gefragt. Es gab keine, | |
nur, dass er noch ein paar Tage auf das Testergebnis warten müsse. | |
11 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Jonas Seufert | |
Lukasz Grajewski | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Clemens Tönnies | |
Fleischindustrie | |
Fleisch | |
Reportage | |
Fleischindustrie | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Hannover | |
Tierschutz | |
Arbeitsbedingungen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausbeutung in der Fleischindustrie: „Diesen Job würde kein Deutscher machen�… | |
Ein neues Gesetz soll die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie | |
verbessern. Hält es, was es verspricht? Eine Recherche im sächsischen | |
Torgau. | |
Rheda-Wiedenbrück, die Tönnies-Stadt: Eine Stadt aus Fleisch | |
Die Subunternehmen seien schuld am Corona-Ausbruch, nicht Clemens Tönnies, | |
sagen viele Anwohner. Auf den Fleischproduzenten lässt man nichts kommen. | |
Corona-Zahlen in Deutschland: Gefährliche Sorglosigkeit | |
Die Zahl der Neuinfektionen ist stark zurückgegangen. Leider sehen nicht | |
alle diese positive Nachricht als Ergebnis der getroffenen Schutzmaßnahmen. | |
Unterbringung von Bauarbeitern: Bruchbude für Arbeiter | |
In Hannover mussten aus Bulgarien stammende Beschäftigte in einem früheren | |
Hotel schlafen. Sie hatten nicht einmal Toiletten. | |
Philosoph über Schlachtung von Tieren: „Ungehorsam wäre eine Option“ | |
Die Ausbeutung in der Fleischindustrie betrifft Tiere und Menschen. Warum | |
auch Tiere Rechte haben sollten, erläutert Philosoph Bernd Ladwig. | |
Unterbringung von Schlachthofarbeitern: Aber nicht in unserem Dorf | |
Im niedersächsischen Badbergen baut Tönnies ein „Rinderkompetenzzentrum“. | |
Und versucht, alte Dorfgasthäuser als Unterkünfte zu kaufen. | |
Untersuchungen in der Fleischindustrie: Fast 1.900 Mängel in Unterkünften | |
Undichte Dächer, Schimmel, Einsturzgefahr: Behörden in NRW haben 650 | |
Unterkünfte von Arbeitern in der Fleischindustrie untersucht. Und 1.900 | |
Mängeln gezählt. | |
Corona-Hotspot Gütersloh: Warum wurde der Lockdown kassiert? | |
Wegen des Corona-Ausbruchs bei Tönnies wurde der gesamte Kreis Gütersloh | |
dichtgemacht. Ein Gericht in NRW hat die Regeln nun gekippt. | |
Nach Corona-Ausbruch in Schlachthof: Kritik an Boykott von Tönnies | |
Verbraucherschützer haben sich gegen einen Boykott von Fleisch des | |
Tönnies-Konzerns ausgesprochen. Die gesamte Branche müsse sich ändern. |