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# taz.de -- Tönnies-Beschäftigte in Quarantäne: Das große Warten
> Seit drei Wochen sind viele, die bei Tönnies arbeiten, in Quarantäne. Ihr
> Unmut richtet sich gegen die Behörden und gegen ihre Arbeitgeber.
Bild: Die Tönnies-Arbeiter werden von mobilen Einsatzteams mehrmals die Woche …
Gut, dass ihr hier seid“, sagt Piotr Brzozowski und zieht an einer
Zigarette. „Reden wir, ich bin stinksauer.“
Es ist der Montag dieser Woche. Eine Siedlung an der Hauptstraße von Rheda
in Nordrhein-Westfalen. Brzozowski, ein kräftiger Mann mit kurz rasierten
Haaren, steht auf der kleinen Terrasse seiner Wohnung – auf den drei
Quadratmetern Frischluft, die ihm geblieben sind. Er raucht eine Zigarette
nach der nächsten.
Wir stehen mit Mundschutz und Sicherheitsabstand auf dem Gehweg daneben.
Die Häuser sind neu, Klinker an den Fassaden, Schotter, dort wo eigentlich
ein Garten wäre. Brzozowski teilt sich seine Wohnung mit drei Männern, im
Haus sind sie fast 30. Alle arbeiten für Tönnies.
Die größte Schlachterei Europas steht nur ein paar Autominuten weiter,
direkt an der A2, Abfahrt 23, Rheda-Wiedenbrück. Bis Mitte Juni hat
Brzozowski hier Tausende Rinderhälften vom Kühlwagen ins Lager geschoben,
Abteilung „Rindfleisch, Entladung“, mal zehn Stunden am Tag, mal zwölf für
9,35 Euro Mindestlohn und eine ganze Reihe an Abzügen. Es sei kalt gewesen,
sagt Brzozowski, die Stunden vergingen zäh. Aber er beschwere sich nicht,
sagt er, er habe gewusst, worauf er sich einlasse.
Nun sitzt Brzozowski seit drei Wochen fest, verdammt zum Nichtstun,
Quarantäne. Er sieht fern, er raucht auf der Terrasse, er kocht, er isst,
er raucht wieder, ab und zu bringen Freunde ein Bier vorbei. „Wir sind hier
eingesperrt wie Hunde“, sagt er.
Rund 7.000 Menschen schuften in Rheda-Wiedenbrück unweit von Gütersloh für
den Unternehmer Clemens Tönnies. Die meisten kommen aus Osteuropa, aus
Polen, Rumänien, Bulgarien. Sie wohnen in Dörfern und Städten rund um die
gigantischen Werkshallen, in Wohnungen in Gütersloh, in Mietskasernen in
Verl, in heruntergekommenen Nachkriegsbauten in Rietberg. Ein Heer an
Arbeitern, die meisten angestellt bei einem der etwa 25 Subunternehmen, die
Werkverträge mit Tönnies geschlossen haben.
Rund um die Uhr schlachten sie Schweine, packen Wurst ab, zerlegen Rinder.
Jedes fünfte Schwein, das in Deutschland geschlachtet wird, kommt von
Tönnies. Bis zu 30.000 Tiere pro Tag sterben allein in Rheda-Wiedenbrück.
Die Arbeiter stehen dicht an dicht am Fließband, es gibt wenig Pausen, bei
Tönnies zählt die Masse.
Was nicht so viel zählt: die Arbeiter und ihre Gesundheit. Mitte Juni
wurden 1.400 Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet. Das Virus hatte im
Schlachthof ideale Bedingungen: die Kälte, viele Menschen auf wenig Raum,
keine Filter in der Luftkühlanlage. Der Kreis Gütersloh schloss den
Schlachthof und stellte die gesamte Belegschaft unter Quarantäne. In Verl
zog die Stadt einen Bauzaun um die Unterkünfte der Arbeiter. In Rietberg
passt ein privater Sicherheitsdienst auf, dass die Arbeiter nicht
weglaufen.
Viele sitzen seit drei Wochen in ihren Unterkünften und sind schlecht
gelaunt. Sie wissen nicht, wann sie wieder rausdürfen. Sie wissen nicht, ob
sie für die Zeit der Quarantäne Geld bekommen. Manche kriegen nicht genug
Essen, sagen sie, weil die Subunternehmen, bei denen sie angestellt sind,
zu wenig liefern.
Kurz nachdem Brzozowski seine Geschichte erzählt hat, halten dunkle Vans
vor den Unterkünften, Bundeswehrsoldaten steigen aus und ziehen sich weiße
Schutzanzüge über die Tarnkleidung, dazu Mundschutz und Gesichtsschild.
Coronatests, schon wieder.
Bei den Rumänen eskaliert die Situation an diesem Montag, ein Mann schreit
die Soldaten an, die Dolmetscherin versucht zu übersetzen: Immer nur Tests,
keine Ergebnisse. Dann verschwindet er im Haus und kommt nicht wieder. Die
anderen Bewohner protestieren ebenfalls, lassen sich dann aber den
Wattestab in den Mund stecken.
Zweimal die Woche testen Feuerwehrleute, Soldaten, Angestellte von sozialen
Trägern und Freiwillige die Arbeiter und ihre Kontaktpersonen. Sie fahren
in sogenannten mobilen Teams zu den Wohnungen, klingeln, fragen nach
Symptomen, nehmen Abstriche und schicken sie ins Labor. Was sie nicht
dabeihaben: Informationen. Wie lange dauert die Quarantäne noch? Warum darf
mein Mitbewohner schon wieder raus und ich nicht? Werden wir diesen Monat
bezahlt? Wann können wir wieder arbeiten?
Sie verweisen dann auf eine Telefonnummer, die Hotline des Gesundheitsamts.
Die Arbeiter sagen, dort erreichen sie selten jemanden, oft scheitere es
auch an der Sprache. Brzozowski sagt, dass sich auch eine deutsche Freundin
für ihn erkundigt habe – erfolglos. „Ich habe keine Informationen.“
Der Kreis Gütersloh koordiniert seit dem Corona-Ausbruch einen gewaltigen
Einsatz, um zu verhindern, dass das Virus sich weiter verbreitet. Die
Kreise Gütersloh und Warendorf gingen am 23. Juni für eine Weile zurück in
den Lockdown, alle Mitarbeiter und Kontaktpersonen von Tönnies mussten
identifiziert werden. Tönnies jedoch konnte zu Beginn noch nicht einmal die
Adressen der Arbeiter liefern. Die Stimmung ist eisig. Das Vertrauen in
Tönnies sei bei null, sagte wenig später der Leiter des Krisenstabs.
Die Arbeiter und Kontaktpersonen wurden zunächst zwei Wochen unter
Quarantäne gestellt. Anfang Juli wurde die Quarantäne verlängert,
allerdings mit Ausnahmen. Wer schon krank gewesen und genesen war, konnte
raus, auch wer negativ getestet wurde und über längere Zeit keinen Kontakt
mehr zu Infizierten gehabt hatte.
Mit den neuen Regeln begann aber auch das Chaos. Um sich wieder frei
bewegen zu können, braucht man einen Brief vom Kreis. Zwei von Brzozowskis
Mitbewohnern haben einen Brief bekommen, er selbst hat noch keinen, trotz
negativer Tests. Warum, weiß er nicht.
Sven-Georg Adenauer ist seit 20 Jahren Landrat im Kreis Gütersloh, er ist
ein Enkel des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, natürlich
Christdemokrat. Seit Adenauer den Produktionsstopp bei Tönnies angeordnet
hat, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über seinen Landkreis berichtet
wird. Adenauer spricht mit Tönnies gerade über die Bedingungen, unter denen
das Werk wieder öffnen kann. Am Vortag protestierten die Bauern vor der
Kreisbehörde, weil sie ihre Schweine nicht mehr loswerden.
Adenauer hat an diesem Dienstag Verstärkung zur Pressekonferenz
mitgebracht. Eine Handvoll Kameras steht im Foyer des Kreishauses am
Stadtrand von Gütersloh, viele Journalisten sitzen auf den Stufen. Die
Leiterin des Gesundheitsamts tritt ans Mikrofon und versucht es mit einem
Superlativ: Den größten Corona-Ausbruch in einem Schlachthof weltweit müsse
der Landkreis momentan bewältigen. Dann die Zahlen: 14.000 Testungen in
drei Wochen, erst 20 mobile Teams, jetzt 40. Das Virus habe sich bis jetzt
zum Glück nicht in der Bevölkerung verbreitet.
Eine Mitarbeiterin versucht, die unterschiedlichen Fälle zu erklären.
Besonders kompliziert ist es bei denjenigen, die Kontakt zu Infizierten
hatten, der Kreis schätzt die Zahl auf 4.500. Wann war der Kontakt? Und vor
allem: Wie schafft man es, die Menschen in den engen Unterkünften zu
isolieren? Wer mit Covid-19 aus Ischgl nach Hause kam, hatte sehr
wahrscheinlich ein eigenes Zimmer für die Quarantäne. Was aber, wenn die
Menschen in Stockbetten schlafen, sich Küchen und Toiletten mit bis zu
einem Dutzend anderen teilen? Seit Anfang Juli isoliert der Kreis die
positiv Getesteten in einer separaten Unterkunft.
Über die Kommunikation mit den Arbeitern spricht niemand. Nachfrage bei
Frank Scheffer, dem Leiter des Krisenstabs, am Rande der Pressekonferenz.
Weiß er vom Frust der Arbeiter?
„Ich kann verstehen, wenn die Leute sauer sind“, sagt Scheffer. Es sei eben
schwer zu vermitteln, gerade wenn die Tests negativ seien und die Menschen
trotzdem in Quarantäne bleiben müssten, weil sie Kontakt zu einer positiv
getesteten Person hatten. Man habe dreisprachige Infoblätter in den
Unterkünften verteilt, die Info-Hotline ausgebaut und Informationen an die
Konsulate gegeben. „Wir versuchen, was wir können. Aber die Ressourcen sind
begrenzt.“
Ein paar Kilometer weiter in der Rietberger Innenstadt sitzt Agnieszka
Kukiełka in ihrem Büro. Kukiełka berät für die Caritas polnische
Werkarbeiter und ihre Familien. Sie geht mit ihnen zum Arzt, hilft bei
rechtlichen Fragen, organisiert Deutschkurse. Ihr Anliegen ist die
Integration. Kukiełka lebt seit fünf Jahren im Kreis Gütersloh, schon in
Polen arbeitete sie für die Caritas.
Viele Werkarbeiter sprächen auch nach Jahren kein Deutsch, sagt sie. Die
Vorarbeiter sprächen Polnisch, zu Hause sprächen alle Polnisch, und wie
soll man nach einer Zehnstundenschicht noch einen Deutschkurs machen? Als
der Landrat die Quarantäne verkündete, hat sie die Informationen übersetzt
und auf Facebook gepostet – nicht als Caritas-Mitarbeiterin, sondern als
Polin, sagt sie.
Am Anfang seien die Leute froh gewesen, aber irgendwann sei die Stimmung
gekippt. „Ich habe versucht das zu erklären: Niemand ist auf 7.000 Menschen
in Quarantäne vorbereitet, testen, Briefe schreiben, noch dazu alles
übersetzen“, sagt sie. Aber die Geduld der Leute sei am Ende. „Die sind
sauer, weil die Organisation und die Kommunikation immer noch nicht
funktioniert.“
Wer darf raus, wer muss in Quarantäne bleiben, wann kommt mein Brief?
Kukiełka sagt: „Es gibt so viele Konstellationen, dass ich nach drei Wochen
sagen muss: Ich verstehe das selbst nicht mehr.“
„Wenn es die sozialen Medien nicht gäbe, wüssten wir gar nichts“, sagt
Marek. In Jogginganzug und Badeschlappen lehnt er am Briefkasten seiner
Unterkunft irgendwo im Kreis Gütersloh. Marek will unerkannt bleiben, er
arbeitet seit Jahren bei Tönnies und fürchtet Konsequenzen, wenn er über
seine Arbeit spricht. Eigentlich heißt er anders.
Marek hat Kukiełkas Beiträge auf Facebook gelesen. In derselben Gruppe
sammeln sich zornige Kommentare polnischer Arbeiter: „Das ist krank, die
machen mit den Leuten, was sie wollen!“ – „Es herrscht ein totales
Informationschaos!“ Marek hat gelesen, dass einer dem polnischen Konsul
geschrieben habe, ein anderer dem polnischen Politiker Donald Tusk und
angeblich jemand auch Donald Trump. Vom Kreis Gütersloh hat er nichts
gelesen.
Die Wut auf Facebook richtet sich aber nicht nur gegen die Behörden,
sondern zunehmend auch gegen ihre Chefs. Alle arbeiten im Schlachthof von
Tönnies, die meisten sind aber von Subunternehmen angestellt, die einen
Werkvertrag mit Tönnies haben. Viele Polen arbeiten für DSI, eines der
größten Subunternehmen.
Und eines, das offenbar keine Probleme damit hat, zu tricksen und
Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Das zumindest legen die Aussagen von
zehn Mitarbeitern nahe, mit denen wir im Kreis Gütersloh gesprochen haben.
Verträge und Lohnabrechnungen belegen ihre Aussagen.
Wenn Marek von DSI erzählt, sagt er: „Das ist legaler Menschenhandel.“
Er habe bei Tönnies zentnerschwere Kisten auf ein Fließband geleert, mal
neun Stunden, mal elf. „In meiner Schicht werden hauptsächlich Innereien
verarbeitet“, sagt er. „Du nimmst eine Kiste, und du wirfst sie aufs Band.
Alles ist voller Blut. Manchmal bin ich komplett nass gespritzt, da helfen
auch die Plastikschürzen nichts.“ Kiste links, dann das Band, rechts der
Fleischwolf – Marek baut seinen Arbeitsplatz mit den Händen in der Luft
nach, während er erzählt.
Kiste, dafür nutzen die Polen bei Tönnies ein deutsches Wort. Sie sagen:
Kista. 40 Tonnen hieve er pro Schicht aufs Band. „Alles geht auf Tempo.“
Wer es nicht schaffe, könne einpacken.
Wie viele andere Arbeiter lebt Marek in einem geschlossenen System.
Mitarbeiter von DSI überwachen die Arbeit im Werk, sie notieren Stunden und
Strafen – und sie stellen die Unterkunft. Das ist nicht per se illegal,
aber es führt zu Abhängigkeit.
Die Miete und alle anderen Kosten werden direkt vom Lohn abgezogen. Am Ende
des Monats bleiben den Arbeitern oft nicht viel mehr als 1.000 Euro, auch
wenn sie sechs Tage die Woche arbeiten.
„Die Miete kostet über 100 Euro im Monat“, sagt Marek. „Aber wir haben
unterschrieben, dass sie für jeden Krankheitstag 10 Euro einbehalten
dürfen.“ Ein Vertrag, der bis April 2020 lief und uns vorliegt, bestätigt
Mareks Aussage.
Wer unentschuldigt fehle, zahle 100 Euro Strafe pro Tag. So sagen es
mehrere Mitarbeiter. Ein Arbeiter erzählt, dass dann ein DSI-Angestellter
in die Unterkunft käme, mit einem Steckbrief, ein A4-Papier mit
ausgedrucktem Foto. Die Arbeiter nennen diese Angestellten „Jagdhunde“. Man
werde ausgeschimpft und nach den Gründen befragt. In einer aktuellen
Lohnabrechnung finden wir den Posten „Abzug-Abmahnung“. Es sind 100 Euro.
Marek sagt, DSI trickse, wo es gehe. Für die GEZ-Gebühr zahlen alle 5 Euro
pro Monat – egal ob 4 Menschen in der Unterkunft wohnen oder 8. Auch dieser
Posten taucht auf einer Lohnabrechnung auf, die wir einsehen können.
Zudem sei die Abrechnung der Arbeitszeit oft nicht korrekt. Er habe vor ein
paar Monaten exakt die gleichen Schichten gearbeitet wie ein Kollege. Auf
der Abrechnung hätten aber neun Stunden gefehlt. Fast alle Arbeiter, mit
denen wir sprechen, beschweren sich über die Abrechnung. Trotzdem
unterschreiben sie die Listen, die ihre Vorarbeiter ihnen vorlegen, weil es
sich oft nur um ein paar Stunden handelt. Sich zu beschweren würde mehr
Probleme bedeuten.
Die Arbeiter berichten auch von Kollegen, die auf der Straße landen, wenn
sie gekündigt werden. „Wenn du arbeitest, ist alles gut“, sagt die
Sozialarbeiterin Kukiełka über die Subunternehmer-Struktur. „Aber wenn du
krank wirst, bist du nicht nur arbeitslos, sondern sofort auch obdachlos.“
In Quarantäne sind die Subunternehmen für die Versorgung der Arbeiter
verantwortlich. Marek sagt, dass sie so lange Essen bekommen hätten, bis
die Ersten aus der Quarantäne entlassen wurden. Die hätten für die anderen
einkaufen sollen. Er rechnet damit, dass ihnen das Essen vom Gehalt
abgezogen wird.
Auf seiner Webseite präsentiert sich DSI als Dienstleister für
Lohnabrechnungen. DSI steht für Datenservice International. An derselben
Adresse sitzt aber mit demselben Geschäftsführer auch die DSI GmbH & Co KG.
Kernkompetenz: Zerlegung, Weiterverarbeitung, Verpackung, Transport und
Verladung von Rind- und Schweinefleisch, unter anderem für die Firma
Tönnies. Jahresumsatz 2018: 38,5 Millionen Euro. Laut eigenen Angaben
beschäftigt die Firma rund 1.000 Arbeiter bei Tönnies.
Das Büro von DSI ist ein roter Backsteinbau am Stadtrand von Rheda. Die
Fenster sind abgehängt, an der Tür ein Hinweis auf Polnisch: Wegen
Coronavirus-Pandemie bis auf Weiteres geschlossen.
Im Büro aber ist Betrieb. Arbeiter treten ein, sprechen die fünf
Mitarbeiter an. Alle sprechen Polnisch. Zwei Männer zeigen einen Brief, der
über das Ende ihrer Quarantäne informiert. Eine Frau telefoniert mit dem
Amt, ohne Ergebnis.
Wir bitten die Leiterin der Personalabteilung um ein Gespräch mit der
Geschäftsführung. Die Antwort: Keine Gespräche mit Journalisten, auch sie
dürfe nichts sagen.
Später antwortet DSI schriftlich auf unsere Fragen. DSI sagt, die
Netto-Arbeitszeit von 9 Stunden und 45 Minuten dürfe keinesfalls
überschritten werden. Überstunden und Samstagsarbeit gebe es nur unter
Einhaltung der Gesetze. Zum Vorwurf, Stunden falsch abzurechnen, antwortet
das Unternehmen, dass die Arbeiter die Möglichkeit hätten, die Stunden
einzusehen und sich zu beschweren. DSI schmeiße Arbeiter auch nicht aus der
Wohnung, wenn das Arbeitsverhältnis ende. „Dem Mitarbeiter werden ein paar
Tage Zeit gelassen, sich einen Transport zu buchen.“
DSI habe die Mitarbeiter in der Quarantäne mit Lebensmitteln versorgt und
dafür extra eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, schreibt die Firma. Die
Arbeiter sagen, dass sich dort oft über Tage niemand meldete.
Auf die Fragen nach Strafen und Abzügen, etwa bei Krankheitstagen oder
unentschuldigtem Fehlen, geht die Firma nicht ein. Man nutze die A4-Zettel,
um Arbeiter zu identifizieren und nachzuforschen, was los sei, ob sie etwa
medizinische Hilfe benötigen.
Armin Wiese kennt die vielen Tricks der Subunternehmer. Er arbeitet für die
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, verhandelt mit der
Fleischindustrie und beobachtet Tönnies seit Jahrzehnten. Am Rhedaer
Rathaus erzählt Wiese von der Zeit, als der Vater von Clemens Tönnies noch
eine kleine Fleischerei hatte, nur ein paar Straßen weiter. Wiese kommt aus
der Region. Über DSI sagt er: „Die kennen alle Tricks, die es gibt.“
Besonders wichtig ist für Wiese der 15. Juli. Mitte des Monats ist Zahltag
bei Tönnies – aber werden die Subunternehmer auch für die Quarantäne
bezahlen? „Die können sich das von den Behörden wiederholen“, sagt Wiese.
„Aber sie müssten in Vorleistung gehen.“ Gerade für kleine Subunternehmer
sei das schwierig. Er glaubt, dass viele Arbeiter kein Geld bekommen
werden. DSI schreibt, dass sie am 15. Juli den vollen Lohn zahlen werden.
Unklar ist aber auch, was passiert, wenn das Werk noch länger stillsteht.
Bekommen die Arbeiter dann Kurzarbeitergeld? Oder müssen sie zum Jobcenter?
Piotr Brzozowski ist das mittlerweile egal, er will dann längst weg sein.
Er habe in einer anderen Region einen Job gefunden, der wesentlich besser
bezahlt sei. Er braucht nur den Brief der Kreisbehörde, dass seine
Quarantäne beendet sei. Dann werde alles ganz schnell gehen. „Es wird nicht
mal eine Stunde dauern“, sagt er. „Ich gehe duschen, ich packe, dann bin
ich weg.“
Marek hat inzwischen Post vom Kreis Gütersloh bekommen. Seine Quarantäne
endet am 14. Juli. Er will erst mal weiterarbeiten, wenn die Produktion
wieder hochfährt. Aber auch er sucht nach einem neuen Job.
Am Freitagmorgen sind wieder Bundeswehrsoldaten vorgefahren und haben
getestet. Piotr Brzozoswki hat nach Informationen gefragt. Es gab keine,
nur, dass er noch ein paar Tage auf das Testergebnis warten müsse.
11 Jul 2020
## AUTOREN
Jonas Seufert
Lukasz Grajewski
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