| # taz.de -- Timothy Snyder über Krankenversorgung: „Wir können nicht zurüc… | |
| > Der renommierte Historiker Timothy Snyder spricht über sein neues Buch, | |
| > US-amerikanische Krankenhäuser und die anstehende Präsidentschaftswahl. | |
| Bild: Unter dem kommerziellen Gesundheitssystem in den USA leidet auch das Klin… | |
| taz am wochenende: Herr Snyder, Anlass für Ihr Buch war, dass Fehldiagnosen | |
| in einem Münchner und in US-amerikanischen Krankenhäusern Sie Ende 2019 dem | |
| Tod nahe brachten. Wie geht es Ihnen jetzt? | |
| Timothy Snyder: Ich bin seit Juni nicht mehr in Behandlung. Es gibt | |
| einiges, das nicht mehr so ist wie zuvor, aber insgesamt geht es mir gut. | |
| Und obwohl das ein Klischee ist: Ich bin froh, am Leben zu sein. | |
| Sie kritisieren im Buch die Gewinnorientierung in der US-Medizin. Ist Ihnen | |
| diese erst durch die eigene Krankheit bewusst geworden? | |
| Mir war abstrakt bewusst, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem nicht | |
| gut ist. Aber eine längere Zeit mittendrin zu sein, darin festzustecken, | |
| wurde zu einer Art ethnografischen Erfahrung für mich. Zwischen dem | |
| abstrakten Wissen und der eigenen Erfahrung begann ich Tagebuch zu führen | |
| und zu analysieren. Erst als ich selbst Schwierigkeiten hatte, behandelt zu | |
| werden, erst als ich selbst zu früh nach einer Operation aus dem | |
| Krankenhaus geworfen wurde und dann die Konsequenzen zu spüren bekam, fand | |
| ich es legitim, darüber zu schreiben. | |
| Die Gesundheitsversorgung in Österreich und Deutschland stellen Sie als | |
| vorbildlich dar. Kommen die Verhältnisse hier in Ihrem Buch nicht ein wenig | |
| zu gut weg? | |
| Jede*r in Amerika weiß, dass unser Gesundheitssystem schlecht ist. Ich will | |
| die US-Amerikaner*innen daran erinnern, dass es Alternativen gibt und | |
| dass die besser funktionieren. Österreicher*innen und Deutsche leben länger | |
| und gesünder als Amerikaner*innen. | |
| Woran liegt das? | |
| Ich schrieb dieses Buch nicht als Medizinhistoriker. Ich kann aber von | |
| elementaren Erfahrungen auf beiden Seiten des Atlantiks erzählen. Davon, | |
| wie es ist, krank zu sein oder Kinder zu bekommen. In Deutschland oder | |
| Österreich rege ich mich im Krankenhaus manchmal über etwas auf oder bin | |
| anderer Meinung – der erste Behandlungsfehler passierte ja auch in | |
| Deutschland, nicht in den USA. Aber in Deutschland mache ich mir nie | |
| Sorgen, dass die entscheidende Frage der Profit ist. Wenn man in den USA im | |
| Krankenhaus ist, beginnt man sofort fragen: Warum machen die das, warum | |
| machen die das nicht, geht es um Geld, um meine Versicherung? Das macht es | |
| viel schwerer, Patient zu sein. Es geht nicht nur um die objektiv | |
| schlechtere Behandlung, sondern auch darum, dass man subjektiv immer | |
| ängstlich sein muss, der Umgebung nicht vertrauen kann. Mir ist klar, dass | |
| das deutsche oder österreichische System nicht perfekt ist. Aber wenn ich | |
| dort bin, habe ich nicht so viel Angst wie im US-amerikanischen System. | |
| Keine Medizingeschichte also, und doch sind Sie von Haus aus Historiker. | |
| Was lehrt die Geschichte des 20. Jahrhunderts über Gesundheitsversorgung? | |
| Ich versuchte im Buch Gesundheit und Freiheit zusammenzudenken. Die | |
| US-Amerikaner*innen haben eine sehr enge Vorstellung von Freiheit. | |
| Dabei geht es vor allem um den Markt und um individuelle | |
| Ausdrucksmöglichkeiten. Doch der Markt in sich ist keine Garantie für | |
| Freiheit, und wenn es nur darum geht, eigene Gefühle auszudrücken, dann | |
| wird man von anderen abgeschnitten bleiben und sich nicht weiterentwickeln. | |
| Ich versuche zu vermitteln, dass sich Gesundheit zu Freiheit positiv | |
| verhält. Wenn Amerikaner*innen „Recht auf Gesundheitsversorgung“ | |
| hören, denken viele nur an staatliche Bürokratie, und die verletzt aus | |
| ihrer Sicht den freien Markt und das wiederum die Freiheit. Ich sage: Nein, | |
| im Gegenteil! Historisch gesehen gehen Gesundheitsversorgung und Freiheit | |
| gut zusammen. Viele der Länder mit der besten Versorgung sind auch die | |
| Länder, in denen es bezüglich Transparenz und Demokratie gut aussieht. Man | |
| kann auch historische Entwicklungen anschauen, mit denen die | |
| Amerikaner*innen vertraut sind – Nazideutschland oder die Sowjetunion | |
| zum Beispiel – und fragen: Wie betrachteten diese Regime Gesundheit? | |
| Wie betrachteten diese Regime Gesundheit? | |
| Die Sowjetunion machte Gesundheit im Gulag zum Wettbewerb. Wer gesünder | |
| war, bekam zumindest eine Behandlung. Ungesunde ließ man sterben. Wir | |
| kennen die Nazigeschichte, aber denken nicht immer daran, wie Hitler | |
| Krankheiten mit den Juden assoziierte, als ob diese bestimmte Gruppe die | |
| Quelle von Krankheit sei. Mein Punkt ist: Wir sollten wir über Gesundheit | |
| als etwas nachdenken, das nichts mit Wettbewerb zu tun hat, das allen zur | |
| Verfügung steht. Und wir sollten nicht über bestimmte Gruppen als | |
| Krankheitsquellen nachdenken, sondern über Gesundheit als etwas | |
| Universelles. Die Beispiele, die ich nannte, Sowjetunion und | |
| Nazideutschland, sollten uns davon abhalten, in die falsche Richtung zu | |
| gehen. | |
| In Deutschland gehen Tausende unter dem Stichwort Freiheit auf die Straße. | |
| Sie sehen sich durch Gesundheitsauflagen diktatorisch eingeschränkt. Wie | |
| wirkt das auf Sie? | |
| Die dritte Lektion im Buch dreht sich um „Wahrheit“. Ich denke Gesundheit | |
| ist ein grundsätzliches Argument dafür, dass wir uns um faktische Wahrheit | |
| kümmern müssen. Die Tendenz, von der Sie sprechen, ist in den USA noch | |
| stärker als in Deutschland. Zum großen Teil kommt sie daher, dass Leute | |
| Internetalgorithmen der faktischen Welt vorziehen und der Lokaljournalismus | |
| in den USA fehlt. Der könnte den Leuten die Tatsachen in ihrer | |
| Nachbarschaft oder Stadt vermitteln und sollte gefördert werden. In den USA | |
| kommt ein großer Teil des Widerstands gegen Masken vom Glauben an | |
| Verschwörungstheorien. Das Problem ist also nicht Gesundheit, sondern ein | |
| vorausgehendes: Wie teilen wir eine gemeinsame Tatsachengrundlage? | |
| Kann ein Donald Trump, der nicht an Fakten festhält, von der Pandemie sogar | |
| profitieren? | |
| Sein Umgang mit der Pandemie hat seine Popularität sicherlich geschwächt. | |
| Auf der anderen Seite kann Trump all den Ärger und die Emotionen nutzen, | |
| die in der Pandemie aufsteigen, um an der Macht zu bleiben. Er ist | |
| politisch tatsächlich ziemlich talentiert. Er weiß, dass er die Wahl im | |
| November nicht auf normale Weise gewinnen wird. Er versucht nun, all die | |
| Emotionen zu kanalisieren, die seine eigene desaströse Politik erzeugt hat, | |
| und zwar gegen andere Menschen. Er hat ein gewisses Maß an Erfolg damit. | |
| Ich glaube nicht, dass er sich am Ende durchsetzten wird, aber es gibt eben | |
| zwei Seiten. In traditionell-demokratischer Hinsicht ist er geschwächt. | |
| Aber die verzweifelte Situation des Lockdowns und der Mangel an | |
| Kommunikation zwischen den Leuten, schafft für ihn auch die Möglichkeit, | |
| auf eine regelwidrige Weise an der Macht zu bleiben. Und genau das versucht | |
| er gerade. | |
| Wäre denn Joe Biden als Präsident radikal genug, um das Gesundheitssystem | |
| zu verändern? | |
| Elizabeth Warren und Bernie Sanders hatten wirklich radikale Vorschläge für | |
| eine Gesundheitsreform. Bei diesem Thema war ich Ihnen näher. Joe Biden ist | |
| zwar kein Vorkämpfer für einen radikalen Wandel, aber falls er gewählt | |
| wird, wird er ein starkes Kabinett und eine starke Vizepräsidentin haben | |
| und sich etwas ausdenken müssen, um eine bessere Zukunft versprechen zu | |
| können. Ich hoffe, dass die Erfahrung der Pandemie ein grundsätzliches | |
| Überdenken der Gesundheitsversorgung vorantreibt. Da sind wir aber noch | |
| nicht. Mit dem Buch will ich existenzielle und ethische Überlegungen in | |
| diese Debatte einbringen. Wir können nicht zurück zum Status quo von 2016. | |
| Das Interview wurde telefonisch geführt. | |
| 22 Sep 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
| ## TAGS | |
| US-Wahl 2024 | |
| Gesundheitspolitik | |
| Politisches Buch | |
| Ukraine | |
| taz.gazete | |
| US-Wahl 2024 | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Ruth Bader Ginsburg | |
| Georgien | |
| Holocaust | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historiker Timothy Snyder in Berlin: Der Weltgeist in Kyjiw | |
| Für Timothy Snyder verdient die Ukraine einen Platz in der Weltgeschichte. | |
| In Berlin zeichnete er ihren Beitrag zur Zivilisationsgeschichte nach. | |
| Autor Richard Kreitner über die USA: „Die Angst hält das Land zusammen“ | |
| In den USA spitzen sich die Auseinandersetzungen zu. US-Autor Richard | |
| Kreitner spürt den spalterischen Tendenzen und neuen Ablösungstendenzen | |
| nach. | |
| Wahlkampf in den USA: Der Traum ist aus | |
| Die US-Demokraten haben früher den amerikanischen Aufstiegsmythos in die | |
| Wirklichkeit übersetzt. Das entpuppt sich immer mehr als Illusion. | |
| Krankenhausmanager über Reform: „Wir müssen radikaler denken“ | |
| Der Gesundheitsökonom Reinhard Busse hält 800 von 1.400 deutschen Kliniken | |
| für verzichtbar. Auch in Zeiten der Coronapandemie. | |
| Nachfolge von Ruth Bader Ginsburg: Fehler im System | |
| Ein dysfunktionaler Kongress politisiert das Oberste Gericht immer mehr. | |
| Das ist undemokratisch und untergräbt das Vertrauen in die Justiz. | |
| Buchmesse-Gastland Georgien: Die Zukunft liegt im Westen | |
| Der Historiker Timothy Snyder beschreibt den russischen Einfluss auf | |
| postsowjetische Länder. Georgiens Aufbruch lässt sich in der Literatur | |
| ablesen. | |
| Timothy Snyder über den Holocaust: „Ich schildere Mikropolitik“ | |
| Nicht singulär? „Black Earth“-Autor Snyder über den Holocaust, | |
| Staatszerstörung und die „ökologische Panik“ Hitlers. |