# taz.de -- Therapie im Netz: Per Video zurück in die Sitzung | |
> Während der Coronapandemie verlagerte sich die Psychotherapie ins | |
> Internet. Onlinetherapie erwies sich als effektiv. Was bleibt davon im | |
> Jahr 2023? | |
Bild: Vor Ort beim Psychologen | |
Während ihrer Psychotherapie zog Julia aus Sachsen ins Allgäu. | |
Normalerweise hätte das für die 27-jährige bedeutet: einen neuen | |
Therapeuten finden, Warteliste, Wochen oder Monate ohne Sitzungen. Doch | |
während der Coronapandemie durften Psychotherapiesitzungen uneingeschränkt | |
online stattfinden. Davon profitierte Julia: Ihr Wohnzimmer wurde zum | |
Behandlungsraum, und statt in zwei Augen blickte sie in eine Kamera. So | |
konnte sie weiterhin mit ihrem Therapeuten arbeiten, bis sie einen neuen | |
Platz fand – trotz hunderter Kilometer Entfernung. | |
Mit dem Ende der pandemischen Sonderregelungen im Januar 2022 wurden die | |
Möglichkeiten für Videosprechstunden wieder eingeschränkt. Was bleibt davon | |
im Jahr 2023? Und welches Potenzial bietet die Onlinetherapie? | |
Seit Juli 2022 dürfen Psychotherapeut:innen insgesamt drei von zehn | |
Sitzungen online abhalten. Theoretisch können sie also jeden dritten | |
Patienten ausschließlich per Video treffen. Trotzdem wurden im Jahr 2022 | |
deutlich weniger Videosprechstunden abgehalten als in den beiden Vorjahren. | |
Die größte deutsche Krankenversicherung, die Techniker Krankenkasse, | |
verzeichnete einen Rückgang um ein Viertel. Immerhin: Vor der Pandemie gab | |
es praktisch gar keine Videotherapie. Auch Julia merkt die Veränderung. Bei | |
ihrem neuen Therapeuten kann sie keine Onlinestunden nehmen. | |
Dabei zeigt ein Blick in die Studienlage: Auch in der Videotherapie | |
verbessern sich die Symptome der Patient:innen, und zwar [1][vergleichbar | |
mit der Face-to-Face-Variante]. Wenig überraschend, findet Christine | |
Knaevelsrud, Psychologie-Professorin an der Freien Universität Berlin und | |
am Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG). „Alles andere würde | |
einen wundern, denn auf inhaltlicher Ebene gibt es eigentlich keinen | |
Unterschied.“ | |
## Auch eine Frage der Wahrnehmung | |
Für Julia hat es sich trotzdem sehr anders angefühlt. Sie konnte sich auf | |
die Videotelefonate nicht so gut einstimmen. Immer wieder gab es technische | |
Probleme. „Und im Hinterkopf war ständig, ob gerade jemand in der Wohnung | |
etwas mitbekommt von meiner Stunde“. | |
Knaevelsrud sieht im Zurückdrehen der Gesetze eine verpasste Chance. Denn | |
trotz solcher Schwierigkeiten gebe die Videotherapie den Klient:innen | |
etwas Wichtiges: die Möglichkeit, zu entscheiden. „Ich glaube, es spielt | |
eine sehr wichtige Rolle, dass Patient:innen die Form der Intervention | |
selbst wählen können.“ | |
Zudem ermöglichen Videosprechstunden vielen Menschen einen Zugang zur | |
Psychotherapie. Gerade in ländlichen Gegenden ist das Angebot noch knapper | |
als in Städten. Für manche kann die Onlinetherapie außerdem die Hürde | |
senken, eine Behandlung zu beginnen. Knaevelsrud fand in ihren Befragungen | |
heraus, dass Menschen nach einem Onlineprogramm eher für eine | |
konventionelle Therapie bereit sind. | |
Die hat derweil mit eigenen Problemen zu kämpfen. „Unsere Praxen sind an | |
der Belastungsgrenze“, sagte Gebhard Hentschel im August. Er ist der | |
Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV). | |
Konkret bedeutet das: [2][2018 erhielt nur jede zehnte Person] mit einer | |
diagnostizierten Depression eine von den Krankenkassen anerkannte | |
psychotherapeutische Behandlung. Die durchschnittliche Wartezeit auf einen | |
Therapieplatz betrug fünf Monate. Die Pandemie hat die Situation weiter | |
verschärft. Könnte die Videotherapie dabei helfen, die Wartezeiten zu | |
verkürzen? | |
Knaevelsrud ist skeptisch: „Der entscheidende Vorteil der Videotherapie ist | |
ja vor allem die Entkopplung vom Behandlungsraum. Doch es bleibt so, dass | |
man eine Stunde bei einer Psychotherapeutin braucht.“ Ein Klient kann | |
Fahrtwege sparen – für die Therapeutin bleibt der Aufwand ungefähr gleich | |
hoch. | |
„Wir haben zwar viele Psychotherapeut:innen in Deutschland, aber zu | |
wenige Kassensitze“, erklärt die Psychologin. Nur Therapeut:innen mit | |
Kassensitz können ihre Behandlungen über die gesetzlichen Krankenkassen | |
abrechnen. Manche Krankenkassen verfügen zwar über eigene Onlineprogramme, | |
die tatsächlich mit geringeren Wartezeiten verknüpft sind. Das Angebot ist | |
allerdings unübersichtlich und nur für Angehörige der jeweiligen | |
Versicherung, kritisiert Knaevelsrud. | |
Etwas Abhilfe schaffen könnten andere Formen der Onlinetherapie, wie die | |
sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen (Digas). Das sind vom | |
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geprüfte Onlinekurse | |
und Apps im Internet oder auf dem Smartphone. Wenn eine Diga einen | |
erwiesenen gesundheitlichen Nutzen mit sich bringt und den gesetzlichen | |
Anforderungen an Datenschutz und Sicherheit genügt, wird sie in das | |
Diga-Verzeichnis aufgenommen – dann übernehmen die Krankenkassen die | |
Kosten. | |
## Kontrolle über den Therapieverlauf | |
In manchen dieser Programme im psychologischen Bereich haben die Nutzenden | |
Kontakt zu Therapeut:innen. So auch bei der verbreitetsten Diga, dem | |
Onlinetherapieprogramm Deprexis: Dort können Therapeut:innen Module | |
festlegen, Nutzungsdaten einsehen und auf einem Stimmungsbarometer den | |
Gemütszustand ihrer Klient:innen verfolgen. Sie können auch persönliches | |
Feedback geben, beispielsweise auf eine Schreibaufgabe, in der die | |
Patient:innen nacherzählen sollen, wie ihre psychischen Beschwerden | |
begannen. | |
Wenn dieser Kontakt fehlt, muss es nicht unbedingt ein Nachteil sein: Bei | |
leichten Depressionen und bei einigen Angststörungen sind unbetreute | |
Selbsthilfeprogramme [3][so wirksam wie angeleitete Versionen]. „Insgesamt | |
sehen wir aber schon, dass der therapeutische Kontakt dazu führt, dass | |
Interventionen besser funktionieren“, so Knaevelsrud. | |
Die Internetanwendungen geben den Patient:innen mehr Kontrolle über | |
ihren Therapieverlauf. Das ist ein unterschätzter Vorteil, findet | |
Knaevelsrud. Der Hauptgrund, weshalb Menschen eine Onlinetherapie wählten, | |
sei ihr Bedürfnis nach Autonomie: „Viele Patienten möchten selbst steuern, | |
welche Teile sie wann und in welcher Intensität machen.“ Wenn sich | |
Betroffene zum Beispiel lieber abends mit ihrer Krankheitsgeschichte | |
auseinandersetzen wollen, sind die Türen zur therapeutischen Praxis längst | |
geschlossen. | |
Von September 2020 bis September 2022 wurden ungefähr [4][50.000 Digas im | |
Bereich psychische Gesundheit verschrieben] und verwendet – bei jährlich 5 | |
Millionen Menschen mit einer Depression. In den meisten Fällen spielen | |
Digas also keine Rolle. Dabei könnte gerade die Kombination aus begleiteten | |
Selbstmanagement-Programmen wie Deprexis und persönlichem Kontakt die | |
Zukunft der Psychotherapie einleiten. So haben Menschen mit psychischer | |
Erkrankung ihre:n Therapeut:in im Alltag dabei – zumindest ein | |
bisschen. „Ich glaube, solche digitalen Angebote stellen unser | |
traditionelles Konzept von Psychotherapie infrage“, sagt Knaevelsrud. „Zum | |
Beispiel die Idee, dass sie in einem gemeinsamen Raum stattfinden muss, und | |
zwar immer einmal pro Woche für 50 Minuten.“ Die technischen Möglichkeiten | |
sind da. Bleibt die Frage: Wann fängt die Zukunft an? | |
14 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34061758/ | |
[2] https://www.aerzteblatt.de/int/archive/article/225958 | |
[3] https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/2774861 | |
[4] https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/tel… | |
## AUTOREN | |
Anton Benz | |
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