| # taz.de -- Tagebuch Frankfurter Buchmesse: Geil, Messe! | |
| > Unser Autor ist zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse. In diesem | |
| > Tagebuch berichtet er von seinen Eindrücken. Tag 1: Deutscher Buchpreis. | |
| Bild: Lasst die Party beginnen. Der Autor beim Deutschen Buchpreis | |
| Meine erste [1][Frankfurter Buchmesse] beginnt. Ich wache auf, und der | |
| Rausch der letzten Nacht hämmert gegen meine Schläfen, als hätte er sich | |
| erschreckt: | |
| Es ist gerade mal 8 Uhr, und neben meinem Bett steht der Sohn der Frau, die | |
| mich bei sich wohnen lässt, weil sie Mitleid mit mir hatte. Ich hätte ja | |
| nicht wissen können, dass man Monate vor Messebeginn ein Hotel buchen muss. | |
| Jetzt kostet ein Bett im Schlafsaal in einem 2-Sterne-Hostel irgendwo am | |
| Rand der Stadt für die paar Tage ernsthaft fast 300 Euro. | |
| Ich sehe den Typen an, er sieht mich an. | |
| Wäre das ein Film, wäre das jetzt der Moment, in dem er zu schreien | |
| beginnt, aber er stellt sich als Henri vor. | |
| “Ich war gestern beim Buchpreis“, sage ich fröhlich. | |
| Er sieht mich unbeeindruckt an. Wir schweigen eine Weile, und irgendwann | |
| fragt er mehr höflich als interessiert: “Und wie war es?“ | |
| Dann richte ich mich auf, trinke die Flasche Wasser neben meinem Bett und | |
| bemerke, wie das Party-Ich sich nur in der Nacht versteckt und mit aller | |
| Kraft die Gedanken des Abends zusammensammelt. | |
| ## Der Buchpreis | |
| Es ist Montagabend, kurz vor 18 Uhr. | |
| Ein paar Stunden, bevor die Preisverleihung losgeht und ich den Römer, den | |
| Ort, an dem sie stattfindet, betrete, hat mich die Euphorie gepackt, ich | |
| hab mir eine Frankfurt-Touri-Mütze als Zeichen des Commitments besorgt und | |
| im Zug gen Hauptbahnhof versucht, etwas Stimmung für die kommenden Tage zu | |
| verbreiten. | |
| Die größte Buchmesse der Welt wird eröffnet, und das ist doch geil! Und | |
| wäre das nicht schon aufregend genug, wird heute auch noch der Preis für | |
| den Roman des Jahres verliehen. | |
| Nur dann die Ernüchterung: Niemand außerhalb der Preisverleihung scheint | |
| davon vorab mitbekommen zu haben. | |
| Im Abteil nur Schulterzucken. Keiner hat Lust zu wetten, erst als ich einer | |
| Männergruppe im Bordbistro eine Runde Bier spendiere, ließen sie sich | |
| darauf ein. | |
| Unser Tipp lag bei „Vatermal“, einem Roman über eine türkische | |
| Migrant:innenfamilie und die Abwesenheit eines Vaters. Dazu sind noch | |
| zwei weitere Familiengeschichten im Rennen, zwei mit DDR-Bezug, ein Roman | |
| mit dem Titel „Drifter“. Alle vorm Saal sagen drei Dinge. | |
| Familiengeschichte kann eigentlich nicht gewinnen, wegen [2][Kim de | |
| L’Horizon im letzten Jahr], es wird auf jeden Fall eine Frau, aber | |
| vermutlich wird's „Vatermal“. | |
| Und am Ende gewinnt [3][der Österreicher Tonio Schachinger] mit dem Roman | |
| „Echtzeit“! | |
| „Mit einem Coming-of-Age-Roman, in dem es um einen Gamer geht!“, erzähle | |
| ich Henri jetzt aufgeregt. „Ist das nicht krass?“ | |
| „Ich muss jetzt auch mal los zur Schule!“, sagt Henri. Dann geht er, und | |
| ich fühle mich so ähnlich irritiert wie gestern vor der Verleihung des | |
| Buchpreises, und ich denke daran, wie der Abend weitergegangen ist. | |
| ## Der Empfang | |
| Später beim Empfang komme mit einem der Juroren des Buchpreises ins | |
| Gespräch. | |
| Wir haben uns in Berlin mal bei einer Podiumsdiskussion kennengelernt, und | |
| jetzt stellt er mich einem anderen Typen vor, der auch irgendwas mit dem | |
| Buchpreis zu tun hat. „Arno Broks“, sagt der Juror, und der Buchpreismann | |
| erklärt, dass wir uns schon kennen würden. Ich ignoriere die Tatsache, dass | |
| das nicht stimmt und ich gar nicht so heiße. Es geht hier jetzt um | |
| Wichtigeres. | |
| „Wieso hyped niemand diesen Preis?“, frage ich. | |
| Der Juror sieht mich mit einer Gutmütigkeit an, so wie Politiker gucken, | |
| wenn sie mit [4][Fridays-for-Future]-Aktivist:innen in Podiumsdiskussionen | |
| sitzen. „Also, dieser Kleber auf dem Buch des Gewinners wird dafür sorgen, | |
| dass sich das 100.00 Mal mehr verkauft“, sagt er wohlwollend. “Nein, ich | |
| meine das Davor“, entgegne ich. „Vorher hat doch kaum jemand gewusst, dass | |
| heute der Preis verliehen wird.“ | |
| „Ja, stimmt, das interessiert nur die Literaturblase“, antwortet er. „Das | |
| wäre natürlich anders, wenn die Verleihung einfach ab 18 Uhr im Fernsehen | |
| übertragen wird und die Leute gar nicht so einfach daran vorbeikommen.“ | |
| ## Der nächste Morgen | |
| Daran denke ich jetzt am nächsten Morgen, während Henri schon das Weite | |
| gesucht hat. Das Problem, von dem der Juror sprach, wurde auch schon in den | |
| Reden bei der Buchpreisverleihung thematisiert. Nur war das ausschließlich | |
| vor einer Reihe Bekehrten und fand dann später in den | |
| Eineinhalb-Minuten-Tagesschau-Zusammenfassung keinen Platz: | |
| Gesagt wurde: Feuilletons nehmen immer weniger Raum in Zeitungen ein, | |
| Literatursendungen laufen [5][zu bescheuerten Uhrzeiten,] und das Lesen von | |
| Geschichten, sofern es nicht um Sachtexte oder Nachrichten geht, wird in | |
| die Rolle einer netten Nebensache gerückt. Klar, das ist angesichts der | |
| globalen Weltlage, die von Krieg, Terror und Inflation beherrscht wird, | |
| irgendwie leicht. Dabei liefern so viele Romane gerade in diesen Zeiten | |
| Orientierung, Zuflucht und geistige Schutzzonen, deren Zugänge inmitten der | |
| Nachrichtenflut schwer zu finden sind – vor allem dann, wenn die Medien als | |
| potenzielle Literaturvermittler Kapazitäten und Ressourcen abbauen. | |
| Während ich mich jetzt im Bad für den zweiten Frankfurt-Tag fertigmache, | |
| fällt mir ein, was [6][die Autorin Sibylle Berg] vor gut vier Jahren einmal | |
| in einer Kolumne geschrieben hat, als es um die Rolle von Literatur im | |
| Alltag ging. Und die ist jetzt wirklich nicht dafür bekannt, besonders | |
| rosige Zukunftsvisionen zu skizzieren: | |
| “Ich lese wieder“, schreibt sie. „Nicht kleine Tranchen im Netz, ich klic… | |
| mich nicht mehr durch tausend Seiten, um am Ende nichts zu wissen, sondern | |
| ich lese Bücher. Meine Laune hat geradezu ausgelassene Züge angenommen. Ich | |
| habe das Gefühl, irgendeinem seltsamen Versuch, der mit meinem Gehirn | |
| angestellt worden ist, entkommen zu sein. Ich bin wieder ruhig. Ich lese. | |
| Ich habe Hoffnung.“ | |
| ## Vor der Eröffnung | |
| Die Sätze gehen mir nicht aus dem Kopf, während ich später durch die Stadt | |
| laufe. Heute Abend wird die Messe eröffnet. Und ich denke noch einmal | |
| daran, überhaupt das erste Mal dabei zu sein. | |
| Irgendwie will ich Leute wie Henri und die mies gelaunten Leute im ICE | |
| dafür begeistern, das Lesen auf dieser Literaturparty als Freund für den | |
| Alltag zu gewinnen – etwas Hoffnung verbreiten, sie sich verzaubern lassen. | |
| Nur muss man damit vielleicht erst bei sich anfangen, denke ich. | |
| Und dafür bin ich ja hier. Also, lasst die Party beginnen! | |
| Aron Boks, 1997 geboren, lebt als Autor in Berlin. Er schreibt für diverse | |
| Zeitungen und Magazine. Zuletzt erschien das Buch „Nackt in der DDR“ über | |
| seinen Urgroßonkel, den Maler Willi Sitte (Verlag HarperCollins). Das | |
| Messetagebuch wird finanziert von der taz Panterstiftung. | |
| 17 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Frankfurter-Buchmesse-2024/!t5240018 | |
| [2] /Deutscher-Buchpreis-fuer-Kim-de-lHorizon/!5889249 | |
| [3] /Buchpreis-fuer-Tonio-Schachinger/!5967271 | |
| [4] /Schwerpunkt-Fridays-For-Future/!t5571786 | |
| [5] /Einsparplaene-beim-Kultursender-Bayern-2/!5948228 | |
| [6] /Interviewband-der-Autorin-Sibylle-Berg/!5667344 | |
| ## AUTOREN | |
| Aron Boks | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Literatur | |
| Frankfurt/Main | |
| Sibylle Berg | |
| Gegenwartsliteratur | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| DDR | |
| Countdown Lützerath | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse: Wieso sind Österreicher cooler? | |
| Am dritten Tag findet der Österreich-Empfang statt. Eine gute Gelegenheit, | |
| um darüber nachzudenken, was an der dortigen Literaturszene so toll ist. | |
| Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse: Literaturdinner, wenn Krieg ist | |
| Slavoj Žižek sorgt mit seiner Rede bei der Eröffnungsfeier für Aufregung – | |
| und Gesprächsstoff. Wichtig ist aber trotzdem, wie man angezogen ist. | |
| Baseballschlägerjahre in Wernigerode: „Das waren die 90er Jahre, ja?“ | |
| Kurz nach der Wende war Wernigerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser | |
| Autor wurde 1997 dort geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. Eine | |
| Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst. | |
| Auf der Spur von Willi Sitte: Sie lieben und sie hassen ihn | |
| Willi Sitte war Maler, DDR-Funktionär – und umstritten. Für unseren Autor | |
| war er lange nur sein Urgroßonkel – bis ein Bild auf dem Dachboden | |
| auftaucht. | |
| Tagebuch aus Lützerath (12): Die Räumpanzer sind da, ich bin weg | |
| Fast zwei Wochen lebte unser Autor bei den Besetzer:innen. Am Tag der | |
| Räumung verbrachte er ein paar Stunden in einer kleinen Holzhütte. |