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# taz.de -- Sybille Volkholz über Engagement: „Eine große Erwartungshaltung…
> Sybille Volkholz, Gründerin der Lesepaten, ist Aktivistin in
> Bildungsfragen. Jetzt wird sie 80. Ein Gespräch über Alter und
> bürgerschaftliches Engagement.
Bild: Befindet sich im Ruhestand, „den man sinnvoll ausfüllen kann“: Sybil…
wochentaz: Frau Volkholz, demnächst im März werden Sie 80. Haben Sie
Probleme, über Ihr Alter zu sprechen?
Sybille Volkholz: Überhaupt nicht. Es ist doch gut, wenn man es relativ
unfallfrei so weit geschafft hat, gesund und munter ist. Das gelingt nicht
allen.
Einsamkeit oder Langeweile, kennen Sie das?
Nein. Ich will damit nicht sagen, dass ich von solchen Gedanken nicht auch
mal heimgesucht werde. Im Prinzip versuche ich, etwas Sinnvolles zu machen.
Sie haben in Berlin in den unterschiedlichsten Funktionen Schul- und
Bildungspolitik gemacht, Projekte initiiert. Das von Ihnen 2005 mit dem
Verein der Berliner Kaufleute und Industrieller gegründete [1][Projekt die
Lesepaten] ist ein großer Erfolg geworden. Bundesweit gibt es in dieser
Größenordnung nichts Vergleichbares. Was treibt Sie an?
Die Frage ist, was kann man dafür tun, dass eine Gesellschaft zusammenhält.
Es gibt bei uns eine große Erwartungshaltung, der Staat müsse in erster
Linie dafür sorgen. Das finde ich fatal. Bürger:innen sollten selbst
etwas dafür tun.
Geht das genauer?
Ein charakteristisches Beispiel in meiner Zeit als bildungspolitische
Sprecherin der Grünen war, dass sich zwei Jungs auf einem Schulhof
geschlagen hatten. Eine Abgeordnete nahm den Vorfall zum Anlass, um bei der
Plenarsitzung die Frage zu stellen: Was macht der Senat? Ich habe gedacht,
diese Abgeordnete hat sie doch nicht alle. Das müssen Schulen doch selber
vor Ort regeln. Ich hatte mich schon lange dafür eingesetzt, dass die
Schulen mehr Selbstverantwortung erhalten. Oder, ein anderes Beispiel: Die
Pisa-Ergebnisse sind im Süden Deutschlands besser als im Norden. Das hat
viele Gründe. Leuten, die nach Süddeutschland umgezogen sind, fällt häufig
auf, dass im Süden die Selbstwirksamkeit höher ist als hier bei uns: Wenn
ich etwas will, muss ich es machen. In Berlin ist diese Denke noch nicht so
verbreitet.
Worauf wollen Sie hinaus?
Das ehrenamtliche Engagement in Berlin hat im letzten Jahrzehnt stark
zugelegt, das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. In den Nullerjahren
war das noch nicht so. Mit den Lesepaten haben wir bestimmt ein bisschen
dazu beigetragen. Aber auch in diesem Ehrenamt gibt es viele Menschen, die
sagen, wir sind die Lückenbüßer, weil es der Staat nicht macht. Das finde
ich eine falsche Herangehensweise. Für das Vorlesen vor dem Einschlafen ist
nicht der Staat zuständig.
Und weniger überspitzt formuliert?
Wir machen das Ehrenamt, weil wir Kindern, die weniger Chancen haben,
helfen können. Es soll sozusagen ein gesellschaftlicher Ausgleich
untereinander hergestellt werden. Und das kann eben selbst organisiert
werden.
Mit Ehrenamt assoziiert man zumeist, da engagieren sich ältere Leute, die
ansonsten nicht wissen, was sie tun sollen. Ist der Begriff nicht etwas
antiquiert?
Ich spreche auch lieber von bürgerschaftlichem Engagement. In
angelsächsischen Ländern ist das ja viel mehr verbreitet. In New York habe
ich zum Beispiel mal Schilder mit der Aufschrift gesehen, dieser Park wird
von der Nachbarschaft gepflegt. Menschen, die sich um etwas kümmern,
identifizieren sich mit dieser Sache auch viel mehr.
Bevor Sie die Lesepaten gegründet haben, haben Sie sich vier Wochen lang
kanadische Schulen angeguckt. Was haben Sie vorgefunden?
Mich interessierte, was machen die anders. [2][Kanada lag und liegt bei
Pisa fast immer vorne]. Auffallend war die positive Besetzung des Begriffs
Leistung. Es gibt dort hohe Leistungserwartungen verbunden mit einem sehr
lernfreundlichen Klima. Ich habe mich zudem immer gewundert, wie viel
Personal die haben, bis mir aufgezeigt wurde, dass viele davon Volunteers
waren. Eine durchschnittliche Grundschule hat an die 50 Volunteers. Diese
saßen im Schulbüro, in der Bibliothek, waren mit in den Klassen. Das waren
teilweise Eltern, es waren auch Jüngere. Es waren nicht nur Senioren.
Diese freiwillige Arbeit muss man sich aber auch leisten können. Jemand,
der an der Armutsgrenze herumknapst, verdient sich vermutlich lieber etwas
dazu, als sich ehrenamtlich zu engagieren.
Das ist nicht generell so. Nicht nur Gutverdienende engagieren sich.
Natürlich sind im Lesepatenprojekt überwiegend Bildungsbürger. Aber auch
Vereine wie der Landessportbund leben vom Ehrenamt. Oder gucken Sie doch
mal die Tafeln an. Soweit ich weiß, gibt’s da auch Menschen, die sowohl
mithelfen, dafür aber auch etwas bekommen, in Form von Nahrungsmitteln.
Natürlich haben junge berufstätige Eltern in der Rush Hour des Lebens mit
kleinen Kindern weniger Kapazitäten für ein Ehrenamt. Aber auch in der
Familienphase engagieren sich viele, wenn man sich zum Beispiel die
Betätigung in den Schulen anguckt.
In was für einer Lebensphase befinden Sie sich jetzt?
Im Ruhestand, den man sinnvoll ausfüllen kann. Eine Lesepatin, die nach
ihrer Motivation gefragt wurde, sagte mal: Spätestens, wenn der Keller
aufgeräumt ist, muss man sich überlegen, was mache ich jetzt? Irgendwas
muss man machen. Ich kann nicht den ganzen Tag ins Museum gehen oder lesen.
Ich lese meistens zwei Bücher parallel: Belletristik, Sachbuch, und zum
Einschlafen ein Hörbuch. Das ist auch schön, reicht aber nicht. Abgesehen
davon, dass Ehrenamtliche gebraucht werden, bekommen sie gerade bei der
Arbeit mit Kindern unglaublich viel Feedback. Das macht auch Freude.
Reicht das als Motivation, sich zu engagieren?
Sicher auch. Es ist völlig legitim, auch einen Eigennutzen davon zu haben.
Etwas zurückzubekommen. Daraus entsteht ja auch Sinn: Nicht nur das Gefühl
zu haben, ich mache etwas für andere, ich habe auch etwas davon. Aber auch
vom gesellschaftlichen Zusammenhang her sollte man das denken. Die
Lesepaten – oft eben mit bildungsbürgerlichem Hintergrund – begegnen
benachteiligten Kindern, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Und
erleben diese als fröhliche, neugierige Kinder. Daraus entwickeln sich auch
neue Beziehungen, das ist ja nicht nur Belastung.
Hat Ehrenamt nicht auch etwas Paternalistisches? Senioren etwa erleben
Fürsorge manchmal als Bevormundung.
Ich muss nirgendwo paternalistisch auftreten. Ich kann es immer so
gestalten, dass es eine Beziehung auf Augenhöhe ist. Das ist generell
wichtig im Leben, dass man nicht auftaucht und sagt: Ich versorge dich.
Auch bei schweren Pflegefällen muss man gucken, was will der Patient selbst
und nicht nur die Angehörigen.
Was machen gleichaltrige Menschen in Ihrem Bekanntenkreis, engagieren die
sich auch?
Das ist unterschiedlich. Viele haben viel mit ihren Enkeln zu tun.
Haben Sie selbst auch Kinder und Enkel?
Nein, ich habe aber viele Nichten, Großnichten und -neffen, und eine
Ziehtochter mit zwei Kindern, sie lebt aber nicht in Berlin. Von daher
hatte ich immer viel mit Kindern zu tun, aber manche in meinem
Bekanntenkreis sind hauptberuflich Großeltern. Immer wenn irgendetwas ist,
Kind krank, Elternteil krank, kann nicht in die Kita, kann nicht in die
Schule: Kannst du mal kommen? Das ist viel. Ansonsten macht der
überwiegende Teil meiner Freundinnen und Freunde auch etwas. Entweder im
Freiwilligendienst, Telefonseelsorge, im Verein Fuß e. V. oder bei der
Hilfe für Geflüchtete.
Ihre Bekannten gehören demnach nicht zu den Senioren, die ihre Zeit
ausschließlich mit Reisen, Sport und Körperpflege verbringen?
Solche Leute kenne ich ehrlich gesagt weniger, aber ich würde das nie
jemandem vorwerfen. Wenn man schön verreisen will und es sich leisten kann,
soll man das tun. Wichtig ist, ob man zufrieden ist, und für mich, ob ich
das, was ich tue, sinnvoll finde. Ich wollte immer etwas gesellschaftlich
Nützliches, wenn man so will: Politisches bewirken.
Worauf führen Sie das zurück?
Ein bisschen kommt das daher, dass ich meinen Eltern vorgeworfen habe: Was
habt ihr im Dritten Reich gemacht? Ich wollte mir etwas Ähnliches nie
vorwerfen lassen. Die Verantwortung für das eigene Leben, für die
Gestaltung der Gesellschaft ist ein Thema, das mich bis heute beschäftigt.
Man kann nicht erwarten, dass andere dafür sorgen, dass meine Wünsche
erfüllt werden. Ein bisschen liegt das auch in meiner Sozialisation.
Sie wurden 1944 in Pommern geboren.
Aufgewachsen bin ich aber im Ruhrgebiet, in Essen. Meine Eltern hatten
schon vor dem Krieg in Essen gewohnt, mein Vater kommt aus Pommern. Meine
Mutter war mit meinen zwei älteren Schwestern nach Pommern geflüchtet, als
das Ruhrgebiet bombardiert wurde und mein Vater im Krieg war. Als ich zwei
war, sind wir dann nach Essen zurückgezogen.
Was haben Ihre Eltern beruflich gemacht?
Sie waren beide Bankangestellte. In Essen konnten sie auch hinterher wieder
anfangen. Das heißt, meine Mutter hat dann mit drei Kindern meistens nicht
mehr gearbeitet, das war ja in dieser Generation so. Aber sie war eine sehr
aktive Frau. Die Haltung meiner Mutter uns Kindern gegenüber war: Wenn ihr
was wollt, müsst ihr das selber hinkriegen. Über fehlende
Eigenverantwortung hat sie sich immer lustig gemacht mit dem Spruch:
„Schad’ meiner Mutter gar nichts, dass mir die Hände abfrieren, was zieht
sie mir keine Handschuhe an.“ Da hatte ich schon ein großes Vorbild an
Selbstwirksamkeit. Aber das ist auch ein bisschen Ruhrgebiet. Ich habe
meine Eltern nie klagen hören.
Sie sind dann zunächst Lehrerin geworden.
Ich hatte in Münster Soziologie studiert. Nach dem Diplom bin ich 1967
zusammen mit meinem Mann nach Berlin gegangen, zum Nabel der
Studentenbewegung. Am Max-Planck-Institut habe ich drei Jahre als
wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Dann habe ich gemerkt, dass
Forschen nicht mein Ding ist. Ich wollte etwas unmittelbar gesellschaftlich
Nützliches machen, mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, und bin Lehrerin
geworden.
Wo?
Erst mal in der Hauptschule. Ich wollte zu den Benachteiligten, rund 13
Prozent der Jugendlichen im Bezirk Charlottenburg waren damals in der
Hauptschule. Wir gehörten zu den Lehrkräften, die Arbeiterkinder richtig
stärken wollten, wir waren hochmotiviert.
Sie gehörten zu den undogmatischen Linken?
Ja, ich war nie in einer K-Gruppe. Die Zeit an der Hauptschule war eine
wichtige, aber auch harte Zeit. Der größere Teil der Schülerschaft hatte
keine kognitiven Probleme, aber Verhaltensprobleme. Das war schon
schwierig.
Jetzt sind Sie 80. Haben Sie das Gefühl, dass die Zeit wie im Fluge
vergangen ist?
Nein, das kann ich überhaupt nicht sagen. Es gibt Zeiten, die kommen einem
ein bisschen länger vor, andere kürzer.
Das sogenannte Ruhestandsloch, in das manche fallen, wenn sie aufhören zu
arbeiten, kennen Sie vermutlich nicht?
Bei mir war es so, dass ich immer Übergänge hatte, es gab nicht diesen
Bruch von einem Tag auf den anderen.
Sie geben bei der Heinrich-Böll-Stiftung nach wie vor bildungspolitische
Publikationen heraus. Braucht man auch im hohen Alter immer noch ein
Projekt, das einen weiter trägt?
Ich habe noch das eine oder andere vor, aber es nimmt ab. Ich weiß gar
nicht, wenn ich nicht selbst ein bisschen drängeln würde, ob mich noch
jemand fragen würde.
Besorgt Sie das?
Nein, ich finde das eigentlich ganz gut.
Wo sehen Sie sich in zwei, drei Jahren – auf der Parkbank?
Ganz sicher nicht! Eher noch mehr als jetzt bei Konzerten der
Philharmoniker, noch mehr im Museum. Aber nein, irgendwas werde ich dann
wahrscheinlich auch noch machen. Was mich zum Beispiel interessiert, wäre
kiezbezogen etwas zu tun. Das habe ich bisher noch wenig gemacht.
20 Feb 2024
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