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# taz.de -- Stück über Missbrauch in der Kirche: Entsetzliches Ausmaß
> Das Theater für Niedersachsen holt das Leid der Opfer und die
> Verdunkelungstricks der Kirche auf die Bühne. Vorangegangen ist eine
> intensive Recherche.
Bild: Dokumente aus der Hölle: Nina Carolin pflastert eine Wand mit Akten, in …
Spätestens seit dem 2010 viral gegangenen Skandal um das Berliner
[1][Canisius-Kolleg] ist der Zusammenhang von Katholischer Kirche und dem
systematischen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auch in Deutschland
allgemein bekannt. Reagiert wurde mit Ekel, Empörung, Verachtung, Hilf- und
Ratlosigkeit.
Aber auch heute, etliche Studien sowie Tausende [2][neu öffentlich
gemachter Fälle] später, möchte wohl kaum jemand detailliert damit
konfrontiert werden, in welchem entsetzlichen Ausmaß gerade Priester,
Diakone, Ordensbrüder usw. ihre Schutzbefohlenen vergewaltigt und es als
„gottgefällige“ Handlung gedeutet haben. Die Kirche hat das stets
[3][bagatellisiert], [4][vertuscht] oder [5][verschwiegen], bis Verjährung
geltend gemacht werden konnte. Stets im Blick hatte sie dabei die
Minimierung des Schadens für den eigenen Ruf, nie die Betroffenen.
Aber all das gehört natürlich auf die Theaterbühne, gerade im Zentrum des
[6][Bistums Hildesheim]. Eine kraftvoll komödiantische Abendunterhaltung
ist nicht zu erwarten, für die Regisseurin Ayla Yeginer am Ohnsorg-Theater
und seit 2020 als Co-Schauspieldirektorin am [7][Theater für Niedersachsen]
geschätzt wird. Aber gerade sie nahm die Herausforderung des Sujets an.
Dafür gab sie Kurse im Studiengang Kulturwissenschaften und Ästhetische
Praxis der Universität Hildesheim. Ein Team von sieben Studierenden
recherchierte mit ihr und entwickelte schließlich das [8][Stück „der weg
zur hölle ist mit guten absichten gepflastert“].
Aktenberge schmücken rechts und links die Bühne. Dahinter ragt eine
Marmorimitatwand empor, verweist auf die prunkvolle Kälte der
unbarmherzigen Kirche (Ausstattung: Anna Siegrot) und wird im Laufe der
Aufführung mit Dokumenten zu Missbrauchsfällen tapeziert. Klaus Haucke, der
in einem katholischen Ordensinternat missbraucht wurde, liest eine
Stellungnahme vor und verdeutlicht, dass es nicht um ein Netzwerk
Pädophiler, nicht um homosexuelle Gewalt, sondern um sexualisierte
Machtausübung bei den Tätern gehe.
Die Kirche sei Teil des Problems. Missbrauch ist eben tief in ihrer DNA
verankert aufgrund der Sexualmoral und den daraus folgenden
Geschlechterbildern, des [9][Zölibats] und eines überhöhten Selbstbildes
der Kleriker. In den Raum geworfen wird die Frage, was an Aufarbeitung
bisher geleistet wurde. Die Aufführung legt nahe: viel zu wenig. Für
Ratsuchende sind Hilfsorganisationen im Theater ansprechbar, für Spenden
wird von der Bühne herab geworben.
Das siebenköpfige Schauspielensemble steht immer wieder von seinen Stühlen
auf und liest aus dem Textbuch vor. Erst mal stellt es die im Auftrag der
katholischen Deutschen Bischofskonferenz [10][2018 erstellte Studie] zum
Thema vor, dann [11][jene der EKD]. Diese, im Januar vorgestellt, belegt,
dass Missbrauch auch ein Problem der ach so offen liberalen evangelischen
Kirche ist, wo „Distanzlosigkeit als Norm“ praktiziert und eben der coole
Pastor übergriffig werden kann. Zwischen den präsentierten Fakten,
Dokumentartheater, schlüpft das Ensemble für Zitate immer wieder kurz in
Rollen oder entwickelt szenische Miniaturen, Repräsentationstheater.
So bricht es plötzlich aus einem einst tiefgläubigen Katholiken (Martin
Schwartengräber) hervor. Körperbebend im Schreitonfall spricht er von
seiner „unsäglichen Wut“, dass die Täter fast alle straffrei davonkommen
und eine Reform der Kirche ausbleibe: „Was aber funktioniert: sich für die
Täter um die Wohnsitze, Leistungsbezüge, Anwaltskosten und Vorhangstangen
zu kümmern! Wer übernimmt die Verantwortung dafür, was aus den Kindern
geworden ist? Die Kirche jedenfalls nicht. Ich fühle mich schuldig, weil
ich die Kirche so lange mit Leib und Seele und ja, auch finanziell
unterstützt habe und fühle mich wie ein dummes Schaf, das den falschen
Hirten gefolgt ist.“
Dass Anspruch und Wirklichkeit der katholischen Geistlichkeit so gar nicht
zusammenpassen, verdeutlicht Yeginer auch mit eingestreuten Bibelzitaten.
Schön böse die Szene, wenn ein Kirchenmann über dem Geschehen thront und
mit religiösen Phrasen und Kirchenglockengeläut ein Missbrauchsopfer
mundtot zu machen versucht, während dieses mit dem Zufluchtsort Kirche als
Ort des Grauens abrechnet.
Schließlich wirft ihm der Kirchenmann als Hilfsangebot eine Strickleiter
ins Paradies zu – ein Angebot zum Suizid? Jedenfalls ein Anknüpfungspunkt,
um dezidiert die lebenslangen Folgen traumatisierender
Missbrauchserfahrungen auszuführen, von jahrelangen
Psychiatrieaufenthalten, Angst- und Bindungsstörungen, Depressionen,
Selbstmordversuchen geht die Rede.
Der Betroffene spricht in einer weiteren Szene bei zynischen Angestellten
der katholisch-kafkaesken Bürokratie vor. Sie schätzen es als völlig
korrekt ein, einen kinderschänderischen Priester, statt ihn zu
exkommunizieren und an die Justiz zu überstellen, nur wegen des Verstoßes
gegen das Zölibat an einen neuen Einsatzort zu versetzen. Dort kann er
weiter sein Unwesen treiben.
Eine 1.000-Euro-Überweisung als Antwort der Täterorganisation auf
Leidschilderungen bezeichnen Betroffene als Verhöhnung.
Ein Lokalbezug darf natürlich nicht fehlen. In einem kauzig satirischen
Dialog streiten Mutter und Sohn über [12][Bischof Heinrich Maria Janssen],
der unter anderem einen zehnjährigen Ministranten fünf Jahre lang
missbraucht haben soll. „Er nutzte immer wieder seine Autorität und
Stellung aus. Es kam zu Masturbation, Oral- und Analverkehr. Der Bischof
galt mir als Gott, den ich nicht kritisieren oder infrage stellen konnte.“
Außerdem schützte er pädokriminelle Priester, die nach Südamerika versetzt
und dort von Adveniat, das Latein-Amerika-Hilfswerk der katholischen
Kirche, unterstützt wurden. Janssens Gebeine ruhen heutzutage im
Hildesheimer Dom, „und die Seele bei mir“, sagt der Teufel. Diesen
Komödienmoment gönnt sich Yeginer dann doch, indem sie Teufel und Gott
darüber streiten lässt, wer die Missbrauchspriester nach dem Tode
aufzunehmen habe.
Besonders gut funktioniert das szenische Wechselspiel von Fakten und
persönlichen Erfahrungen, da so tote Statistikzahlen über vielfach tote
Täter lebendig und hintergründig beleuchtet werden. Es gelingt ein
informativer, empathischer, dramaturgisch überzeugend collagierter Abend,
der die nicht mehr ohnmächtig sein wollende Wut intellektuell wie auch
emotional nachvollziehbar macht und mit sparsam konzentrierter Theatralität
überzeugt.
28 Mar 2024
## LINKS
[1] /Sexueller-Missbrauch-am-Canisius-Kolleg/!5148580
[2] /Opfer-von-Gewalt-im-Kirchen-Internat/!5972112
[3] /Archiv-Suche/!5453334&s=Heinrich+maria+janssen&SuchRahmen=Print/
[4] /Missbrauchsgutachten-im-Bistum-Freiburg/!5928882
[5] /Missbrauch-am-Canisius-Kolleg/!5148309
[6] https://www.bistum-hildesheim.de/fileadmin/dateien/PDFs/Pressetexte/IPP_Mue…
[7] https://www.tfn-online.de/
[8] https://www.tfn-online.de/spielplan-23-24/schauspiel/der-weg-zur-hoelle
[9] /Reformen-in-der-katholischen-Kirche/!5829783
[10] https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG…
[11] https://www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/02/Abschlussbericht_Fo…
[12] http://wp.wissenteilen-hildesheim.de/wp-content/uploads/2021/11/Hildesheim…
## AUTOREN
Jens Fischer
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