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# taz.de -- Kirche mit Reliquie unterwegs: Nekromantischer Wanderzirkus
> Mit dem Herz eines toten Jugendlichen veranstaltet die katholische Kirche
> eine Tournee. Unappetitlicher sind nur die Inhalte, die sie damit
> bewirbt.
Bild: Der 2019 exhumierte und restaurierte Leichnam Carlo Acutis' wurde herzlos…
Vergangene Woche wurden in mehreren deutschen Städten seltsame Dinge mit
Leichenteilen getrieben. Die sind normalerweise zu beseitigen,
„unverzüglich in schicklicher und gesundheitlich unbedenklicher Weise“, wie
es [1][das bayerische Bestattungsgesetz] verlangt.
Nach [2][nordrhein-westfälischem Landesrecht] müssen Leichenteile sogar
verbrannt werden. Ähnlich regeln das auch die anderen Bundesländer. Und
doch tingelte seit Sonntag eine Show mit einem Leichenteil ganz unbehelligt
durch die Republik.
In ihrem Zentrum: das Herz, das einem 2006 Gestorbenen 2019 aus dem
verwesten Körper geschnitten wurde. Mithilfe von Chemikalien und Silikon
hat man es halt- und vorzeigbar gemacht, so wie den restlichen Kadaver
Carlo Acutis’, verstorben mit 15 Jahren.
## Nicht im Einklang mit dem Wunsch des Toten
Dieser hatte sich gewünscht, in Umbrien begraben zu werden. Doch nun soll
er halt, weil es die Eltern unbedingt wollen, heiliggesprochen werden. Das
hat der Vatikan angekündigt. Im Vorgriff darauf hat man ihn exhumiert,
restauriert und desodoriert.
Für sein zur Reliquie erklärtes Herz wurde ein schmucker Transportbehälter
geschmiedet, den sich ausgewählte Besucher*innen im Rahmen der Show
haben über den Kopf schwenken lassen.
Die letzte deutsche Station war am Donnerstag Hamburg-Neugraben. Davor
waren Köln, Berlin und München dran, und weitergehen sollte es in die
Niederlande. Vor ein paar Jahren hat man schon mal etwas Ähnliches mit den
Gebeinen von Bernadette Soubirous in ihrem Schrein gemacht. Dem Kind war in
Lourdes im 19. Jahrhundert eine weiße Dame erschienen.
Dennoch, der Zirkus, den Rom mit dem Herz des toten Teenies veranstaltet,
hat eher mit nekromantischer Praxis zu tun als mit katholischer Theologie:
Einen solchen Tourneebetrieb kennt nicht einmal das Hochmittelalter. Platz
haben Reliquien seit dem 4. Jahrhundert nur unter, nicht auf dem Altar.
[3][Diesem kanonischen Reglement] spricht das gegenwärtige Spektakel Hohn –
und bedient umso mehr PR- und wohl auch wirtschaftliche Absichten. Mit der
hastigen Kanonisierung bindet der Vatikan [4][die einflussreiche Familie
Acutis] stärker an sich, zu deren Privateigentum der milliardenschweren
Mailänder Versicherungskonzern Vittoria Assicurazioni zählt.
Auch hofft man junge Menschen zu ködern, die nicht auf die Gefahren achten,
die ihnen aus dem Schoße der alleinseligmachenden Kirche drohen. Zu den
Motoren der Heiligsprechung gehört denn auch Ex-Kurienkardinal Angelo
Comastri, eine zentrale Figur im Missbrauchsskandal der Knabenschule in
Vatikanstadt von 2008. [5][Der hat im Januar endlich zu einem Schuldspruch
geführt] – ein echtes kirchenhistorisches Ereignis.
Da wirkt es offenbar attraktiv, mal was mit einem Jugendlichen zu machen,
der sich nun wirklich nicht mehr wehren kann. Obwohl, wer weiß: An Leuten,
die auf den Kopf gefallen sind, soll Carlo Acutis ein paar Jahre nach
seinem Leukämie-Tod noch Wunder gewirkt haben.
Während seines kurzen Lebens war der Knabe ganz in seinen Hobbys
aufgegangen: katholische Messe und Homepagebasteln. Besonders gerühmt wird
die, auf der er einen in 17 Sprachen übersetzten Katalog sogenannter
„eucharistischer Wunder“ präsentiert hat.
Das ist der widerlichste Aspekt der Historie vom heiligen Nerd: Diese
Spezialkategorie der Wunder [6][erzählt fast immer], wie Juden christlich
geweihte Hostien geklaut, geschändet und mit Messern auf sie eingestochen
hätten – woraufhin aus der Oblate [7][Blut ausgetreten sei]. Diese Legenden
sollten zum Hass aufstacheln – und sie haben in Frankreich, Belgien und
Deutschland Pogrome und Vertreibungswellen [8][ausgelöst].
Als er mit 13 Jahren diese Propagandanarrative reproduzierte, war dem
religiös begeisterten Carlo Acutis der Hintergrund wohl kaum klar. Für
Kleriker aber, die mit den Knabenleichenteilen makabre Shows veranstalten,
müssen andere Maßstäbe gelten: Sie verbreiten den Hass ganz wissentlich,
der diesen Geschichten eingeschriebenen ist. Nichts kann dabei besser
helfen als ein totes Herz.
29 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayBestG/true
[2] https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?anw_nr=2&gld_nr=2&ugl_nr=2…
[3] https://www.codex-iuris-canonici.de/cic83_dt_buch4.htm
[4] https://www.tuttointermediari.it/vittoria-assicurazioni-andrea-acutis-e-il-…
[5] https://www.ansa.it/sito/notizie/politica/2024/01/23/abusi-a-chierichetti-d…
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Blutwunder
[7] https://www.hagalil.com/2009/07/hostienschaendung/
[8] https://spuren-sichtbar-machen.de/2023/05/judenfeindliche-inschrift-sakrame…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
katholisch
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Katholische Kirche
sexueller Missbrauch
Theater
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