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# taz.de -- Heiligsprechung von Carlo Acutis: Auch tote Jungen kann man noch mi…
> Mit der Heiligsprechung des jungen Carlo Acutis will die katholische
> Kirche fresh wirken. Dafür nimmt sie auch die Verbreitung antijüdischer
> Legenden in Kauf.
Bild: Eine Messe für Carlo Acutis in der Basilika San Francesco in Assisi
Bremen taz | Papst Leo ist unschuldig. Denn der Beschluss für die
Heiligsprechung stammt noch aus der Amtszeit seines Vorgängers. Und über
den Spruch des Dikasteriums – so nennt sich das zuständige, nicht
öffentliche Gericht der katholischen Kirche – kann sich auch Robert Prevost
nicht hinwegsetzen. Ob er also will oder nicht, er muss am 7. September en
bloc sechs Männer [1][und drei Frauen heiligsprechen].
Wer das für einen Mittelalterquatsch hält, der eigentlich so ziemlich allen
egal sein könnte, liegt nicht nur historisch falsch. Heiligsprechungen sind
eine eher moderne Praxis. Seit der Jahrhundertwende hat es mehr
Heiligsprechungen gegeben, als in der gesamten Kirchengeschichte zuvor.
Und selbstverständlich sind sie stets auch politisch. Am leichtesten lässt
sich das an [2][Johannes Paul II.] erkennen, der ihr propagandastisches
Potenzial gezielt im Kampf [3][gegen den Sozialismus] und gegen
lateinamerikanische Befreiungsbewegungen [4][eingesetzt] hat.
Das meiste mediale Aufsehen – und darum geht es bei der Zeremonie – erzeugt
gegenwärtig die Kanonisierung des Jungen Carlo Acutis. Kurz nach der Geburt
seines ersten Sohns im Frühjahr 1991 hat Vater Andrea den Job als Banker
in London City gegen den im Familienkonzern in Mailand getauscht.
## Ohne Wunder keine Heiligen
Dort kam der Junge mit vier Jahren in den Kindergarten, dann kurz aufs
renommierte Istituto San Carlo di Milano, eine katholische Privatschule,
von wo er nach drei Monaten ins traditionsreiche Istituto Tommaseo delle
suore Marcelline wechselte, eine andere katholische Privatschule.
Anschließend ging er aufs Gymnasium des traditionsreichen Istituto Leone
XIII, eine Privatschule, natürlich katholisch, von Jesuiten geführt. Im
Sommerurlaub war er wohl gern mal bei den Großeltern mütterlicherseits in
Kampanien. Er war sehr fromm, hatte dunkle Locken und ein nettes Lächeln.
Und im Herbst 2006 ist er mit 15 Jahren an einer besonders aggressiven
Leukämie gestorben.
Danach soll er in Brasilien ein Kind geheilt haben, und später in Florenz
eine Frau, die auf den Kopf gefallen war, denn ohne Wunder vollbracht zu
haben, wird niemand zum Heiligen. Und wer so jung stirbt, muss das halt
postmortal erledigen.
Jung, das ist hier wichtig: Die Kirche hat ein Interesse daran, für
Jugendliche attraktiv zu werden. Das fällt ihr schwer, weil ihr Personal im
Umgang mit jungen Menschen mehrfach auffällig wurde. So war im Vatikan
selbst der ehemalige Kurienkardinal Angelo Comastri ein Motor der
Heiligsprechung von Acutis.
Comastri war von 2005 an fürs Knabeninternat im Vatikan verantwortlich: Die
Missbrauchsvorfälle dort hatte er [5][tatkräftig vertuscht]. Im Januar 2024
[6][ging der Prozess mit einem Schuldspruch zu Ende]. Während des
Verfahrens war Comastri in den Ruhestand versetzt worden.
## Ein ganz normaler Verwesungsprozess
Das war 2021. Aber zwei Jahre zuvor war, wohl auch auf sein Betreiben,
Acutis’ in Assisi begrabener Leichnam zur Seligsprechung [7][exhumiert
worden]. Völlig [8][unversehrt, so behauptete] die Mutter damals. Aber das
war dann selbst dem örtlichen Bischof Domenico Sorrentino zu dicke: Der
Leichnam „fu trovato nel normale stato di trasformazione proprio della
condizione cadaverica“, [9][stellte der Kirchenfürst klar], er wurde also
im ganz normalen Verwesungszustand aufgefunden.
Der tote Junge wurde dann unter verschärftem Einsatz von Formaldehyd und
Silikon stabilisiert und hübsch gemacht. Die Reste seines Herzens hat man
in ein Extragoldgefäß umgefüllt. Die Mamma wollte das so. Und es ist auch
verehrungspraktisch sinnvoll.
Ekliger noch ist, dass mit der Kanonisierung des Knaben ein
judenfeindliches Narrativ geheiligt wird. Das hatten [10][nacheinander] die
taz, [11][wiederholt] auch [12][der] österreichische
[13][Religionsjournalist] Otto Friedrich und zuletzt der
Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, [14][problematisiert].
Denn zu den Werken, für die Acutis kanonisiert werden soll, zählen zwei
angeblich von ihm erstellte Homepages mit tatsächlich von ihm
zusammengetragenen Legendensammlungen: Eine listet Marienerscheinungen,
eine andere sogenannte eucharistische Wunder auf. Das sind Geschichtchen,
in denen mit einer vom Priester geweihten Hostie etwas passiert, oft
nachdem sie geklaut oder geschändet wurde.
Erfunden worden sind die Legenden manchmal, um lukrative Wallfahrtsorte
einzurichten. [15][Sehr oft] aber dienten sie auch dazu, den Volkszorn
zwecks Beseitigung Unliebsamer in Wallung zu bringen.
## Hinrichtungen und Zwangstaufungen
Sehr häufig waren diese Geschichten schlicht [16][Vorwand für die
blutigsten] Pogrome gegen Juden. Den Anfang macht [17][hier im Jahre 1290
Paris]: Weil er eine Hostie mit Nägeln, Feuer und kochendem Wasser zu
zerstören versucht haben soll, wird der Geldverleiher Jonathas
hingerichtet, seine Familie zwangsgetauft.
Dieses „Miracle des Billetes“ fehlt in der Sammlung ebenso wenig, wie das
Massaker von Brüssel im Jahr 1370. Das hat Acutis unter der Bezeichnung
„Miracle du Saint Sacrement“ abgespeichert. Dem Historiker Christoph Cluse
zufolge [18][von der Geistlichkeit arrangiert], beendete es die Anwesenheit
von Juden in Brabant.
Sie hätten, so der irre Vorwurf, an Karfreitag in ihrer Synagoge, die
selbstredend zerstört wird, zu diesem Zweck bereits im Oktober gestohlene
Hostien mit Messern traktiert. Darum werden am 22. Mai 1370 die wenigen
noch in Brüssel und Leuven verbliebenen jüdischen Familien verbrannt.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil warnt die Diözesanbehörde des
Erzbistums Mechelen-Brüssel davor, die tendenziöse Story
weiterzuverbreiten. Kardinal Leo Jozef Suenens hatte sich zwar geweigert,
die Fenster mit der Darstellung der Szene aus der Brüsseler Kathedrale
entfernen zu lassen.
Aber Mitte der 1970er Jahre wurde unter ihnen immerhin eine Bronzetafel
angebracht. Deren Text [19][drückt die Hoffnung aus, die katholische Kirche
werde derart antijüdische Legenden künftig kritisch betrachten]. Aber nein:
Rund 50 Jahre später erhebt sie einen Jungen zum Glaubensvorbild, der diese
bösartigen Verleumdungsstorys im Internet ausgegraben, unter verschärftem
Einsatz [20][von zusammengeklaubten Bildchen aufgehübscht] und zur besseren
Verehrung online gestellt haben soll.
## Fromme Zurechtweisungen
Haben soll ist wichtig. Denn über Carlo Acutis wird zwar viel geschrieben.
Vor allem die Mamma, der die Heiligsprechung ihres zu früh gestorbenen
Kindes ein Herzensanliegen ist, produziert am laufenden Band Hagiografien,
was bei dem spärlichen Lebenslauf ja echt an ein Wunder grenzt. In denen
ist zu erfahren, dass sich der Knabe die Augen zuhielt, wenn im Fernsehen
zweideutige oder sexuelle Werbespots gesendet wurden, sí, sí, [21][so
war’s].
Und Freundinnen – also sie sei ja nie eine aufdringliche Mutter gewesen,
ganz im Gegenteil, aber manchmal kann man einfach nicht weghören, wenn der
Filius telefoniert! – also Freundinnen, die ihm fernmündlich berichtet
hätten, wie sie in der Disko jemanden kennengelernt und mit diesem noch in
der gleichen Nacht rapporti intimi gehabt hätten, diese Freundinnen habe er
voll väterlicher Güte zurechtgewiesen.
In Interviews legt sie ihrem Erstgeborenen Bonmots in den Mund, wie das,
nach dem alle Menschen als Originale geboren würden, aber die meisten als
Kopien sterben, das Edward Young schon [22][1759 geprägt hat]. Sie verkauft
es als Wort ihres unsterblichen Sohnes, und die Webgemeinde betet’s nach.
Als Quelle scheidet sie daher aus.
Bekannt ist folglich außer den Lebensdaten fast nichts über ihn. Man ahnt,
dass er außer mit der Heiligen Maria Mutter Gottes mit keiner Frau je
intimen Verkehr hatte. [23][Man kann überprüfen], dass [24][seiner
Familie], abgesehen von etwas Streubesitz, [25][der milliardenschwere
Vittoria]-Versicherungskonzern [26][gehört].
## Reliquien im Netz
Darüber hinaus wird der tote Bub zwar seit etwa zehn Jahren als „Influencer
Gottes“ oder „Cyberapostel“ vermarktet. Aber eine Grundlage dafür fehlt:
Sollte das Kind im Internet Spuren hinterlassen haben, so sind sie
pietätlos verwischt oder gar getilgt worden. Nicht mal Screenshots seines
WWW-Wirkens wurden aufgenommen.
Dabei wären das doch, theologisch betrachtet, [27][Reliquien gewesen,] die
es zu bewahren gegolten hätte. Keine der Websites jedenfalls, die unter
seinem Namen firmieren, ist zu Carlo Acutis’ Lebzeiten online gegangen. Die
Domain, auf der seine PDF-Dateien mit eucharistischen Wundern abrufbar
sind, hat zuallererst Nicola Gori entdeckt. Der ist als Postulator, also
Fürsprecher im Heiligsprechungsverfahren tätig und beschäftigt sich seit
2007 mit dem Thema.
„Miroacolieucaristici.org“ ist am [28][29. November 2007 registriert]
worden, rund ein halbes Jahr nach der Domain der ältesten auf Acutis
bezogenen Homepage. Ihre Inhalte lassen sich nur mithilfe der
Waybackmachine von [29][archive.org aufspüren.]
Heute leergefegt, hatte sie im Jahr 2008 einen rudimentären Charakter, ganz
als wäre [30][hierhin der Entwurf der] persönlichen Homepage eines jungen
Menschen migriert worden, der sie nicht hatte fertigstellen können. Auf ihr
finden sich aber weder Links zu den wundersamen Websites, noch werden sie
im posthumen Einführungstext erwähnt.
## Tiere, Freunde, Autobahnen
Was sich dort an authentisch wirkendem Material findet, ist eine Art
banal-frömmelnde Maximensammlung mit neun Unterpunkten à la: Lies täglich
etwas Bibel! und: Denk stets daran, den Rosenkranz zu beten!, ach, so eine
triste Jugend.
Sonst gibt es die Rubriken „Tiere“ (mit Katzen, Hunden und Goldfischen),
„Freunde“ – damit sind ausschließlich Heilige der katholischen Kirche
gemeint – „autostrade“ (Autobahnen), „astronave“ (Raumschiffe) sowie
„mamma“, aber der Link führt, wie die meisten, bloß auf einen „Sito in
costruzione“ (Website im Aufbau).
Irgendjemand muss daraus den Auftrag abgeleitet haben, die Legendensammlung
online zu stellen, die der Junge erstellt und in PDF-Dateien abgespeichert
hatte. Gedient hatten diese als Vorlagen für eine Ausstellung. Die wurde um
2004 in der Basilika Santi Ambrogio e Carlo in Rom gezeigt, ganz analog und
in auch für damalige Zeiten eher schlichtem Layout.
Indem sie nun als vermeintliches Internetwunder zum Argument für die
Heiligsprechung des Jungen hochgejazzt wurde, geht von der Sammlung nicht
nur eine Botschaft an die Jugend der Welt aus. Die Kanonisierung von Carlo
Acutis wird durch sie, der Wiedereinführung der judenfeindlichen
[31][Karfeitagsfürbitte] durch Papst Ratzinger nicht unähnlich, auch zum
Wink an rechte bis ultrarechte katholische Gruppen von Opus Dei bis zu den
Ku-Klux-Klan-nahen Kolumbus-Rittern, dass sie [32][mit ihren Ressentiments
weiterhin willkommen sind]. Sie müssen sie nur hübsch zurechtmachen.
1 Sep 2025
## LINKS
[1] /Beisetzung-von-Papst-Franziskus/!6084892
[2] https://www.spiegel.de/geschichte/papst-johannes-paul-ii-und-seine-selig-un…
[3] https://press.vatican.va/latest/documents/escriva_cronologia-causa_ge.html
[4] https://www.domradio.de/artikel/wurde-johannes-paul-ii-zu-schnell-ein-heili…
[5] https://retelabuso.org/2021/07/12/un-adolescente-era-stato-accusato-di-abus…
[6] https://www.ansa.it/sito/notizie/politica/2024/01/23/abusi-a-chierichetti-d…
[7] https://www.perugiatoday.it/attualita/acutis-carlo-beato-assisi-1-ottobre-2…
[8] https://www.sanfrancescopatronoditalia.it/notizie/religione/antonia-salzano…
[9] https://www.diocesiassisi.it/beatificazione-carlo-acutis-presiedera-il-card…
[10] /Kirche-mit-Reliquie-unterwegs/!6023639
[11] https://www.furche.at/zeit-weise/die-liste-von-carlo-acutis-katholisch-ver…
[12] https://www.derstandard.at/story/3000000266380/die-kirche-und-ihr-internet…
[13] https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2025/4-2025/bluthostien-und-antijuda…
[14] https://www.katholisch.de/artikel/62348-antisemitismusbeauftragter-kritisi…
[15] https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wallfahrten,_eucharist…
[16] https://hdbg.eu/glossare/eintrag/rintfleisch-verfolgung-1298-pogrom/1882
[17] https://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/p/2001/patschovsky/www.uni-konstanz.de/fu…
[18] https://ubt.opus.hbz-nrw.de/opus45-ubtr/frontdoor/deliver/index/docId/817/…
[19] https://web.archive.org/web/20140228024640/http://www.cathedralestmichel.b…
[20] https://www.miracolieucaristici.org/de/liste/scheda.html?nat=belgio&wh…
[21] https://www.edizpiemme.it/libri/il-segreto-di-mio-figlio/
[22] https://kalliope.org/en/text/young2000031901
[23] https://www.northdata.de/Yafa%20S%C2%B7p%C2%B7A%C2%B7,%20Torino,%20IT/_c57…
[24] https://www.firstonline.info/vittoria-assicurazioni-opas-di-acutis-il-tito…
[25] https://www.vittoriaassicurazioni.com/
[26] https://www.fondazionecarloacutis.org/en/the-promoters/
[27] https://relics.es/de/blogs/relics/die-klassifizierung-der-reliquien
[28] https://who.is/whois/miracolieucaristici.org
[29] https://who.is/whois/carloacutis.com
[30] https://web.archive.org/web/20080313223545/http://www.carloacutis.org/page…
[31] /Ratzinger-will-Juden-bekehren/!5184919
[32] /Koordinator-ueber-Stoppt-kreuznet/!5078351
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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