# taz.de -- Studie zum Berliner Schulsystem: Arme Kinder, schlechte Schulen | |
> Kinder aus armen Familien sind bei der Schulwahl benachteiligt, sagt eine | |
> Studie. Der Boom der Privatschulen fördere die soziale Spaltung. | |
Bild: Miteinander: Leider noch nicht selbstverständlich an Berliner Schulen | |
Eigentlich rückt die Bildungsverwaltung diese Zahlen aus Angst vor | |
„Negativ-Rankings“ nicht heraus: wie hoch an den einzelnen Schulen der | |
Anteil von Kindern aus armen Familien ist. Arm meint in diesem Fall, dass | |
die Eltern das Geld für die Schulbücher vom Jobcenter bekommen. | |
„Lernmittelbefreit“ heißt das im Verwaltungssprech. Dem | |
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat man diese Daten nun | |
doch erstmals zur Verfügung gestellt. Und das Ergebnis der Studie, die am | |
Freitag vorgestellt wurde, ist ernüchternd: Sieben Jahre, nachdem Berlin | |
die Hauptschule abgeschafft hat, sortiert das Schulsystem unvermindert in | |
arm und reich. | |
Während an Sekundarschulen ohne eigene Oberstufe – den ehemaligen Haupt- | |
und Realschulen – 54 Prozent der Kinder lernmittelbefreit sind, beträgt | |
dieser Anteil an Schulen mit eigener Oberstufe – den ehemaligen | |
Gesamtschulen – lediglich 35 Prozent. Mehr noch: An den ehemaligen | |
Realschulen hat sich der Anteil der lernmittelbefreiten Kinder sogar noch | |
erhöht. Eltern aus „nicht-armen Familien“ (O-Ton Studie) versuchen also, | |
Schulen ohne Abi-Option möglichst zu meiden. | |
Die Bildungsverwaltung betont zwar stets, dass seit 2010 jede Schule in | |
Berlin zum Abitur führe, weil es schließlich immer auch die Möglichkeit | |
gibt, irgendwo an einem Oberstufenzentrum Abitur zu machen. Aber die | |
Hoffnung, die Sekundarschule als alternativen Weg zum Abitur auch unter | |
bildungsorientierten Eltern zu etablieren und so die soziale Mischung an | |
den ehemaligen Hauptschulen zu verbessern, hat sich nicht erfüllt. | |
Ist das überraschend? Nein. Weil die Schulstrukturreform 2010 nämlich eines | |
nicht war: eine echte Strukturreform. Wo vorher die Trennlinie zwischen | |
Hauptschule und dem Rest verlief, verläuft sie jetzt eben zwischen | |
Sekundarschulen ohne und solchen mit eigener Abi-Option. Die | |
Refik-Veseli-Sekundarschule in Kreuzberg etwa bekam 2014 eine eigene | |
Oberstufe genehmigt – der Anteil der SchülerInnen mit Gymnasialempfehlung | |
stieg von null auf rund 20 Prozent, sagte Schulleiterin Ulrike Becker im | |
vergangenen Jahr. Solange Eltern, denen an der Bildung ihrer Kinder etwas | |
liegt, wählen können, tun sie das auch. | |
Das fängt bereits in der Grundschule an. Dass sich die soziale Spaltung der | |
Stadt dort wiederfindet, ist bekannt. Der Anteil der lernmittelbefreiten | |
Kinder in Mitte, zu dem auch Wedding gehört, ist dreimal höher als im | |
benachbarten Pankow. Für die weiterführenden Schulen gilt zwar das | |
Wohnortprinzip dann nicht mehr. Zudem gibt es die Regelung, dass an | |
besonders nachgefragten Schulen ein Drittel der Plätze per Los vergeben | |
werden. Aber diese Schicksalslotterie kann man umgehen. | |
## „Tendenz einer Sonderung“ | |
Zum Beispiel, indem man sein Kind auf einer Privatschule anmeldet, für die | |
das Losverfahren nicht gilt. Seit 2003 ist die Zahl der PrivatschülerInnen | |
von 18.000 auf derzeit rund 35.000 gestiegen, eine Steigerung von fast 100 | |
Prozent. Der Anteil von Kindern aus armen Familien an Privatschulen: nicht | |
mal vier Prozent. Diese „Tendenz einer Sonderung der SchülerInnen nach den | |
Bildungsverhältnissen der Eltern“ müsse „Teil einer öffentlichen | |
Diskussion“ werden, fordern die AutorInnen der Studie. | |
Nun kann man Eltern kaum verübeln, dass sie wählerisch sind bei der | |
Schulwahl. Und dass die Kinder an Schulen ohne eigene Oberstufe nicht nur | |
aus ärmeren Elternhäusern kommen, sondern im Vergleich auch schwächere | |
Schulleistungen erbringen, hatte kürzlich die Berlin-Studie im Auftrag der | |
Bildungsverwaltung gezeigt. | |
Die Bildungsverwaltung könnte aber versuchen, Eltern etwas weniger die Wahl | |
zu lassen. Indem man zum Beispiel grundsätzlich Oberstufen an allen | |
Schulstandorten einrichtet – tatsächlich steuert man seit 2014 auch bereits | |
um. Und indem man die Bezirke in den Blick nimmt: Ausgerechnet dort, wo | |
viele Kinder aus armen Familien leben, gibt es auch weniger Schulen mit | |
eigener Oberstufe. | |
Ghettoisierung ist ein blödes Wort, aber für einige Schulen trifft es zu. | |
23 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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