# taz.de -- Streit um Dokumentarfilm „Sabaya“: Die doppelte Angst | |
> „Sabaya“ zeigt die Rettung von IS-Zwangsprostituierten. Nun behaupten | |
> einige Jesidinnen, ungefragt in den Dokumentarfilm geraten zu sein. | |
Bild: Bild aus dem Dokumentarfilm „Sabaya“: Jesidin im Lager Al-Hol | |
Das „Al-Hol-Camp“ ist ein von kurdischen Truppen in Syrien betriebenes | |
Internierungslager, in dem 73.000 ehemalige ISIS-Kämpfer und ihre | |
Angehörigen einsitzen. Doch auch einige ihrer jesidischen Sklavinnen leben | |
unerkannt dort. Aktivist*innen des Yezsidi Home Center versuchen | |
deshalb mit Hilfe sogenannter Infiltratorinnen, die vermissten Mädchen und | |
Frauen in klandestinen Einsätzen aufzuspüren und über ein Safe House zurück | |
zu ihren Familien zu bringen. | |
„206 wurden gerettet, mehr als 2.000 werden immer noch vermisst“, heißt es | |
zum Ende eines Dokumentarfilms, der diese gefährliche Unternehmung mit der | |
Kamera begleitet. „Sabaya“ (so das kurdische Wort für diese Sklavinnen) hat | |
auf dutzenden Festivals weltweit Preise gewonnen, unter anderem den World | |
Documentary Direction Award des renommierten Sundance Film Festivals in den | |
USA. | |
Als „Sabaya“ Mitte September auch das [1][Human Rights Film Festival in | |
Berlin] eröffnete, war Regisseur Hogir Hirori persönlich anwesend und | |
berichtete von den Gefahren der Dreharbeiten und dem Vertrauen der Menschen | |
im Film, das er durch seine über ein Jahr dauernde Anwesenheit vor Ort | |
gewinnen konnte. | |
Doch direkt nach Ende des Festivals am 26. September meldete die New York | |
Times in einem selbst recherchierten Bericht, dass mehrere der jesidischen | |
Protagonistinnen nun behaupten, ungefragt oder sogar gegen ihren | |
ausdrücklichen Willen in den Film geraten zu sein und nun Angst um ihr | |
Leben und Wohlergehen zu haben. Begründete Angst nicht nur vor dem IS, | |
sondern auch vor ihrer jesidischen Heimatgemeinde, die die von IS-Kämpfern | |
gezeugten Babys der Frauen wegen dieser Herkunft nicht aufnehmen wollen. | |
## Meinung geändert | |
Regisseur Hogir Hirori, ein in Schweden lebender kurdischer Flüchtling aus | |
der Region, widersprach den Vorwürfen umgehend und behauptet, | |
Drehgenehmigungen in (gefilmt) verbaler und schriftlicher Form erhalten zu | |
haben. Einige hätten da wohl ihre Meinung geändert, zitiert ihn die New | |
York Times. Doch kann eine traumatisierte Person, die sich in der Obhut | |
jesidischer Aktivisten befindet, überhaupt souverän über ihre Zustimmung zu | |
einem von diesen unterstützten Filmprojekt entscheiden? | |
Branchenblätter wie Variety oder Business Doc Europe brachten am 1. Oktober | |
ausführliche Stellungnahmen von Hirori, Produzent Antonio Russo Merenda und | |
des fördernden Schwedischen Filminstituts, die die formale und inhaltliche | |
Unterstützung des Projekts durch die gefilmten Frauen beteuern. Auch die in | |
Berlin lebende kurdische Filmemacherin Guevara Namer, die an „Sabaya“ | |
mitgearbeitet hat, nimmt Hirori in Schutz und sagt, sie hätte nie die | |
Beteiligung an einem Projekt akzeptiert, wo Frauen erneut unterdrückt | |
würden. | |
Am Interessantesten aber ist vielleicht die Aussage einer | |
Hauptprotagonistin, dass sie und andere Frauen vor und während des Drehs | |
von der Vertreterin einer nicht näher benannten Organisation unter Druck | |
gesetzt worden seien, ihr Einverständnis und die Beteiligung am Film | |
zurückzuziehen. Das persönlich abgegebene Statement blieb wie alle anderen | |
von jesidischer Seite aus Sicherheitsgründen anonym. | |
Es wäre von großem Interesse, Näheres über diese Organisation zu erfahren | |
und es erscheint durchaus plausibel, dass verschiedene Seiten Interesse an | |
einer Sabotage des Films haben könnten. Die ist auch erstmal gelungen: Das | |
Mitte Oktober stattfindende [2][Kurdische Filmfestival Berlin] etwa hat | |
„Sabaya“ schon (leider ganz ohne Kommentar) aus dem Programm gestrichen. | |
Das ist schade, denn die Öffentlichkeit des Festivals wäre ein gutes Forum | |
gewesen, um sowohl die Sache der Jesidinnen wie auch die des Films zu | |
debattieren. Und die Bilder sind nun einmal in der Welt. | |
## Regeln des Genres | |
Bis zu einer Klärung werden wir uns gedulden müssen. Doch unabhängig von | |
deren Ausgang zeigt der Konflikt um „Sabaya“ auch ein grundsätzliches | |
Problem des menschenrechtlich orientierten Dokumentarfilms. Denn der | |
funktioniert von den Regeln seines Genres her auf dem schmalen Grat | |
zwischen dem Einsatz für seine Held*innen und ihrer Ausstellung. | |
Filme, die selbstreflexiv und formbewusst mit diesem Konflikt umgehen – wie | |
etwa „Anmaßung“ von Stefan Kolbe und Chris Wright – werden durch ihre | |
Komplexität nie die vom engagierten Film erhoffte Rezeptionsbreite und | |
politische Wirksamkeit erreichen, weil sie sich der emotionalisierenden | |
Identifikation entziehen. Ein praktischer Ausweg aus diesem Dilemma ist die | |
Verfremdung durch Animation wie in Ari Folmans [3][„Waltz with Bashir“]. | |
Etwas Ähnliches hat das Team um Regisseur David France für den [4][Film | |
„Welcome to Chechnya“] über die Rettung tschetschenischer LGBT-Personen | |
entwickelt, die sie mit einer Morphing-Software durch Face Doubles tarnen. | |
Als technische Schutzmaßnahme ist das genial, im Sinne filmischer | |
Glaubwürdigkeit aber bedenklich. | |
4 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.humanrightsfilmfestivalberlin.de/de/filme/filmprogramm/eroeffnu… | |
[2] https://kurdisches-filmfestival.de/ | |
[3] /Ari-Folman-ueber-Waltz-with-Bashir/!5173208 | |
[4] /Berlinale-Film-Welcome-to-Chechnya/!5665766 | |
## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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