# taz.de -- Spielfilm „Nowhere Special“: Wenn ein Saurier stirbt | |
> „Nowhere Special“ erzählt von einer liebevollen Vater-Sohn-Familie und | |
> Adoption. Der Film nimmt sich Zeit für Blicke und kleine Gesten. | |
Bild: Abschied nehmen müssen: Sohn Michael (Daniel Lamont) mit Vater John (Jam… | |
Es gibt den besonderen Blick, mit dem Eltern in stillen Momenten ihre | |
Kinder betrachten. Solche Blicke voller Zuneigung und Zugehörigkeitsgefühl | |
sprechen auch von der Verwunderung, wie nah und zugleich anders, eigen und | |
letztlich nicht durchschaubar so eine kleine Persönlichkeit ist. Sie | |
gehören zur leisen Dramatik zwischen Vater und Sohn in der Geschichte vom | |
Abschiednehmen, die Uberto Pasolinis Film „Nowhere Special“ erzählt. | |
Der Produzent, Drehbuchautor und Regisseur, ein geborener Italiener, der | |
seit Jahrzehnten in Großbritannien lebt, spinnt darin seine Liebe zu | |
skurrilen britischen Charaktertypen weiter, wie zuvor zum Beispiel der | |
Truppe Arbeitsloser, die sich in „Ganz oder gar nicht“ als männliche | |
Stripper versuchte, oder dem einsamen Beamten in der schwarzen Komödie | |
[1][„Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“], der sich um würdige | |
Bestattungen für die Ärmsten kümmert, am eigenen Grab aber erst in einem | |
fantastischen Kinofinale von den Geistern seiner umsorgten Kunden besucht | |
wird. | |
## Nucleus einer Vater-Sohn-Familie | |
Wie in der lakonischen Ode auf den menschenfreundlichen Sturkopf Mr. May | |
nimmt es Pasolini auch in „Nowhere Special“ mit den letzten Fragen auf. | |
Nicht das melodramatische Elend um Krankheit und Sterbenmüssen ist sein | |
zentrales Thema, sondern die innig emotionale Nabelschnur zwischen den | |
Generationen, die es alles andere als leicht macht, ein Kind mit dem Tod, | |
vor allem dem Verlassenwerden zu konfrontieren. | |
„Nowhere Special“ nimmt einen mit in den Nucleus einer Vater-Sohn-Familie, | |
in der einen kurzen Herbst lang kleine Funken liebevoller Zweisamkeit | |
genossen werden, aber für den einsamen Vater der Druck steigt, neue Eltern | |
für sein Söhnchen zu finden. | |
Pasolini (der mit [2][Pier Paolo Pasolini] nur den Nachnamen teilt) ließ | |
sich von einer Zeitungsnotiz inspirieren, nach der ein alleinerziehender | |
Vater, der nur noch wenige Monate zu leben hatte, verzweifelt auf die Suche | |
nach Adoptions- oder Pflegeeltern für sein Kind ging und sich dabei im | |
bürokratischen Gestrüpp des Adoptionsrechts verfing. | |
## Stärke mit zarten Gesten | |
In „Nowhere Special“ hat das Drehbuch seinem Protagonisten zwei sehr | |
zugewandte tatkräftige Jugendamtsmitarbeiterinnen zur Seite gestellt, die | |
Familien finden und ihn begleiten bei den heiklen Erstbegegnungen, lauter | |
schräge Einblicke in das Selbstbild britischer Familienkonstrukte. | |
Die Betonung liegt auf dem inneren existenziellen Dilemma des Vaters, den | |
Zweck der absurden Besuche bei „neuen Freunden“ zu erklären und nicht | |
zuletzt mit der dringlichen Entscheidung, auch seinen letzten Abschied zu | |
akzeptieren. In dem [3][britischen Serienstar James Norton] hat Pasolini | |
einen Schauspieler gefunden, der seine äußerliche Stärke mit zarten Gesten | |
im Umgang mit dem Kind zu verbinden weiß. | |
Nortons verschlossener Single-Vater nimmt einen mit in den inneren Prozess, | |
sich zögernd vor den wenigen Menschen zu öffnen, die ihm zuhören. Selbst | |
das Kind eines verlassenen Vaters, der ihn ins Kinderheim abgeben musste, | |
ist John ohne Familie aufgewachsen und in der letzten Lebensphase ganz auf | |
die intensive Beziehung zu dem vierjährigen Michael (Daniel Lamont) | |
konzentriert. Das Heimweh von Daniels russischer Mutter war so groß, dass | |
sie das Baby zurückließ und zu ihren Eltern zurückkehrte. | |
## Den Tod erklären | |
„Nowhere Special“ hat Zeit für die liebevollen Blicke des Vaters und die | |
kleinen Gesten, die ihn spüren lassen, dass Michael seinen Zustand ahnt. | |
Man folgt ihren Alltagsroutinen, dem Popcornfrühstück, dem Weg zur Kita | |
inklusive Druck auf den Ampelknopf, dem abendlichen Bad, wo auch der | |
Plastik-Lkw eingeschäumt wird, dem Vorlesen vor dem Einschlafen, bei dem | |
das Kinderbuch „When Dinos Die“ helfen soll, den Tod zu erklären. | |
Wenn John seiner Arbeit als Fensterputzer in den Vororten von Belfast | |
nachgeht, sieht man ihn an den unterschiedlichsten Haustypen auf seine | |
Leiter klettern, solange, bis er sich seiner Balance nicht mehr sicher ist | |
und das Putzzeug samt Auto verkauft. | |
Der kurze Herbst des Films hat Momente einer treffenden britischen | |
Sozialkomödie, die Klassenunterschiede aufs Korn nimmt. Einmal reagiert | |
John beispielsweise mit gezielten Eierwürfen auf die Arroganz eines reichen | |
Kunden. Von der Leiter aus schaut er in Kinderzimmer aller Art und scheint | |
sich auszumalen, wohin sein Kind kommen wird. | |
## Die süße Pausbacke Michael | |
Wie schräg funkelnde Perlen scheinen die Episoden auf, in denen Vater und | |
Sohn bei Pflegeeltern zu Gast sind, die sich selbst und ihren | |
Großfamilienbetrieb im besten Licht erscheinen lassen. Unfreiwillig grotesk | |
präsentieren sich die adoptionswilligen, ihre Macken kultivierenden Paare | |
der Upperclass, denen zur Krönung ihres Erfolgs noch ein Kind fehlt. Und da | |
ist die Single-Frau, die als Teenager ihr Baby weggab. | |
Die süße Pausbacke Michael, ohne Zweifel ein Trumpf in Uberto Pasolinis | |
Film, erklärt einmal, nicht adoptiert werden zu wollen. John füllt eine | |
Memory-Box mit Briefen und Erinnerungsgaben und trifft eine Entscheidung. | |
Mit einem Blick zurück auf den Papa nimmt der Junge die fremde Hand an. | |
6 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mister-may.de/ | |
[2] /Auf-den-Spuren-Pier-Paolo-Pasolinis/!5780284 | |
[3] /Neue-Serie-zu-britischem-Polit-Skandal/!5800311 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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