# taz.de -- Staatssekretär Graichen entlassen: Habeck ist angezählt | |
> Der Jubel über Graichens Rauswurf ist scheinheilig. Trotzdem hat der | |
> Wirtschaftsminister handwerkliche Fehler gemacht – und das nicht zum | |
> ersten Mal. | |
Bild: Wirtschaftsminister Habeck macht jetzt ohne Staatssekretär Graichen weit… | |
Nein, niemand hat sich in der Affäre um den grünen Staatssekretär Patrick | |
Graichen, die Habeck nun spät beendet hat, bereichert. Es geht, anders als | |
bei Maskendeals, nicht um Korruption und Gier. Dass ausgerechnet die CSU | |
gegen „grüne Clanstrukturen“ wettert, ist bei einer Staatspartei, bei der | |
Filz zum Geschäftsmodell gehört, fast kurios. | |
Richtig ist: Die Szene der Energiewende-ExpertInnen ist in Deutschland | |
ziemlich überschaubar. Vor ein paar Jahren, vor trockenen Sommern, Fridays | |
for Future und Ahrtal-Katastrophe, galt Klimapolitik als ein weiches Thema. | |
Ja, wichtig, aber doch eine Art grünes special interest. Konzepte für die | |
Energiewende entwarfen Ökoinstitute und der Thinktank Agora Energiewende, | |
die – welches Wunder – fast alle mehr oder weniger grünennah sind. | |
Diese Affinität der Energiewende-Experten zu den Grünen ist die andere | |
Seite einer zähen Ignoranz der anderen Parteien. Wo ist denn der kreative | |
SPD-nahe Thinktank, wo sind die kraftvollen, fordernd auftretenden | |
Kapazitäten in Sachen Energiewende aus dem Umkreis der Union, die Habeck in | |
sein Ministerium hätte lotsen und mit Aufträgen bedenken können? | |
CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat es sogar mal geschafft, den | |
Posten des Energiestaatssekretärs monatelang unbesetzt zu lassen. | |
Insofern hat der Jubel über Graichens Rauswurf etwas Bigottes. Es geht | |
nicht um Selbstbedienung oder eine Vetternwirtschaft, in der man sich | |
gezielt Geld und Posten zugeschanzt hat. Es geht um eine Experten-Szene, | |
die über die Jahre gewachsen ist, übersichtlich und dicht miteinander | |
verwoben. | |
Allerdings erspart all das den Grünen und vor allem Habeck keineswegs ein | |
paar sehr unangenehme Fragen. Denn dass dieses personelle Gewebe ziemlich | |
engmaschig, dass die Gefahr zu großer Nähe real ist – das hätte man im | |
grünen Ministerium früher und schärfer erkennen müssen. Doch offenbar hat | |
man das Verhetzungspotenzial dieser Situation nicht recht begriffen. Es | |
geht weniger um einen moralischen Defekt als um Unbedachtheit. Naivität | |
aber kann man sich, wenn man regiert, nicht leisten. | |
Dies ist nicht der erste handwerkliche Fehler des grünen | |
Wirtschaftsministeriums. Sondern der dritte. Die Gasumlage war angesichts | |
explodierender Energiepreise das falsche Mittel. Die Wärmewende war | |
miserabel vorbereitet. Weil man keine brauchbare soziale Absicherung | |
mitpräsentierte, schuf man ein Vakuum, in das Boulevardmedien und die | |
politische Konkurrenz Angst pumpen konnten. | |
Die Grünen verfügen, anders als SPD, FDP oder Union, über so etwas wie eine | |
große Erzählung, ein Reservoir an Sinn. Sie vertreten ein hehres Ziel – die | |
ökologische Moral. Das erlaubt es ihnen, ohne nachhaltige | |
Glaubwürdigkeitskrise im Notfall sogar Gas in Katar zu kaufen. | |
Aber die Affäre Graichen, die schludrig gemachte Gasumlage und die | |
Wärmewende sind kein Notfall, sie sind der Normalfall. Schlecht beraten | |
sind die Grünen, wenn sie harte Kritik an Missständen wie Graichens | |
Tölpelhaftigkeit als Angriff auf die Energiewende an sich abwehren. Diese | |
moralische Selbstimprägnierung wirkt wie ein Abwehrreflex. | |
Graichen geht, aber die Affäre wirkt fort. Auch Habeck ist angezählt. Wenn | |
er die Mühen der Ebene überstehen will, braucht er weniger moralischen | |
Anspruch, mehr Sinn für soziale Abfederung und vor allem solideres | |
politisches Handwerkszeug. Nicht irgendwann. Jetzt. | |
17 May 2023 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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