# taz.de -- Social Distancing und Corona: Das Virus als Alarmsignal | |
> Das „social distancing“ der Pandemie hat gesellschaftliche Abspaltungen | |
> sichtbar gemacht, die es schon vorher gab. | |
Seit Beginn der Coronapandemie versorgt die Sozialforschung die | |
Öffentlichkeit regelmäßig mit Befunden zu den gesellschaftlichen Folgen des | |
Ausnahmezustands. Vieles von dem, was man zuvor bereits wissen konnte, | |
wurde bestätigt. Arme und prekär Beschäftigte werden von der Pandemie | |
besonders hart getroffen. In kleinen Familienwohnungen wütet der | |
pandemische Alltagsstress, während die gut bezahlte Mittelschicht mit | |
Festanstellung und [1][Homeoffice] leidlich durch die Corona-Krise kommt. | |
Wohlhabende profitieren von einer Lebensführung, die ihnen das [2][„social | |
distancing“] bereits vor Covid-19 erleichtert hat. Irritierend hingegen | |
sind einige Befunde zum subjektiven Befinden. So zeigen die | |
Corona-Sonderbefragungen, die das [3][„Sozio-ökonomische Panel“] seit April | |
2020 in ausgewählten Haushalten vornahm, eine bemerkenswerte Verteilung von | |
emotionalen Zuständen. | |
Dass [4][Alleinerziehende] in der gegenwärtigen Krise psychisch am | |
stärksten belastet sind und Paare mit Kindern von abnehmendem Wohlbefinden | |
berichten, ist nicht überraschend. Das Aufmerken setzt jenseits der | |
familialen Lebensführung ein. Danach hat sich für Paarhaushalte ohne Kinder | |
durch die Kontaktbeschränkungen im eigenen Erleben wenig geändert. | |
Alleinlebenden wird seitens der Sozialforschung sogar ein leichter Anstieg | |
im Wohlbefinden attestiert. Sie leiden, diesen Daten zufolge, am wenigsten | |
unter Einsamkeit. | |
Alleinlebende fühlen sich weniger einsam? Für diesen scheinbar paradoxen | |
Befund gibt es einleuchtende Erklärungen. Alleinlebende haben | |
möglicherweise mehr Übung darin, mit Einsamkeitsgefühlen praktisch | |
zurechtzukommen. Auch entfällt der negative Vergleich zum vermeintlich | |
intensiveren Leben der lustigen Paare, der auf das Gemüt schlagen kann. Bei | |
denen ist jetzt vermutlich genauso wenig los. | |
## Alleinlebende leiden weniger unter Einsamkeit | |
Schließlich müsste der Befund altersmäßig differenziert werden. | |
Insbesondere von Älteren werden [5][vermehrt Depressionen] berichtet. | |
Jugendliche wiederum – so eine Studie an der Universität Hildesheim – | |
erleben sich als „ortlos“, weil ihnen [6][Schulschließungen, Kontaktverbote | |
und der Stillstand des öffentlichen Lebens] die eigenen Räume genommen | |
haben. Allein durch digitale Kommunikation sei ihr „Verlust der | |
Realitätstiefe“ nicht zu kompensieren. | |
Überhaupt scheinen digitale Endgeräte den physischen Kontakt nur dort | |
vergleichsweise reibungslos zu ersetzen, wo klare Zweck-Mittel-Relationen | |
vorgegeben sind. In der Berufswelt wird Online auch künftig eine häufige | |
Form der Kommunikation sein. Wenn es aber – wie in der Erziehung oder im | |
Freundeskreis – gerade um Beziehungen mit persönlichen Nebenfolgen geht, | |
summieren sich die Verluste. | |
Der [7][Konstanzer Netzwerkforscher Boris Holzer]: „Im Bereich der | |
geselligen Interaktion sind Substitute deshalb tendenziell schlechte | |
Kopien.“ Wer schon einmal versucht hat, seine affektive Bezugsgruppe in | |
einem Online-Meeting zu versammeln, wird ihm nur beipflichten können. Doch | |
sollten wir uns nicht allzu sicher wähnen, dass fehlende Nähe nur als | |
Verlust wahrgenommen wird. Die überraschenden Aussagen von Alleinlebenden | |
können uns auch als Wegweiser in emotionale Untergeschosse dienen. | |
Nicht allein die Digitalisierung sorgt für Kommunikation auf Distanz. Und | |
nicht nur die Filterblasen des Internets blubbern mit Vorliebe im eigenen | |
Saft. Vermeidungsverhalten kennen wir nicht erst, seit auf den | |
Bürgersteigen Slalom gelaufen wird. „Social distancing“ gab es schon vor | |
dem Virus – durch den Infektionsschutz wurde nur amtlich, was sich sozial | |
schon zuvor abgespielt hat. | |
## Die Seuche bedient den Separatismus | |
Wie immer wirken hierbei zahlreiche Faktoren zusammen: die verschlossenen | |
Welten von oben und unten, das moderne Ich-Gefühl und | |
[8][Identitätspolitiken]. Sozialstrukturell hat sich die Gesellschaft in | |
Segmente zerlegt, die durch Beruf, Einkommen und Bildung klar voneinander | |
geschieden sind. Von den urbanen Zentren bis in Kleinstädte hinein gibt die | |
Wohnadresse exakte Auskunft darüber, wo man in der sozialen Rangordnung | |
steht. | |
Das Infektionsgeschehen folgt diesen Mustern und weist als Risikogebiete | |
aus, wo die Schlechtergestellten zuhause sind. Ansteckungsgefahren dienten | |
stets als Sinnbild für den Ausschluss von Kontakten über die eigenen | |
sozialen Kreise hinaus. Die Abstandsregeln verdoppeln als Notfallprogramm, | |
was als soziale Distanzierung längst zur Alltagsroutine geworden ist. | |
Kulturell hat sich in diesen Prozess die „Singularisierung“ (Andreas | |
Reckwitz) eingeschrieben, die Wertschätzung der Besonderheit speziell im | |
Selbstverständnis oberer Bildungsschichten. Wo aber der Glaube an die | |
eigene Einmaligkeit grassiert, blüht der Ekel vor dem Gewöhnlichen, die | |
verächtliche Abgrenzung zur Nähe der anderen. Bisweilen geht die | |
Singularitätsideologie einher mit einem blutleeren Verhältnis zur | |
Körperlichkeit. | |
Dann wirkt das Virus in all seiner biologischen Massivität als Alarmsignal | |
nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für das kulturelle Ideal der | |
Unnahbarkeit. Das Bedürfnis nach der Körperwärme der anderen hält sich | |
schließlich auch deswegen in Grenzen, weil im Gemeinwesen zunehmend der | |
Separatismus von Identitätspolitiken regiert, der für unzählige | |
Betroffenengruppen fest umzäunte „Territorien des Selbst“ (Erving Goffman) | |
errichtet hat. Ausgangssperren verstehen sich hier beinahe von selbst. | |
Den Vorrang von Gruppenidentitäten gibt es im politischen Spektrum auf | |
allen Seiten: Auch Coronaleugner umarmen am liebsten ihresgleichen. | |
Hingegen macht die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Menschen in | |
einem gemeinsamen Raum ungeplante Kontakte fast unvermeidlich. Die | |
Aufteilung von Räumen und ihre nervöse Bewachung ist deshalb nur | |
konsequent, wenn man unter sich bleiben will. Der identitätspolitische | |
Separatismus findet daher möglicherweise kein passenderes Habitat als die | |
Seuche. | |
9 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Folgen-von-Corona-fuer-die-Arbeitswelt/!5760095 | |
[2] /Risikoforscher-ueber-das-Coronajahr/!5735973 | |
[3] https://www.diw.de/de/diw_01.c.412809.de/presse/glossar/sozio_oekonomisches… | |
[4] /Kinderbetreuung-in-der-Pandemie/!5750558 | |
[5] /Die-Psyche-in-der-Pandemie/!5747207 | |
[6] /Konsequenzen-aus-den-Schulschliessungen/!5743568 | |
[7] https://www.soziologie.uni-konstanz.de/holzer/team/prof-boris-holzer-phd/ | |
[8] /Identitaetspolitik-in-linken-Szenen/!5758392 | |
## AUTOREN | |
Sighard Neckel | |
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