| # taz.de -- Sinti-Vertreter über Gedenkort-Pläne: „Das ist geschmacklos“ | |
| > Die Firma Wintershall Dea will ins Gebäude eines Hamburger | |
| > NS-Dokumentationszentrums ziehen. Sinti-Vertreter Arnold Weiß findet das | |
| > unzumutbar. | |
| Bild: Ein NS-belastetes Unternehmen ist hier als Nachbar unerwünscht: Gedenkor… | |
| taz: Herr Weiß, wie haben Sie erfahren, dass die Firma [1][Wintershall Dea] | |
| in dasselbe Gebäude ziehen will wie das künftige NS-Dokumentationszentrum | |
| Hannoverscher Bahnhof in Hamburgs Hafencity? | |
| Arnold Weiß: Durch die Presse, und da war die Aufregung beim Landesverein | |
| der Sinti wie auch bei den anderen Opferverbänden – jüdische Gemeinden, Rom | |
| und Cinti Union – erst mal groß. Dass das ohne jedes Vorgespräch einfach | |
| entschieden wurde – da war man erst mal geschockt. | |
| Warum genau? | |
| Weil das schon sehr irritierend ist: Da soll ein Dokumentationszentrum | |
| entstehen, das sich mit der Historie nicht nur des Hannoverschen Bahnhofs | |
| befasst, von dem aus 8.000 Juden, Sinti und Roma in KZ deportiert wurden, | |
| sondern auch mit dem Holocaust insgesamt. Und dann stelle man sich vor: | |
| Jemand besucht das Dokumentationszentrum, das ja auch ein [2][„Lernort“] | |
| sein soll, und liest dort von der Verfolgung von Juden, Sinti und Roma | |
| sowie vom Profit vieler Wirtschaftsunternehmen auch durch die Ausbeutung | |
| von Zwangsarbeitern. Wie soll man diesem Besucher erklären, dass im selben | |
| Gebäude Büros der Firma Wintershall Dea sind, die in der NS-Zeit | |
| Zehntausende [3][Zwangsarbeiter] beschäftigte? Da kann ich nur sagen: Das | |
| ist geschmacklos. Das hat ein ähnliches Ausmaß, als wenn eine | |
| KZ-Gedenkstätte ein NS-belastetes Unternehmen als Untermieter hereinnähme. | |
| Wintershall hat seine NS-Vergangenheit – wenn auch erst 2019 und 2020 – mit | |
| einer Konferenz und einer Dokumentation aufgearbeitet. Die Aufarbeitung der | |
| gleichfalls belasteten Dea-Geschichte soll bald folgen. Genügt das nicht? | |
| Nein. Auch wenn man die Geschichte dokumentiert und aufarbeitet, macht es | |
| den Holocaust nicht ungeschehen. Das alles ist ja tatsächlich passiert – | |
| noch dazu ganz konkret in räumlicher Nähe zum Gebäude am einstigen | |
| Hannoverschen Bahnhof. Eine NS-belastete Firma im selben Gebäude wie das | |
| Dokumentationszentrum mit seinen konkreten Opfergeschichten – das ist schon | |
| sehr befremdlich. | |
| Der Vermieter sagt, dann könne er die Räumlichkeiten ja an kein Unternehmen | |
| vermieten, das älter als 100 Jahre sei. NS-belastet seien ja irgendwie | |
| alle. | |
| Dann kann man es eben nicht. Denn alles andere hieße: Nach 100 Jahren ist | |
| alles vorbei. Der Holocaust war einmal, und jetzt vergessen wir das Ganze. | |
| Aber man darf die Geschichte doch nicht umschreiben oder Teile einfach | |
| weglassen! | |
| Aufarbeitung ist etwas Intellektuelles, aber die Wunde bleibt? | |
| Selbstverständlich. Ich gehöre der dritten Nachkriegsgeneration an. Mein | |
| Großvater ist vom Hannoverschen Bahnhof aus deportiert worden, zusammen mit | |
| seinen Eltern – meiner Urgroßmutter und meinem Urgroßvater. Das ist eine | |
| schreckliche Familiengeschichte. Viele sind nicht wiedergekommen. Und | |
| natürlich sind die Wunden heute noch da. So weit ist man ja nicht von | |
| seinem Großvater entfernt. | |
| Sind eigentlich konkrete Verbrechen von Wintershall gegen die Sinti | |
| bekannt? | |
| Genau kann ich das nicht sagen. Aber ich gehe davon aus, dass unter 10.000 | |
| Zwangsarbeitern auch Sinti gewesen sind. Aber es geht ja nicht nur um uns. | |
| Stellen Sie sich vor, eine hochbetagte Holocaust-Überlebende besucht 2023 | |
| die Eröffnung des Dokumentationszentrums. Sie sieht die Wintershall-Büros | |
| und sagt: „Da habe ich Zwangsarbeit geleistet.“ Oder ihre Schwester oder | |
| ein Bekannter. So eine Situation ist doch unzumutbar. Wie kann man so etwas | |
| zulassen? Zumal Wintershall Dea zu 67 Prozent der BASF gehört, die wiederum | |
| einer der Nachfolge-Konzerne der IG Farben ist. Die IG Farben hat nicht nur | |
| das erste private KZ Auschwitz-Monowitz gebaut, sondern auch das Zyklon B | |
| geliefert, mit dem unsere Leute ermordet wurden. | |
| Wintershall erwägt eine Ausstellung zur NS-Vergangenheit im eigenen Foyer | |
| und eine gemeinsame Ausstellung mit dem Dokumentationszentrum. Wäre das ein | |
| Kompromiss? | |
| Nein. Ich würde sagen, in unmittelbarer Nachbarschaft passt das einfach | |
| nicht. | |
| Der Landesverein der Sinti hat sich auch bei der Gestaltung des Mahnmals | |
| Hannoverscher Bahnhof engagiert und tut das jetzt bei der Gestaltung des | |
| Dokumentationszentrums. Welches ist Ihr Part? | |
| Es geht ja um unsere Geschichte und um unsere Familien. Deshalb saßen wir | |
| in der Expertenrunde für den 2017 eingeweihten Gedenkort Hannoverscher | |
| Bahnhof und gaben Ideen und Anregungen für die Gestaltung – wie die | |
| Vertreter der anderen Opferverbände auch. Auch in der Expertenrunde für das | |
| künftige Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof sind wir als | |
| Verfolgtenverband vertreten. | |
| 11 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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