# taz.de -- Selbstorganisation der Flüchtlinge: Die Mittel des langen Kampfes | |
> The Voice war vor 20 Jahren die erste Selbstorganisation von | |
> Flüchtlingen. Ihre Forderungen gleichen denen heutiger Protestler. | |
Bild: Ein Unterstützer der Lampedusa-Flüchtlinge demonstriert in Hamburg sein… | |
Das letzte Mal ist eine Woche her. Der Tote hieß Stanley Utubor, ein | |
nigerianischer Asylbewerber, erschossen unter unklaren Umständen, am 24. | |
September im Flüchtlingsheim im Wolfsburger Stadtteil Fallersleben. Stunden | |
später verschickte Osaren Igbinoba eine E-Mail, wie er sie ähnlich schon | |
Tausende Male verschickt hat: den Aufruf gegen „das Unrecht in | |
Fallersleben“, den die Heimbewohner ihm geschickt hatten. | |
Es waren Aktivisten des The Voice Refugee Forum – der Organisation, die | |
Igbinoba vor genau 20 Jahren gegründet hat. Für sie ist Utubor ein weiteres | |
Opfer der Flüchtlingspolitik. Seit Jahren hatten Voice-Leute in | |
Fallersleben die Schließung der Unterkunft verlangt – durch die | |
Lebensbedingungen dort seien „Streitigkeiten vorprogrammiert“, schrieben | |
sie schon 2011. | |
Igbinoba, ein massiger Mann Mitte fünfzig, hat andere zum Kampf gegen die | |
Lager und Residenzpflicht aufgerufen, als dies noch kein anderer getan hat. | |
Und er tut bis heute nichts anderes, obwohl er schon seit 1998 als | |
Flüchtling anerkannt ist. | |
Abschiebungen und Arbeitsverbot, Residenzpflicht und Essenspakete – | |
„nirgendwo sonst ist die Repression so perfektioniert wie in Deutschland“, | |
sagt er. Es sei ein „leiser Krieg, den die Bürokratie gegen uns führt“. D… | |
Isolation in den Lagern sei ein Teil davon. „Das macht die Leute kaputt“. | |
## „Wehrt euch!“ | |
Igbinoba sitzt in seinem Büro im Dachgeschoss eines alternativen Zentrums | |
in der Mitte von Jena in Thüringen. An diesem Morgen fällt Sonnenlicht | |
durch die Dachluke herein, die Nachrichten, die in Igbinobas Mailaccount | |
und auf seinem Anrufbeantworter landen, sind meist eher düster. Suizide und | |
Übergriffe, Abschiebungen, Flüchtlinge, die nicht mehr weiterwissen. | |
Niemand ist in den ostdeutschen Flüchtlingsheimen so vernetzt wie Igbinoba. | |
Und allen, die sich bei ihm melden, sagt er dasselbe: „Wehrt euch!“ Sich | |
zusammenzutun, ungehorsam zu sein, das sei „ein Schrei nach Freiheit“, aber | |
auch schon ein Teil der Freiheit selbst. „Auch wenn man im Gefängnis | |
landet“, wie es Voice-Aktivisten, die etwa gegen die Residenzpflicht | |
verstießen, immer wieder passierte. | |
„Wir sind hier, weil ihre unsere Länder zerstört“ – das war das Motto d… | |
Flüchtlinge. Niemand kommt freiwillig, sagt Igbinoba. „Es gibt keinen | |
Hunger. Es gibt nur Ausplünderung.“ | |
## Immer unter Androhung von Sanktionen | |
Die alte russische Kaserne, in die Igbinoba 1993 verteilt wurde, ist | |
mittlerweile geschlossen; ebenso wie viele andere der besonders abgelegenen | |
und heruntergekommenen Heime in Ostdeutschland. „Wir haben so lange | |
protestiert, sie konnten nicht anders. Zwischen 2003 und 2011 haben sie | |
wegen uns sogar aufgehört, Afrikaner nach Thüringen zu verteilen.“ Er lacht | |
so laut, dass er sich am Zigarettenrauch verschluckt und husten muss. „Die | |
Ausländerbehörden schauen heute jeden Tag auf unsere Homepage“, sagt er. | |
18 Jahre haben The Voice und ähnliche, später entstandene Gruppen, fast | |
unter Ausschluss der Öffentlichkeit gekämpft – völlig unterfinanziert und | |
immer von Sanktionen der Ausländerbehörden bedroht. | |
Heute ist das anders. Flüchtlingsproteste sind zu einem Mainstream-Thema in | |
den großen Medien geworden, seit eine Gruppe junger Iraner sich Anfang 2012 | |
in Würzburg die Münder zunähte und damit eine ganze Kaskade von Aktionen | |
auslöste. Die gipfelte in der Besetzung des Berliner Oranienplatzes vor | |
genau zwei Jahren. Die Forderungen dieses Protestzyklus sind exakt | |
dieselben, wie Igbinoba sie fast zwei Jahrzehnte zuvor formuliert hatte. | |
Die jungen Iraner gingen offensiver zu Werk, doch der Boden für sie war | |
bereitet worden durch Gruppen wie The Voice, die Fäden in die | |
Zivilgesellschaft geknüpft hatten. | |
## Die Nicht-Nichtbürger | |
„Niemand ist glücklicher als ich, dass es so gekommen ist“, sagt Igbinoba. | |
„Schließlich haben sie genau das gemacht, wozu wir immer aufgerufen haben.“ | |
Trotz der versöhnlichen Töne – das Verhältnis zwischen der alten und neuen | |
Flüchtlingsbewegung war nicht immer das beste. Wohl um ihren | |
Führungsanspruch durchzusetzen, erfanden die Führer der neuen | |
Protestgeneration gar einen neuen Begriff: Sie nannten sich „Non-Citizens“, | |
Nichtbürger. So konnten sie ältere Aktivisten wie Igbinoba von vielen | |
Aktionen ausschließen – denn wen der Staat als Flüchtlinge anerkennt, war | |
nach ihrer Definition Bürger. | |
Die „Non-Citizens“ setzten schon bald auch auf Durst- statt bloß auf | |
Hungerstreiks und schafften so, woran andere gescheitert waren: Sie zwangen | |
die CSU, die Essenspakete abzuschaffen – einer von mehreren Erfolgen der | |
Bewegung. Heute bekommen Asylsuchende Sozialleistungen in ähnlicher Höhe | |
wie Deutsche, Residenzpflicht und Arbeitsverbote sind gelockert. „Natürlich | |
gibt es Unterschiede, alle Menschen sind verschieden“, sagt Igbinoba, der | |
Hungerstreiks für „nur das allerletzte Mittel“ hält. Aber er wolle nicht | |
werten: „Die Non-Citizens waren wütend. Da muss jeder selbst entscheiden, | |
was er tut“, sagt er. Es selbst habe die Erfahrung gemacht, dass es „andere | |
Mittel des Kampfes“ gebe: „Der Staat fürchtet Flüchtlinge, die sich | |
vereinigen mehr als solche, die sich zu Tode hungern.“ | |
An diesem Wochenende feiert The Voice seinen 20. Geburtstag mit einem | |
Kongress in Jena. „Vereint gegen soziale Ausgrenzung“, ist das Motto. | |
Eingeladen sind auch die Non-Citizens. | |
1 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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