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# taz.de -- Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile: Das Folterlager von Pinoc…
> Im Zusammenhang mit der Colonia Dignidad werden erstmals Fehler der
> deutschen Diplomatie eingeräumt. Das ist wichtig – aber nicht genug.
Bild: Colonia Dignidad in den Siebzigern: grauenhaft
Berlin taz | „Von so einem Tag hab ich 50 Jahre geträumt“, sagt Wolfgang
Kneese am Dienstagabend im mondänen Weltsaal des Auswärtigen Amtes in
Berlin. 1966 war ihm, damals 21 Jahre jung, als Erstem die Flucht aus der
Colonia Dignidad gelungen, der inzwischen berüchtigten Sektensiedlung im
Süden Chiles, die der Wanderprediger Paul Schäfer dort 1961 gegründet
hatte.
Schäfer war aus Deutschland geflohen, wo er wegen Kindesmissbrauchs gesucht
wurde. Er hatte seine Anhänger mitgenommen und ein paar Dutzend Kinder mit
nach Chile entführt – darunter auch Wolfgang Kneese, den Schäfer schon in
Deutschland vergewaltigt hatte, gleich am ersten Tag, als seine Mutter ihn
1957 in seine Obhut gegeben hatte.
Nun, am Dienstagabend, reagiert Kneese mit diesem Satz auf [1][eine Rede,
die Frank-Walter Steinmeier gerade gehalten hat]. Als erster deutscher
Außenminister überhaupt hat er schwere Fehler eingestanden. Über viele
Jahre hinweg, sagt Steinmeier, „haben deutsche Diplomaten bestenfalls
weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute
in dieser Kolonie getan.“
Jetzt habe der Kinofilm „Colonia Dignidad“ des Regisseurs Florian
Gallenberger, mit Daniel Brühl und Emma Watson in den Hauptrollen, einen
künstlerischen Anstoß gegeben, „den offenbar auch wir brauchten, um uns des
Themas Colonia Dignidad und der Rolle der deutschen Botschaft in Chile noch
einmal neu anzunehmen.“
Wie muss so eine Aussage auf Wolfgang Kneese wirken, der seit seiner Flucht
die Fakten über den organisierten Kindesmissbrauch, die Freiheitsberaubung,
die Gewalt und die medizinische Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka immer
und immer wieder berichtet hat – und als Spinner abgestempelt wurde? Der
miterleben musste, wie die Colonia beste Kontakte nach Deutschland pflegte,
wie Abgeordnete von CSU und CDU die Colonia besuchten, wie der deutsche
Botschafter Erich Strätling ihr noch 1977 attestierte, sie sei ordentlich
und sauber geführt, und es gleichzeitig zuließ, dass die Colonia auf dem
Parkplatz der Botschaft deutsche Wurst und Käse aus eigener Herstellung
verkaufte?
## Kinofilm als Auslöser
Kneese hatte immer wieder gesagt, was die Colonia wirklich war. Und jetzt
ist es ein Kinofilm, der das Amt dazu bringt, sich mit seiner Vergangenheit
zu befassen? Aber an diesem Abend ist Kneese auf Versöhnung aus. „Ich finde
es bemerkenswert, dass ein Minister sich vor die Presse stellt und Fehler
zugibt“, sagt er, und: „Man kann Kritik üben, aber das ist jetzt nicht
konstruktiv.“
Konstruktiv, das will auch Steinmeier sein. Im Sinne der Transparenz habe
er entschieden, schon jetzt die Akten des Auswärtigen Amtes über die
Colonia bis zum Jahr 1996 Journalisten und Historikern zugänglich zu machen
– zehn Jahre früher, als es das Archivgesetz vorsieht. Als Steinmeier das
sagt, brandet Beifall auf im Saal.
Aber auch Skepsis: „Ich wünschte mir“, sagt Anwalt Wolfgang Kaleck vom
Europäischen Menschenrechtszentrum ECCHR, „dass die Akten nicht nur
geöffnet, sondern auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass
sie bearbeitet werden können.“ Einzelne Journalisten oder Historiker
könnten das kaum leisten, meint er und wünscht sich Mittel für eine
Historikerkommission. Davon ist aber bislang nicht die Rede.
## Schulungsmodul für junge Diplomaten
Aus dem, was in den Akten zu finden ist, will das Auswärtige Amt ein
Schulungsmodul für junge Diplomaten formen, in dem es um solche Fragen
gehen soll: „Was wurde versäumt, was hätte man besser machen können? Wie
würde man heute denkbaren ähnlichen Konfliktsituationen vorbeugen?“
Damit ist auch die Lesart des institutionellen Fehlverhaltens vorgegeben:
„Außenpolitik wird von Menschen gemacht“, sagt Steinmeier: „Es geht desh…
nicht nur um den Kompass eines Staates, wie er seine Interessen definiert
und abwägt. Es geht auch um den Kompass eines jeden Einzelnen.“
War es also individuelles Fehlverhalten von Diplomaten, die, bezirzt von
Schäfer und seiner Inszenierung einer schrulligen, aber friedfertigen und
fleißigen religiösen Gemeinschaft einfach zu wenig taten, um hinter die
Kulissen zu schauen?
Man darf das getrost bezweifeln. Zwar ist die Colonia Dignidad mit ihrer
Perfidie nach innen und ihrer Rolle als Folterlager von Pinochets
Geheimdienst einzigartig. Aber, wie Steinmeier selbst andeutet: „Die
Wahrung der Menschenrechte auf anderen Kontinenten war […] nicht zentraler
Gegenstand in der Außenpolitik der Europäer – auch nicht in der deutschen
Außenpolitik.“ Nicht Einzelnen war der Kompass verloren gegangen. Sie
wussten sich im Einklang mit einer Politik des Wegschauens.
## Das Ansehen von Genscher und Schmidt
Aber das will Steinmeier so nicht sagen. Auch das Wort „Entschuldigung“
wird tunlichst vermieden. Beides könnte nicht nur das Ansehen des gerade
erst verstorbenen früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher und seines
Kanzlers Helmut Schmidt beschmutzen, sondern auch Entschädigungsforderungen
nach sich ziehen.
Auf Entschädigung bestehen die Opfer allerdings sehr wohl. Und Anwalt
Kaleck geht noch einen Schritt weiter: „Es muss natürlich noch über
juristische Konsequenzen wie Entschädigung, Straf- und Disziplinarverfahren
gesprochen werden. Und nur über Chile zu sprechen reicht nicht: Der ähnlich
gelagerte Fall von Argentinien müsste ja auch aufgearbeitet werden.“ Da
hatte die deutsche Diplomatie zugelassen, dass Deutsche und Deutschstämmige
von der Militärdiktatur umgebracht wurden, am bekanntesten der Fall der
1977 ermordeten Elisabeth Käsemann.
Die in der Colonia geborene und bis heute dort lebende Anna Schnellenkamp
wünscht sich weitere pychiatrische Betreuung für die 130 Menschen, die noch
immer dort sind. Kneese wünscht sich, dass das Justizministerium endlich
„Flagge zeigt“, um den unbehelligt in Krefeld lebenden einstigen
Colonia-Arzt Hartmut Hopp hinter Gitter zu bringen, der in Chile wegen
Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilt wurde, sich der Haft aber durch
Flucht entzog. Die Vertreter der über 100 in der Colonia ermordeten
chilenischen Opfer wünschen sich ein Denkmal, einen Trauerort in der
heutigen „Villa Baviera“.
Niemand ist wirklich zufrieden, alle Wunden sind noch offen. Aber an diesem
Dienstagabend, da sind sich auch alle einig, hat es einen wichtigen Schritt
gegeben. „Historisch“, murmelt es bei Wein und Häppchen in den Gängen vor
dem Weltsaal.
27 Apr 2016
## LINKS
[1] http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/160426_Colo…
## AUTOREN
Bernd Pickert
## TAGS
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sexueller Missbrauch
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