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# taz.de -- Seiteneinstieg in der Schule: Auf die Kinder, fertig, los!
> Zum neuen Schuljahr fehlen wieder Tausende Lehrer. Die Bundesländer
> greifen auf Quereinsteiger zurück. Kann das gut gehen?
Bild: Der erste Tag in der Schule – nicht nur für die Schüler ein Abenteuer…
Berlin taz | Bei Jens Cyprian ging alles ganz schnell. Vor zwei Wochen
stellte sich der 48-Jährige bei der Schulleitung im brandenburgischen
Panketal vor. Das Gymnasium suchte dringend Lehrer für Politik und
Gesellschaftskunde. Pünktlich zum Schulstart diese Woche hat Cyprian als
Lehrer angefangen – obwohl er dazu nie ausgebildet wurde.
Cyprian ist einer von 682 Quereinsteigern, die diese Woche ihren
Schuldienst in Brandenburg aufgenommen haben. Damit hat dort jede dritte
neu angestellte Lehrkraft nie Lehramt studiert oder das zweite Staatsexamen
gemacht.
Cyprian hat zwar an ausländischen Hochschulen und vertretungsweise an einer
bayerischen Gesamtschule unterrichtet. Doch nun hat er erstmals 13-Jährige
Pubertierende vor sich. Wie er mit ihnen umgeht, muss er sich selbst
beibringen. „Das ist schon eine Herausforderung“, sagt er. An Cyprians
kleiner Schule gibt es seines Wissens noch mindestens vier weitere
Quereinsteiger. Jede und jeder Fünfte im Kollegium ist also kein
ausgebildeter Pädagoge.
Die meisten Quereinsteiger holen das Referendariat zwar berufsbegleitend
nach. Viele Eltern sehen es aber als Problem, dass unausgebildete
Lehrkräfte auf ihre Kinder losgelassen werden. Und auch in den
Lehrerzimmern herrscht Skepsis. Spricht man mit erfahrenen Lehrkräften,
hört man oft die Sorge, dass die „Alten“ nun künftig auch noch für alle
Fragen der „Neuen“ zuständig sein sollen. Zumal die Zahl der Quereinsteiger
seit Jahren kontinuierlich steigt.
## Trotz Quereinsteigern Tausende Stellen unbesetzt
Einige Bundesländer wie das Saarland oder Baden-Württemberg erlauben
Seiteneinsteiger nur in beruflichen Schulen. Andere Ländern aber greifen
ohne Scheu auf pädagogisch ungeschultes Personal zurück, wie eine Umfrage
der taz zeigt: In Niedersachsen ist jeder achte neu angestellte Lehrer
Quereinsteiger, in Bremen jeder fünfte und in Sachsen-Anhalt fast jeder
vierte.
Dennoch bleiben deutschlandweit Tausende Stellen unbesetzt. Auch zum
aktuellen Schulstart konnten viele Bundesländer erneut nicht genügend
Lehrer finden – trotz Tausender Quereinsteiger. So fehlen in Sachsen-Anhalt
aktuell 250 Lehrer, in Sachsen 230. In Baden-Württemberg oder
Nordrhein-Westfalen könnten es noch mehr sein. Über die Neueinstellungen
geben die beiden Länder erst in den kommenden Wochen Auskunft. Läuft es
aber wie im vergangenen Schuljahr, bleiben dort wieder Hunderte Stellen
unbesetzt.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, warnt
deshalb vor dem schlimmsten Lehrermangel seit drei Jahrzehnten. Auch die
Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Ilka Hoffmann,
sieht einen „Bildungsnotstand“ zumindest in Sachsen und Berlin.
## Berlin setzt seit Jahren auf ungelernte Lehrer
Vor allem in Berlin stellt sich die Lage dramatisch dar. Seit vier Jahren
schon kommt die Hauptstadt nicht mehr ohne Seiteneinsteiger aus. Zum
aktuellen Schuljahr können von 2.700 neu eingestellten Lehrern gerade mal
1.000 ein Lehramtsstudium vorweisen – damit liegt Berlin im Ländervergleich
ganz hinten. An den Grundschulen haben sogar nur 13 Prozent der neu
eingestellten LehrerInnen tatsächlich Grundschullehramt studiert.
Doch gelang es Berlin immer wieder, alle Stellen zu besetzen. Auch zum
neuen Schuljahr, das gerade begonnen hat. Damit ist die Situation aber
nicht entschärft. Erstmals reichten auch die Quereinsteiger nicht, um den
Lehrerbedarf zu decken.
Deshalb greift die Senatsverwaltung zu einem neuen Kniff. Berliner Schulen
müssen sich derzeit an eine neue Vokabel gewöhnen: LovLs. LovLs sind
„Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“. Das können beispielsweise Archäologen
oder BWLer sein, die gar kein richtiges „Schulfach“ unterrichten können wie
etwa ein Diplomphysiker. Insgesamt stellte der Berliner Senat 915 dieser
LovLs an, darunter viele als „Lehrer“ in Flüchtlingsklassen. Im Gegensatz
zu den herkömmlichen Quereinsteigern werden die LovlLs nicht
nachqualifiziert. Eine Woche Crashkurs und los!
## „Wissen nicht, was auf sie zukommt“
Doch selbst klassische Quereinsteiger, die berufsbegleitend das
Referendariat nachholen, müssen nach ein paar Stunden Vorbereitungsseminar
ins kalte Wasser springen.
„Völlig unverantwortlich“, findet das Steffen Hoffmann. Hoffmann ist
Physiklehrer an einem Berliner Gymnasium. Seit sechs Jahren betreut er
Referendare in seinem Fachbereich – darunter auch Quereinsteiger, die das
Pädagogikstudium neben dem normalen Unterricht nachholen. „Die müssen 18
Stunden die Woche unterrichten und wissen überhaupt nicht, was auf sie
zukommt“, kritisiert Hoffmann. Dabei gebe es viele, die auch ohne
Lehramtsstudium gute Lehrer sein können.
Das Problem ist aber, dass sich viele, die zum ersten Mal überhaupt vor
einer Klasse stehen, überfordert fühlen. „Wenn’s schlecht läuft, bekommt
ein Quereinsteiger nur zweimal im Halbjahr Feedback“, so Hoffmann.
„Notwendig wäre aber ein vollständiges Coaching.“
## Betroffener sieht „Überforderung“
So sehen das auch viele Betroffene selbst. Philipp Dehne zum Beispiel. Der
34-Jährige ist ausgebildeter Politik- und Islamwissenschaftler. Er
unterrichtet Politik und Ethik an einer Brennpunktschule in Kreuzberg. An
seinen Crashkurs vor vier Jahren hat er keine guten Erinnerungen: „Was wir
da an fünf Tagen gelernt haben, reicht nicht aus, um vor einer Klasse zu
bestehen.“ Dehne hatte aber Glück: Über das Programm „Teach First“ hatt…
schon über zwei Jahre an der Schule unterrichtet. Und selbst mit diesem
Riesenvorteil hat er seine Stunden schnell auf 13 Wochenstunden reduziert.
„Auch so ist das noch eine Überforderung für Lehrer und Schüler“, sagt
Dehne, der mittlerweile sein Referendariat in der Tasche hat.
In anderen Bundesländern ist die Stundenzahl für Quereinsteiger niedriger.
Und der Crashkurs länger. In Sachsen oder Brandenburg etwa müssen die
Neulehrer erst mal drei Monate die Bank drücken, bevor sie unterrichten
dürfen. Lehrerverbandschef Meidinger und GEW-Frau Hoffmann fordern die
Kultusminister deshalb auf, für einheitliche Qualitätsstandards zu sorgen.
„Nötig ist ein Masterplan für gemeinsame Standards und die Qualifizierung
der Seiteneinsteiger“, so Hoffmann.
Vor fünf Jahren haben sich die Kultusminister bereits Gedanken gemacht, wie
Quereinsteiger qualifiziert werden können. In dem Beschluss betonen die
Minister die Notwendigkeit eines Lehramtsstudiums und anschließenden
Referendariats, im Ernstfall „steht es den Ländern darüber hinaus frei,
weitere landesspezifischen Sondermaßnahmen zu ergreifen“. Ein Freibrief für
die Länder.
Hoffmann von der GEW schlägt vor, dass die Kultusministerkonferenz, KMK,
und die Lehrerverbände nun am runden Tisch zusammenkommen und sich
gemeinsam Gedanken machen. Angefragt worden sei sie aber noch nicht. Auf
Anfrage der taz sagt ein KMK-Sprecher, man wolle im September eine eigene
Prognose zum Lehrerbedarf vorlegen.
23 Aug 2018
## AUTOREN
Ralf Pauli
Anna Lehmann
## TAGS
Lehrer
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Henning Harnisch
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