# taz.de -- Rückgabe von NS-Raubkunst: Geraubte Kunst | |
> Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) will die Möglichkeiten zur | |
> Rückerlangung von NS-Raubkunst durch die Erben der Verfolgten | |
> erleichtern. | |
Bild: Ein Werk, um das es in der Raubkunst-Debatte geht: „Madame Soler“ von… | |
„Dass Tausende Kunstwerke, die in der Zeit des nationalsozialistischen | |
Deutschlands jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geraubt wurden, bis heute | |
immer noch nicht restituiert wurden – das ist eine Schande“, beklagte die | |
Rednerin. [1][Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) kündigte in der | |
vergangenen Woche in Berlin eine Reform] bei der Restitution von | |
NS-Raubkunst an. | |
Der NS-Raubzug durch Europa hatte gigantische Ausmaße: Bis zu 600.000 | |
Objekte, so eine Schätzung, wurden von den Nazis gestohlen, dazu | |
Hunderttausende Bücher. In den vergangenen 25 Jahren wurden davon etwa | |
4.000 Kunstwerke und 27.000 Bücher restituiert, so Benjamin Lahusen von der | |
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) auf einer Tagung. Die | |
Lost-Art-Datenbank umfasst rund 60.000 ungelöste NS-Fälle. Eine | |
niederschmetternde Bilanz. | |
In München sitzt eine Dame mit geschlossenem Mund auf einem Stuhl, die | |
Augen sind auf den Betrachter gerichtet, die Haare schwarz wie die Nacht. | |
Es handelt sich um die Gattin des Schneiders Benet Soler, eines Freundes | |
von Pablo Picasso. Picasso schuf das Bild 1903. | |
Gut 30 Jahre später hing „Madame Soler“ in den privaten Räumlichkeiten von | |
Paul von Mendelssohn-Bartholdy, einem Berliner Bankier jüdischer Herkunft. | |
Und dort hätte sie wohl auch weiter ihren Platz gehabt, wenn nicht 1933 die | |
NS-Judenverfolgung begonnen hätte. Das zumindest ist die Ansicht einer | |
Erbengemeinschaft, die die Rückgabe des Gemäldes fordert. | |
## Von Bayern angekauft | |
Tatsache ist: Nach dem Tod von [2][Paul von Mendelssohn-Bartholdy] 1935 | |
geriet „Madame Soler“ in den Besitz der Berliner Galerie Thannhauser. Deren | |
jüdischer Eigentümer musste vor der NS-Verfolgung fliehen und erreichte New | |
York, im Gepäck „Madame Soler“. 1964 wurde der Picasso von der | |
Staatsgemäldesammlung Bayern angekauft. Heute kann man die Dame in der | |
Münchner Pinakothek anschauen. | |
Und dabei soll es auch bleiben, jedenfalls wenn es nach dem bayerischen | |
Ministerium für Wissenschaft und Kunst geht. Die Erbengemeinschaft mit | |
deren Sprecher Julius H. Schoeps vertritt dagegen die Auffassung, dass es | |
sich bei „Madame Soler“ um Raubkunst handelt. Und die, so bestimmen es die | |
Washingtoner Prinzipien seit 25 Jahren, gehört den Erben. | |
In diesen Tagen, pünktlich zum 25. Jahrestag dieser Prinzipien, gerät der | |
seit Jahren währende Streit um „Madame Soler“ erneut in den Mittelpunkt | |
einer Debatte über den Umgang mit potenzieller NS-Raubkunst. Es geht um | |
eine Reform der Verfahren und der Rechtsgrundlagen bei der Restitution von | |
gestohlenem jüdischem Eigentum. | |
Dabei hat die Bundesregierung vor 20 Jahren ein Gremium geschaffen, das für | |
Fälle von in öffentlichen Sammlungen befindlicher Raubkunst zuständig ist: | |
die Beratende Kommission. Dieses Gremium, derzeit mit dem früheren | |
Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier an der Spitze, leide | |
unter einem „Konstruktionsfehler“, sagt Kulturstaatsministerin Roth. | |
## Im Sinne der Washingtoner Erklärung | |
Um eine Befassung der Kommission auszulösen, müssen nämlich beide Seiten | |
dem Verfahren zustimmen, also sowohl das Museum als auch die Nachfahren der | |
Naziverfolgten. Das gilt als einer der Gründe, warum die Kommission in 20 | |
Jahren nur 23 Fälle entschieden hat. | |
Und hier sind wir wieder bei Picassos „Madame Soler“. Die | |
Staatsgemäldesammlung Bayern und das bayerische Ministerium für | |
Wissenschaft und Kunst vertreten nämlich die Auffassung, dass es sich bei | |
der Dame nicht um NS-Raubkunst handelt. „Die Voraussetzungen für eine | |
Anrufung der Beratenden Kommission sind nicht gegeben, weil es sich gerade | |
nicht um einen NS-verfolgungsbedingten Entzug im Sinne der Washingtoner | |
Erklärung handelt“, so ein Sprecher des Kunstministeriums in München. | |
Eigentlich ist Aufgabe der Kommission, so etwas festzustellen. Doch weil | |
der Freistaat Bayern die Zustimmung zur Befassung verweigert, kommt eine | |
Prüfung gar nicht erst in Gang. | |
Dieser Konsens der Verfahrensbeteiligten soll nach dem Willen Roths fallen. | |
Im Falle von „Madame Soler“ sei es „völlig unverständlich, dass sich die | |
bayerische Landesregierung hier so sehr sträubt“, meinte sie. Bei der | |
Umsetzung der Reform allerdings ist sie auf die Zustimmung genau dieser | |
Landesregierung angewiesen. Kultur untersteht grundsätzlich der Hoheit der | |
Bundesländer, und auch wenn Zyniker anmerken, dies gelte wohl nicht für | |
Raub, führt kein Weg daran vorbei, dass alle 16 Länder Roths Vorschläge | |
bejahen müssen. | |
## Ein Restitutionsgesetz | |
Es ist nicht so, dass sich die bayerische Staatsregierung in München einer | |
Neuordnung verweigert. Der Freistaat habe einer Reform der Beratenden | |
Kommission zugestimmt, so ein Ministeriumssprecher zur taz. | |
Kunstminister Markus Blume (CSU) verfolgt freilich weiterreichende Pläne: | |
„Wir brauchen eine gesetzliche Grundlage als Weiterentwicklung des | |
unverbindlichen Soft Laws – eine solche verbindliche Lösung für die | |
Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut ist | |
überfällig!“, sagte er der taz. Deshalb habe Bayern „für eine gesetzliche | |
Regelung erst im September 2023 eine Bundesratsinitiative gestartet“. | |
Ein Restitutionsgesetz also. Viele Opferverbände wie die Jewish Claims sind | |
der Auffassung, dass eine solche Grundlage bitter fehlt. Die Beraubten und | |
ihre Nachfahren seien „der blinde Fleck“ der Bundesregierung, beklagte | |
jüngst Rüdiger Mahlo, der die Claims in Deutschland repräsentiert. Auch der | |
Präsident der Beratenden Kommission, Papier, mahnte ein solches Gesetz | |
schon an. | |
Kreise um Staatsministerin Roth reagieren auf solche Forderungen skeptisch. | |
Sie befürchten, dass bis zu einer Einigung auf ein Restitutionsgesetz Jahre | |
und Jahrzehnte vergehen könnten. Mit der Suche nach Eigentümern befasste | |
Provenienzforscher plädieren deshalb dafür, Roths Reformen jetzt | |
umzusetzen, ohne deshalb auf ein späteres Restitutionsgesetz zu verzichten. | |
In der Umgebung der Staatsministerin gibt man sich optimistisch, bis zum | |
Frühjahr eine Einigung mit allen Bundesländern zu erzielen. | |
## Claudia Roth will Reform | |
Roth plant weitere Reformschritte. Darunter fällt die Regelung, dass vom | |
Bund geförderte Sammlungen schon ab Januar 2024 der Regelung unterliegen, | |
einer Untersuchung auf NS-Raubkunst durch die Beratende Kommission | |
zustimmen zu müssen. „Ich fürchte, dass Bayern dann keine Förderanträge | |
mehr stellt“, meinte dazu Gilbert Lupfer vom Deutschen Zentrum | |
Kulturverluste, das Provenienzforschungen fördert. Die Regelung liefe dann | |
ins Leere. | |
Schoeps, der seit Jahren für die Rückgabe des Gemäldes „Madame Soler“ | |
kämpft, gibt nicht auf. „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Es geht um | |
historische Wahrheit und Gerechtigkeit“, sagte er der taz. | |
Dabei ist die Rückgabe von NS-Raubkunst aus öffentlichen Sammlungen | |
immerhin geregelt, wenn auch nicht gesetzlich. Ganz anders sieht es mit | |
privatem Eigentum aus. Gemälde, Skulpturen und Bücher gelten mehr als 70 | |
Jahre nach dem Ende des NS-Regimes als von den jetzigen Eigentümern | |
„ersessen“, sämtliche Verjährungsfristen sind abgelaufen. | |
Die Liste des Eigentums von Ottilie und Selmar Frankenstein, wohnhaft | |
Meierottostraße 6 in Berlin, umfasst vier Seiten. Handschriftlich sind dort | |
neben vielem anderen eingetragen: „6 Bilder im 1. Zimmer links, 3 Bilder, 1 | |
Bücherschrank und ein kleiner Bücherschrank im 2. Zimmer links“, dazu in | |
nicht spezifizierten Zimmern vier weitere Bilder, eine Porzellanfigur und | |
fünf Bronzen. Ein Möbelhändler kauft das Ganze für 914,20 Reichsmark. | |
Das Geld fließt an das Deutsche Reich. Die Frankensteins aber werden im | |
Jahr 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie kehren nicht zurück. Ein | |
Neffe erinnert sich an ein im japanischen Stil eingerichtetes Zimmer und an | |
die Gemälde an den Wänden. | |
## Geraubtes in diversen Wohnstuben | |
Zumindest ein Teil dieser Bilder, Bronzen und Bücher [3][dürfte heute in | |
diversen Wohnstuben vorhanden sein]. Aber es ist niemand mehr da, der deren | |
Rückgabe noch fordern könnte. Und selbst wenn es noch jemanden geben würde | |
– die Chancen auf eine Rückgabe oder Entschädigung sind ausgesprochen | |
schlecht. | |
Die Washingtoner Prinzipien haben immerhin bei hochklassiger Ware einiges | |
auf dem Kunstmarkt verändert. „Auktionshäuser verkaufen keine Ware mehr, | |
die auf Lost Art registriert ist“, sagte die auf solche Fälle | |
spezialisierte Rechtsanwältin Mara Wantuch-Thole. Viele Häuser haben | |
inzwischen eigene Provenienzstellen eingerichtet. | |
Bei einem Verdacht auf NS-Raubkunst versuchen sie, eine „faire und | |
gerechte“ Einigung zwischen den Erben und dem neuen Besitzer zu finden, um | |
das Objekt anschließend versteigern zu können. „Fair und gerecht“, das | |
bedeutet häufig eine Teilung des Erlöses in zwei gleiche Hälften, heißt es | |
aus dem führenden deutschen Auktionshaus Ketterer. | |
Ohne ein Restitutionsgesetz ist die Durchsetzung der Ansprüche von | |
Verfolgten des Nationalsozialismus bei minder bekannter Kunst nahezu | |
unmöglich. „Ohne rechtliche Handhabe kommen wir nicht weiter“, sagte auch | |
Gilbert Lupfer. Kulturstaatsministerin Roth bemüht sich derzeit im Gespräch | |
mit weiteren Ministerien der Ampelregierung um eine Neuregelung bei der | |
Verjährung, ein Auskunftsrecht und eine zentrale Gerichtsinstanz. Das wäre | |
immerhin ein kleiner Schritt. | |
11 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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