Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Restitution von Nazi-Raubgut: Handfeste Erinnerungen
> Paul Chodziesner ist aus Australien gekommen, um einen Schatz in Empfang
> zu nehmen: die Bücher seiner Vorfahren. Beide wurden von den Nazis
> ermordet.
Bild: Im Haus der Familie Chodziesner in Melbourne werden die neun alten Büche…
Berlin taz | Manche Dinge erhalten ihren Wert nicht durch das, was sie
sind, sondern aufgrund der Geschichte, die an ihnen haftet. So auch die
vergilbten Bücher, die an einem Nachmittag im Februar in den Räumen der
Moses Mendelssohn Stiftung in Charlottenburg auf einem kleinen Tisch liegen
– sie sind die einzigen noch erhaltenen Gegenstände aus dem Besitz des
jüdischen Anwalts und Notars Ludwig Chodziesner und seiner Tochter, der
Lyrikerin Gertrud Kolmar. Bevor Vater und Tochter von den Nazis ins KZ
verschleppt und getötet wurden, wurde ihr gesamtes Eigentum konfisziert.
Über achtzig Jahre später hat Paul Chodziesner einen kleinen Teil davon
zurückerhalten. „Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was das für Bücher
sind“, sagt er bei der feierlichen Restitution in den Räumen der Moses
Mendelssohn Stiftung. „Darauf kommt es ja auch gar nicht an“, findet
[1][Provenienzforscherin Irena Strelow]. „Wichtig ist, dass die Bücher nun
da sind, wo sie hingehören – in den Händen der Familie Chodziesner.“
Irena Strelow hat die Geschichte der Chodziesners genau zurückverfolgt.
Ludwig Chodziesner war ein prominenter Anwalt, zu seinen bekanntesten
Mandaten gehört das von Fürst Philipp zu Eulenburg, der wegen
Homosexualität vor Gericht gestellt wurde. Eulenburg war ein enger Freund
des Kaisers Wilhelm II. Die Harden-Eulenburg-Affäre zählt zu den größten
Skandalen des Deutschen Kaiserreichs.
Nach der Machtergreifung Hitlers gelang es drei der vier Kinder Ludwig
Chodziesners, ins Ausland zu fliehen – darunter auch Paul Chodziesners
Großvater George. Gertrud Chodziesner entschied sich, bei dem alten Vater
zu bleiben. Unter dem Künstlernamen Gertrud Kolmar hatte sie sich als
Lyrikerin hervorgetan – Cousin Walter Benjamin zählte zu ihren
Unterstützern –, ihr letzter Gedichtband erschien 1933. Danach leistete sie
Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie.
## Genauer Zeitpunkt des Bücherraubs unbekannt
Gertrud Chodziesner muss auch den Zwangsumzug in eine sogenannte
„Judenwohnung“ in der Speyerer Straße 10 (heute Münchner Straße 18a) in
Schöneberg gestemmt haben. 1939 war das, der Vater hatte die Familienvilla
in Falkensee bei Berlin weit unter Wert verkauft. Über drei Jahre lang
wohnte die über vierzigjährige Frau mit ihrem hochbetagten Vater in einem
Zimmer. Im September 1942 wurde Ludwig Chodziesner nach Theresienstadt
deportiert, wo er wenige Monate später starb. Als wertvolle Arbeitskraft
blieb Gertrud Chodziesner zunächst verschont.
„Wir wissen nicht, wann die Bücher genau geraubt wurden“, sagt
Provenienzforscherin Strelow. Es sei ungewiss, ob dies schon beim Auszug
aus der Villa, bei der Deportation des Vaters oder erst bei der Räumung des
Zimmers in der Speyerer Straße geschah. Im Februar 1943 wurde Gertrud
Chodziesner [2][im Zuge der sogenannten NS-Fabrikaktion] mit rund 11.000
anderen, bis dahin verschonten Berliner Juden:Jüdinnen nach Auschwitz
deportiert und vergast.
In einer Inventarliste in Chodziesners Akte bei der
Vermögensverwertungsstelle – einem von den Nazis eigens eingerichteten Amt
zur systematischen Verwertung jüdischen Eigentums – ist zwar von einer
Bücherkiste die Rede, ob diese Bücher darin waren, ist jedoch unklar.
Fest steht, dass die Bücher nach dem Krieg wiederauftauchten in den Räumen
der [3][Synagoge am Kreuzberger Fraenkelufer]. Hier gerät ein weiterer
wichtiger Protagonist in die Geschichte: die Familie Wolff, genauer gesagt:
der jüdische Filmunternehmer Ernst Wolff, er hatte den Holocaust in einem
Versteck überlebt. Im September 1945 half Wolff mit, die Synagoge für das
Neujahrsfest herzurichten. Es wird die erste jüdische Zeremonie in Berlin
seit Ende des Krieges werden, festgehalten in Bildern des amerikanischen
Fotografen Robert Capa.
## Letzte Spuren
Wolff war auch dabei, als der Seitenflügel der Synagoge ausgeräumt wurde.
Hier stapelten sich Unmengen an NS-Raubgut. Der Kunst- und
Antiquitätenhändler Rudolf Sobczyk, ein Großabnehmer des durch die
Vermögensverwertungsstelle enteigneten jüdischen Eigentums, hatte diesen
Teil der Synagoge seit 1942 als Geschäft missbraucht.
Dass er die Bücher nicht losgeworden ist, mag daran gelegen haben, dass es
sich hier um keine kostbaren Erstauflagen oder Handschriften handelte,
sondern um Unterhaltungsliteratur, Schul- und Gebetbücher, viele von ihnen
in leidlichem Zustand. In zahlreichen Büchern stehen Namen und Adressen,
mitunter stecken auch Briefe, Notizzettel und Fotografien darin, alles
Spuren ihrer früheren Besitzer:innen. Letzte Spuren, wie Ernst Wolff ahnte
– was ihn wohl dazu bewogen haben wird, die Bücher aufzubewahren.
Zwanzig Munitionskisten und einige Umzugskartons packte Ernst Wolff voll,
neben rund 3.500 Büchern auch Tausende Einzelblätter. Bis zu seinem Tod im
Jahre 1963 werden diese Kisten in seinen Firmenräumen lagern, ohne dass
etwas mit ihnen geschieht. Und auch danach passiert lange nichts.
„Ich habe die Kisten nie aufgemacht“, erzählt Manfred Wolff, Adoptivsohn
und Erbe von Ernst Wolff. „Ich wusste, dass darin Bücher aus der jüdischen
Gemeinde waren, von Verschleppten und Getöteten. Aber ich wusste nichts
damit anzufangen.“ Dass die Bücher weiter aufbewahrt werden sollten, stand
für ihn jedoch nicht infrage. Manfred Wolff: „Als ich 2018 aus einem
Filmlager ausziehen musste, habe ich die Moses Mendelssohn Akademie
angerufen und sie gebeten, mir die Kisten abzunehmen.“
## Weitere Restitutionen sollen folgen
Die Kisten wurden zur Moses Mendelssohn Akademie nach Halberstadt gebracht.
Irena Strelow stellte einen Forschungsantrag, er wurde bewilligt. Ein
Journalist schrieb über das Projekt, auf Umwegen gelangte der Artikel nach
Australien in die Hände von Paul Chodziesner – der darauf die
Provenienzforscherin kontaktierte. „Und so wurde der Kreis geschlossen,“
erzählt Strelow. Es ist die erste Restitution von Schriften aus dem
Bücherfund, den die Moses Mendelssohn Akademie weiter erforscht. Es sollen
noch weitere folgen.
Ob Paul Chodziesner oder eine seiner vier Töchter jemals in den Büchern
lesen werden, ist fraglich. Heute sind sie höchstens noch als Zeitdokument
interessant. Viel wichtiger als der Inhalt sind die Namen, die in den
Buchdeckeln geschrieben stehen, per Stempel oder per Hand. In dem
„Griechisch-Deutschen Schul-Wörterbuch“ aus dem Jahre 1879 sind gleich drei
zu lesen. Ludwig Chodziesner hatte es seinem jüngeren Bruder Max und der
wiederum an den jüngsten Bruder Siegfried vererbt. Nun wird es abermals
weitergereicht.
Im Haus der Familie Chodziesner in Melbourne werden die neun alten Bücher
einen Ehrenplatz erhalten. „Wir bewahren sie auf, auch für die
Generationen, die nach mir kommen“, sagt Sophie Chodziesner. Die
Neunzehnjährige hat ihren Vater nach Berlin begleitet. Paul Chodziesner
traut sich kaum, die Bücher anzufassen, so kostbar erscheinen sie ihm. Es
sind die ersten handfesten Erinnerungen an Urgroßvater und Großtante. „Sie
sind eine Verbindung zu der Berliner Familiengeschichte“, sagt er. „Unsere
Familie gehört hierher.“ Mit den alten Schriften wird nun also auch ein
Stück Berlin mit nach Australien reisen.
5 Mar 2024
## LINKS
[1] /Provenienzforschung-zu-NS-Raubkunst/!5845717
[2] /Gedenken-an-Fabrikaktion-in-Berlin/!5995202
[3] /Synagoge-in-Kreuzberg/!5591281
## AUTOREN
Karlotta Ehrenberg
## TAGS
Restitution
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Buch
Bücher
NS-Raubkunst
Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Raubkunst
Restitution
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedenkstätte erinnert an Zwangsarbeiter: Im Namen Jesu
In Neukölln gab es das deutschlandweit einzige von Kirchengemeinden
betriebene Zwangsarbeitslager. Hier waren Männer aus der Ukraine, Belarus
und Russland interniert.
Rückgabe von NS-Raubkunst: Geraubte Kunst
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) will die Möglichkeiten zur
Rückerlangung von NS-Raubkunst durch die Erben der Verfolgten erleichtern.
Rückgaben von NS-Raubkunst: Restitution soll leichter werden
Deutsche Museen sollen nicht länger Rückerstattungen von NS-Raubkunst
blockieren können. Das verlangt die zuständige Kommission.
Provenienzforschung zu NS-Raubkunst: Spurensuche nach mehr als 70 Jahren
Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam lagern viele Akten zu
NS-Raubkunst. Nun findet deren erste systematische Untersuchung statt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.