# taz.de -- Revision einer Sammlung: Versuch einer Öffnung | |
> Die Nationalgalerie sortiert im Hamburger Bahnhof in Berlin ihre Sammlung | |
> neu. Es geht um die Korrektur der eurozentrischen Perspektive. | |
Bild: Tita Salina, 1001st Island – The Most Sustainable Island in Archipelago… | |
Jetzt auch in der Kunst: der Ausstellungstitel in leichter Sprache. „Hello | |
World“ heißt die letzten Freitag eröffnete Schau der Berliner | |
Nationalgalerie. Das klingt irgendwie cool. Nur was soll man sich darunter | |
vorstellen? Im Untertitel wird die „Revision einer Sammlung“ angekündigt. | |
Soll der Titel also sagen, „Hallo Welt! Schau mal her, was wir Tolles | |
machen!“, wo wir jetzt das eigene Tun und Lassen kritisch hinterfragen? | |
Nein, sagt Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie, die das hoch | |
ambitionierte, von der Bundeskulturstiftung mit ihrer Initiative „Museum | |
Global“ angestoßene und mit 800.000 Euro geförderte Ausstellungsprojekt | |
verantwortet. Es gehe um eine Einladung an alle, niemanden solle sich | |
ausgeschlossen fühlen. Revision einer Sammlung bedeute ja, sich | |
vorzustellen, wie die Sammlung der Nationalgalerie aussähe, hätte ein | |
weltoffeneres Verständnis ihre Entstehung und ihren Kunstbegriff bestimmt. | |
Das Unternehmen ist also eine Übung in Demut, weil die eigene Sammlung in | |
eine globale Perspektive zu rücken eben zunächst einmal heißt, | |
festzustellen, worauf zu achten man versäumt hat. So war es etwa für die | |
Verantwortlichen musealer Sammlungen edie längste Zeit eine völlig | |
unbekannte Tatsache, dass es Künstlerinnen gibt. Unter den mehr als 250 | |
Künstlern der Ausstellung finden sich gerade mal 27 Künstlerinnen. | |
Auf etwas über 10 Prozent lässt sich ihr Anteil offenbar nicht steigern, | |
obwohl knapp ein Drittel der Arbeiten schon Leihgaben sind, der | |
Künstlerinnen selbst, ihrer Galerien oder Sammler. Museen sind nicht | |
darunter, sie kennen global keine Künstlerinnen, da muss sich Berlin im | |
Besonderen nichts vorwerfen. | |
Entsprechend sind die vier Blätter aus einer Serie von sechs Siebdrucken, | |
die Anni Albers 1973 schuf, die Leihgabe einer Galerie, die sechs | |
Zinklithografien von 1942, zwei Holzschnitte (1944, 1948) sowie zwei | |
Ölbilder aus seinen Studien zum Quadrat (1959, 1967) von Josef Albers aber | |
stammen selbstverständlich aus dem Bestand der Nationalgalerie und dem | |
Kupferstichkabinett. | |
## Entscheidendes ist nicht mehr nachzuholen | |
Man sieht also, trotz allem Bemühen geben die Sammlungen der | |
Nationalgalerie und der Staatlichen Museen zu Berlin, also Ethnologisches | |
Museum, Kunstbibliothek, Kupferstichkabinett, Museum für Asiatische Kunst, | |
Ibero-Amerikanisches Institut, Zentralarchiv und Staatsbibliothek, | |
Entscheidendes nicht her. | |
Doch lässt sich auf ihrer Grundlage erstaunlich weit über den eigenen | |
Tellerrand hinausschauen. Das zeigt sich eindrucksvoll im Hamburger | |
Bahnhof, dessen gesamtes Raumangebot „Hello World“ mit seinen dreizehn | |
Erzählungen genannten Kapiteln einnimmt. | |
Sie handeln etwa von der indischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert, der | |
Idee des globalen Happenings in den Sechzigern und Siebzigern, der | |
alternativen Kunstproduktion in den Länder hinter dem sogenannten Eisernen | |
Vorhang zwischen 1950 und 1980 und den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau | |
als Ausdruck einer universellen Moderne. Anders als die Institutionen haben | |
Künstler und Künstlerinnen immer über den eigenen Tellerrand geschaut. | |
Also folgt „Hello World“ den Spuren des deutschen Künstlers Walter Spies, | |
der in den 1920er Jahren von Dresden nach Indonesien zog, wo er auf Bali | |
zusammen mit dortigen Künstlern die Gruppe Pita Maha gründete, oder den | |
japanischen Künstlern, die zur gleichen Zeit in Berlin über Herwarth | |
Waldens Galerie Der Sturm mit den verschiedenen Strömungen der europäischen | |
Avantgarde bekannt wurden. | |
Denn der Impuls zum Austausch und zur Vernetzung bewegt Künstler und | |
Künstlerinnen an jedem Ort der Welt. KünstlerInnen sind eben | |
Erkundungsspezialisten, nicht nur was Motivik, Material, Farbe und Form | |
ihres Werks, sondern auch was den eigenen Lebensstil, das eigene Wissen und | |
die eigene Welterfahrung angeht. | |
## Anregend, überfällig, aber nicht grundstürzend | |
Die einzelnen, von den acht hauseigenen und den fünf Gastkuratoren | |
gestalteten Themenbereiche treten dabei mal ausgesprochen attraktiv auf, | |
wie etwa bei „Ein Paradies erfinden. Sehnsuchtsorte von Paul Gauguin bis | |
Tita Salina“, mal eher akademisch blass wie ausgerechnet bei „Kommunikation | |
als Globales Happening. Aktionskunst, Konzeptkunst, Medienkunst“. | |
Deswegen muss man aber die versprochene Horizonterweiterung nicht missen. | |
Es braucht nur eben seine Zeit, sie zu erfahren. Insgesamt ist das Projekt | |
anregend, überfällig, aber nicht grundstürzend. Die Nationalgalerie darf | |
eine solche weiterhin bleiben. | |
Das Studium der Vitrinen voller Zeitschriften, Bücher und Fotografien, die | |
zeigen, wie absolut international vernetzt die Avantgarde noch nach dem | |
Ersten Weltkrieg war, fällt in dem vom Gabriele Knappstein elegant und | |
geradezu meditativ inszenierten Parcours der „Plattformen der Avantgarde. | |
Der Sturm in Berlin und Mavo in Tokio“ leicht. | |
Und wer ist schon einmal mit der von Tomoyoshi Murayama (1901-1977) | |
gegründete Zeitschrift „Mavo“ bekannt gemacht worden? Oder mit seinen | |
Ölgemälden und Arbeiten auf Papier, die jederzeit als vom russischen | |
Konstruktivismus oder deutschen Dada beeinflusst erkannt werden? Zuvor geht | |
man durch einen der anregendsten Räume, in dem Clémentine Deliss ihre | |
Ergebnisse zu „Die tragbare Heimat. Vom Feld zur Fabrik“ vorstellt. | |
Das Feld gehört dem Worpsweder Künstler Heinrich Vogeler, der ganz neu zu | |
entdecken ist in seiner Rolle als „ästhetischer Makler“ (so das Booklet) | |
zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Seine 1923 auf einer Moskaureise | |
entstandenen Agitationstafeln, malerische Collagen aller denkbaren | |
Errungenschaften der revolutionären Sowjetunion, sollten zur Migration | |
ermutigen. | |
Speziell bereiste er aber die Kaukasusregion und Armenien, auf das Deliss | |
den Fokus gerichtet hat. Die Fabrik meint die Impuls-Fabrik in Dilidschan, | |
in der seit den Sechzigern hochwertige Elektronikteile produziert wurden. | |
Zur gleichen Zeit war die Kleinstadt, die schon im 19. Jahrhundert Besucher | |
aus der Türkei, dem Iran und Georgien anzog, dank einer Vielzahl von | |
Künstlerresidenzen Treffpunkt von Kunst und Kulturschaffenden. | |
Lebendige Laborsituation | |
Schostakowitsch, Strawinsky, Benjamin Britten oder Andrej Tarkowski, | |
Jean-Paul Sartre und Alberto Moravia sind nur einige der | |
Kurzzeitresidenten. Dem Geist ihrer Dialoge sucht das Dilidschan Arts | |
Observatory in unterschiedlichster medialer wie materieller Gestalt, also | |
Filmen, Fotografien, Tonaufnahmen, Zeitschriften, Installationen et cetera | |
habhaft zu werden. | |
Das mündet in eine lebendige, teils unübersichtliche Laborsituation, die | |
auch aufgrund der Leihgaben nicht unbedingt in einer Form ist, in der eine | |
hauseigene Sammlung längerfristig zu präsentieren wäre. Wie ein | |
achtsameres, gleichwohl auf seine Sammlung zurückgeworfenes Museum aussehen | |
könnte, dafür war am Ende das Experiment mit der Sammlung Marx, „Das | |
Menschenrecht des Auges“ genannt, aufschlussreich. | |
Die Sammlung war als private Sammlung schlecht nach ihren Versäumnissen zu | |
befragen. Stattdessen ging man den kulturellen und gesellschaftspolitischen | |
Beziehungen nach, die sich anhand der Werke feststellen ließen und die in | |
Anlehnung an Aby Warburg in assoziative Bildtafeln einflossen, die nun | |
bekannte, aber auch aus dem Depot geholte Arbeiten – wie etwa ein Sichel | |
und Hammer Bild von Andy Warhol – der Sammlung aufschlussreich ergänzen. | |
Nur der olle Mao an der Wand stört den erfreulichen Eindruck einer frischen | |
Hängung. | |
4 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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