# taz.de -- Referendum in Kirgistan: Dschingis Khan lässt grüßen | |
> Am Sonntag stimmen die Kirgis*innen über eine neue Verfassung ab. Sie | |
> stattet den Präsidenten mit mehr Macht aus. Beobachter*innen sind | |
> alarmiert. | |
Bild: Unterstützer*innen des Präsidenten Japarow während einer Kundgebung im… | |
Berlin taz | Die Prognosen sind düster: Expert*innen sprechen von einem | |
„Faksimile des russischen Systems“ und einer „tickenden Zeitbombe“. Auch | |
vor einigen Monaten hörte sich das nicht viel besser an. Da mokierten sich | |
Beobachter*innen über die „Khanstitution“ – eine Anspielung auf die | |
mongolischen Reiternomaden, die Zentralasien über Jahrhunderte hinweg in | |
absolutistischer Manier beherrscht hatten. | |
Die Rede ist von einer renovierten Verfassung, über die die Kirgis*innen | |
an diesem Sonntag abstimmen. Sollte sich die Mehrheit für ein Ja | |
entscheiden, wovon auszugehen ist, würde das dem Präsidenten einen | |
erheblichen Machtzuwachs bescheren. | |
Dabei galt der zentralasiatische Staat mit rund 6,5 Millionen | |
Einwohner*innen, der 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, in der | |
Region lange Zeit als „Insel der Demokratie“. 2005 und 2010 hatten sich die | |
Kirgis*innen gegen ihre Regierung erhoben und mit Askar Akajew sowie | |
Krumanbek Bakijew zwei Präsidenten gestürzt und außer Landes gejagt. | |
Im Herbst 2020 folgte dann der dritte Streich. Bei der Parlamentswahl am 4. | |
Oktober erreichten zwei regierungsnahe Parteien fast die Hälfte der | |
Stimmen, was eine absolute Mehrheit der 120 Sitze im Parlament bedeutete. | |
Die Bevölkerung witterte, nicht zu Unrecht, massiven Wahlbetrug. Wachsende | |
wirtschaftliche und soziale Probleme – nicht zuletzt wegen einer schlecht | |
gemanagten Coronapandemie – taten ein Übriges, um den Volkszorn zu | |
befeuern. | |
## Hunderte Verletzte | |
Bei [1][mehrtägigen Protesten], die sich in Gewalt entluden, starb ein | |
19-Jähriger. Hunderte wurden verletzt. Die Zentrale Wahlkommission | |
annullierte das Wahlergebnis, der damalige Staatschef Sooronbai | |
Dscheenbekow trat zurück. | |
Noch während der Unruhen machte ein Mann von sich reden, der kurz darauf | |
eine politische Blitzkarriere hinlegen sollte: Sadyr Japarow. | |
Unterstützer*innen hatten den damals 51jährigen aus dem Gefängnis | |
befreit, wo er eine elfjährige Haftstrafe wegen Geiselnahme absaß. Schnell | |
setzte er sich an die Spitze der Bewegung, wurde zum Ministerpräsidenten | |
gewählt und übernahm nach Dscheenbekows Rücktritt kommissarisch auch noch | |
den Posten des Präsidenten. | |
Wie sich Japarow, gewisser nationalistischer Umtriebe nicht unverdächtig, | |
die Demokratie in Kirgistan vorstellt, wurde alsbald deutlich: Neuwahlen | |
zum Parlament, die eigentlich im Oktober hätten stattfinden sollen, wurden | |
auf Herbst 2021 verschoben. Gleichzeitig machte er kein Hehl daraus, die | |
Verfassung zugunsten größerer Vollmachten für den Präsidenten umbauen zu | |
wollen. | |
Im November wandte sich Kirgistans Verfassungsgericht an die | |
Verfassungsexpert*innen des Europarates – die Venedig-Kommission. Die | |
fand klare Worte: Während einer Übergangsperiode habe ein Parlament nur | |
begrenzte Vollmachten und nicht die Legitimität, um Verfassungsänderungen | |
zu initiieren. Diese verlangten, dass das Volk zuvor in freien und fairen | |
Wahlen seinen Willen äußern könne. | |
## Weitere Pflöcke | |
Das Verfassungsgericht ignorierte diese Einschätzung. Auch die Forderung | |
einheimischer Organisationen, das Referendum zu verschieben und eine breite | |
öffentliche Debatte zu ermöglichen, stieß auf taube Ohren. Unterdessen | |
schlug Japarow am 10. Januar 2021 weitere Pflöcke ein. Mit 79 Prozent der | |
Stimmen wurde er bereits [2][im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt]. | |
Auch ein zeitgleich stattfindendes Referendum wurde in seinem Sinne | |
entschieden: 84 Prozent stimmten für die Einführung eines Präsidialsystems. | |
Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei überschaubaren 38 Prozent. | |
Am 9.Februar legte eine Arbeitsgruppe den überarbeiteten Entwurf für eine | |
geänderte Verfassung vor. Laut Artikel 70 kann der Präsident, der fortan | |
für eine zweite Amtszeit antreten kann, Volksentscheide ansetzen. Er | |
ernennt und entlässt Regierungsmitglieder, die Vorsitzenden des | |
Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs sowie deren | |
StellvertreterInnen. Die Zahl der Parlamentssitze hingegen wird von 120 auf | |
90 reduziert. | |
Zudem ist die Schaffung eines „Kurutai“ vorgesehen– eine Art Ältestenrat, | |
in dem Vertreter*innen aller Regionen sitzen sollen. Wie die Mitglieder | |
gewählt werden, ist unklar. Der „Kurutai“ kann dem Parlament Gesetze | |
unterbreiten und die Abberufung von Regierungsmitgliedern vorschlagen. | |
Die Ziele und Motivationen für die Schaffung des Kurutai seien | |
undurchsichtig, zitiert das Nachrichtenportal eurasianet.org die | |
kirgisische Menschenrechtsorganisation Adilet. Das Gremium könne zu einem | |
Instrument des Präsidenten werden, um sich einzumischen und Druck auf | |
wichtige politische Institutionen und Bürger*innen auszuüben, wenn es | |
seinen Interessen diene. | |
## Moralische Werte | |
Bauchschmerzen bereitet kritischen Geistern in der Zivilgesellschaft auch | |
der Artikel 10 des Verfassungsentwurfs, der angeblich junge Menschen | |
schützen soll. Alles, was den moralischen Werten und dem öffentlichen | |
Bewusstsein des kirgisischen Volkes zuwider laufe, könne per Gesetz | |
eingeschränkt werden, heißt es dort. | |
Welche staatlichen Institutionen werden damit beauftragt die Maßstäbe dafür | |
fest zu legen, was gegen Moral und moralische Werte verstoße, fragt das | |
Institut für Medienpolitik mit Sitz in der kirgisischen Hauptstadt | |
Bischkek. Derartige schwammige Definitionen seien ein Einfallstor, um | |
Meinungsfreiheit und Dissens zu unterdrücken. Den Rechtsanwalt Azim | |
Jeenbajew stört noch etwas: Kirgistan sei ein multi-ethnischer Staat und | |
für jede Gruppe bedeuteten moralische Werte etwas anderes. | |
Ängste vor Konflikten zwischen den Ethnien schürt auch die Abschaffung der | |
Regelung, wonach die Nennung der ethnischen Zugehörigkeit in | |
Ausweispapieren bisher freiwillig war. Immer noch frisch ist die Erinnerung | |
an die Ereignisse in Osch 2010. Bei Unruhen zwischen Kirgis*innen und | |
Angehörigen der usbekischen Minderheit waren bis zu 2500 Menschen ums Leben | |
gekommen. | |
Doch trotz aller Bedenken winkte das Parlament das Referendumsgesetz am 11. | |
März durch. Laut des Nachrichtenportals novastan.org, das auf andere | |
Nachrichtenquellen verweist, hätten angeblich 100 Abgeordnete abgestimmt, | |
aber nur 80 seien anwesend gewesen. Einzelne Volksvertreter*innen | |
sollen gezielt unter Druck gesetzt worden sein. | |
Mindestens 30 Prozent | |
Doch das scheinen für Japrow nur Petitessen zu sein. Er bekommt seine | |
Volksabstimmung. Das einzige, was seinen Plan durchkreuzen könnte, ist die | |
Wahlbeteiligung. Die muss bei mindestens 30 Prozent liegen, damit die | |
Abstimmung gültig ist. | |
So ist es wohl kein Zufall, dass die Kirgis*innen am Sonntag auch zu | |
Kommunalwahlen aufgerufen sind. In 448 Kommunen bewerben sich mehr als 8000 | |
Kandidat*innen um einen Sitz in den Gemeindeverwaltungen. Allein in der | |
Hauptstadt Bischkek treten 25 Parteien mit 1.900 Kandidat*innen an. | |
Durch Abwesenheit glänzt Japarows nationalistische Mekenschil-Partei, die | |
seit seinem Aufstieg erheblich an Einfluss gewonnen hat. Zur Begründung | |
sagte Vizechef Erkin Bajamow, Japarow wolle damit sicher stellen, dass es | |
zu keinem Missbrauch administrativer Ressourcen komme. | |
Dieser, in postsowjetischen Staaten gängige, Terminus bezeichnet eine Art | |
Amtsbonus: Einen geldwerten Vorteil, den Amtsinhaber aus ihrer formalen | |
Machtposition ziehen und gegenüber Mitbewerbern und Kontrahenten in | |
Wirtschaft und Politik einsetzen können. | |
## Chance für kleine Parteien | |
Die Abstinenz von Pro-Regierungsparteien könnte die Menschen motivieren, | |
ihre Stimme abzugeben, meint der Polit-Analytiker Denis Berdakow. Immerhin | |
hätten auch kleine Parteien eine Chance. Zudem seien diese Wahlen relativ | |
frei und es gebe einen echten Wettbewerb. | |
Auch Politiker*innen seien motiviert, glaubt Berdakow. „Die Bedeutung | |
des nationalen Parlaments wird geringer. Leute mit Geld, die Einfluss und | |
Medien hinter sich haben, müssen irgendwo hingehen. Und das sind dann eben | |
die Stadträte“, sagte er dem Nachrichtenportal eurasianet.org. Atyr | |
Abdrachmatowa ist das skeptischer. Die Menschen hätten jegliches Vertrauen | |
in die Politiker*innen verloren. Denn wenn diese gewählt seien, würden | |
sie ihre Versprechen nicht halten, zitiert eurasianet.org. die | |
Wahlexpertin. | |
An vollmundigen Ankündigungen herrscht auch in diesem Wahlkampf wahrlich | |
kein Mangel. Bischkek solle eine grüne Stadt werden – mit neuen | |
Sportstätten und umweltfreundlichem Personennahverkehr. Eine Partei setzt | |
sich für Fahrstühle in jedem Wohnblock sowie kostenlose Appartements für | |
Lehrer*innen und Ärzt*innen ein. Eine andere fordert, dass alle | |
Wohnsiedlungen in den Genuss der „Errungenschaften der Zivilisation“ kommen | |
sollen – will heißen: Gas, Wasser, Strom und das jederzeit. Und eine Gruppe | |
fordert die Legalisierung von Cannabis. Wenn das kein attraktives Angebot | |
ist. | |
11 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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